Manuela Uhl: Mit der Stimme über Grenzen segeln – zwischen Leben und Bühne

Interview mit der Sopranistin Manuela Uhl – Teil 1  klassik-begeistert.de, 22. Mai 2025

Photos © Xiaojing Wang

Im Interview mit Getong Feng, Doktorandin an der Ludwig-Maximilians-Universität, sprach Prof. Manuela Uhl über ihre Mitwirkung an der Walküre-Inszenierung als Sieglinde in der NCPA Peking und über ihr Leben innerhalb und außerhalb der Opernwelt. Das Interview mit der Sopranistin fand im NCPA Peking statt.

Am 29. April 2025 wurde eine neue Inszenierung von Die Walküre im Nationalen Zentrum für Darstellende Künste (NCPA) in Peking, China, uraufgeführt. Pietari Inkinen leitete das China NCPA Orchester. Davide Livermore, der bereits viermal mit seinen Inszenierungen die Saison an der Mailänder Scala eröffnet hat, fungierte als Regisseur.

Die insgesamt drei Aufführungen wurden vom chinesischen Publikum mit Begeisterung aufgenommen. Wie schon im vergangenen Jahr bei der Premiere von Das Rheingold in Peking wurden auch Künstlerinnen und Künstler aus Deutschland eingeladen.

Die Sopranistin Manuela Uhl, eine profilierte Interpretin der Wagnerschen Opernheldinnen, verkörpert in dieser Neuinszenierung die Rolle der Sieglinde.

Die aus dem Bodenseeraum stammende Sängerin war zunächst an den Opernhäusern in Kiel und Karlsruhe engagiert, danach Ensemblemitglied an der Deutschen Oper Berlin. Seit 2011 ist Manuela Uhl freischaffend international tätig. Sie ist seit 2015 auch Professorin für Gesang an der Musikhochschule Lübeck.

Interview: Getong Feng

klassik-begeistert: Ist das Ihre erste Reise nach Peking?

Manuela Uhl: Nein, ich war schon 2008 zu den Olympischen Spielen hier und habe mit der Deutschen Oper Berlin Tannhäuser aufgeführt. Ich sang die Elisabeth. Meine Familie war mit dabei, und wir haben es sehr genossen, hier zu sein. Ansonsten war ich oft in Asien: In Nanjing habe ich Ausschnitte aus Lohengrin gesungen, in Hongkong Der fliegende Holländer, und in Taipeh Salome sowie Mahlers 8. Sinfonie. In Korea habe ich ebenfalls den Der fliegende Holländer gesungen, in Tokio Mahlers 8. SinfonieLeonore und auch Fidelio — außerdem viele Konzerte gegeben.

klassik-begeistert: Im Februar haben Sie die Premiere von Die Liebe der Danae an der Bayerischen Staatsoper gerettet. In letzter Minute haben Sie die Titelpartie übernommen. Das war für unser Münchner Publikum sehr beeindruckend. Können Sie uns darüber etwas erzählen?

Manuela Uhl: Ich war gerade in einer Generalprobe an der Hochschule, als eine Nachricht meiner Agentur  kam. Man fragte, ob ich Zeit hätte und für Danae einspringen könnte. Meine letzte Begegnung mit der Partie lag schon fast zehn Jahre zurück. Aber mein Agent sagte mir „Du kannst doch gut vom Blatt lesen, man kann von der Seite singen.“ Dann hat er sofort Flüge gebucht. Informationen kamen nach und nach. Es war schon eine besondere Herausforderung, weil die Bayerische Staatsoper natürlich ein Podium ist, auf dem man sich gerne sehr gut präsentieren möchte.

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Als ich dann abends um sieben ankam, ging ich direkt in die Probe – und erfuhr, dass es sich um Die Premiere handelte! Mit dem Dirigenten Sebastian Weigle hatte ich schon mehrere Male zusammengearbeitet. Ich sagte zu ihm: „Sebastian, das Stück fühlt sich sehr fern an.“ Und er meinte: „Jetzt singen wir’s einfach mal durch – das wird schon zurückkommen.“

Also habe ich es ausgesungen, und tatsächlich kam einiges zurück – aber eben nicht alles. Der Regieassistent schlug vor, dass wir einmal die erste Szene probieren. So haben wir Stück für Stück die ganze Oper durchgearbeitet. Um elf Uhr abends waren wir im dritten Akt angekommen, und ich war vollkommen erschöpft aber froh durchgekommen zu sein. Also sagte ich zu, nicht vom Bühnenrand mit Noten zu singen, sondern voll in die Inszenierung einzusteigen.

Zurück im Hotel habe ich die Anweisungen zur Figur von Claus Guth gelesen. Im Probenplan stand auch, dass Mikrofone geklebt werden sollten – da wurde mir plötzlich klar: Diese Premiere wird Live im Radio übertragen! Ich bekam solche Angst, dass ich erst gegen Morgen eingeschlafen bin. Am nächsten Tag mussten noch Videos gedreht, Kostüme angepasst, ein Fotoshooting gemacht und eine Tanzprobe gemacht werden – der Tag war also randvoll bis zur Premiere. Und so bin ich quasi in die Premiere hineingestolpert. Als Sänger ist man in so einer Situation im Ausnahmezustand, voller Adrenalin. Aber das Publikum hat danach so euphorisch reagiert und mich so herzerwärmend gefeiert. Es war ein großartiges Erlebnis, so getragen zu werden – vom Publikum. Auf der Bühne waren auch viele alte Bekannte: Mit Christopher Maltman hatte ich bereits in Madrid gesungen, und Andreas Schager kannte ich ebenfalls gut durch Produktionen in Madrid, Berlin und den Maifestspielen Wiesbaden, Paul Kaufmann aus Berlin, Snell aus Wien, Wolkensteiner aus Hannover… Dadurch wurde ich auch von der Sympathie der Kollegen getragen.

klassik-begeistert: Sie haben Architektur studiert. Hat diese Studienerfahrung Ihren Beruf beeinflusst? Was sind die Parallelen zwischen Architektur und Oper?

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Manuela Uhl: Als Sängerin beginnt für mich die Gestaltung einer Figur über das Libretto und die Musik – es geht zunächst darum, einen Gesamtentwurf der Rolle zu erfassen. Das ist vergleichbar mit einer Grundidee in der Architektur: Man beschäftigt sich zuerst mit der Lage, der Ausrichtung oder der Funktion eines Gebäudes. Es geht also zunächst darum, alle Informationen zu sammeln und zu verstehen – in der Architektur: Was soll das Gebäude leisten? In der Oper: Was will uns die Figur letztlich sagen?

Danach folgt die Detailplanung, die sich diesem groben Entwurf unterordnen muss. Man hat viele Möglichkeiten, sich frei zu entfalten, die Figur farbiger und detailreicher zu gestalten – genauso wie in der Architektur. Am Ende entsteht im Idealfall ein Gebäude, das eine stimmige Konzeption hat – vom großen Entwurf bis zur technischen Umsetzung und zum Feindetail. In der Oper ist es ähnlich: Die Figuren müssen in das Gesamtkonzept des Regisseurs passen, aber als Sängerin bin ich letztlich die Detailplanerin, ich mache die Feinarbeit. Darin liegt die kreative Herausforderung.

Wenn Sie etwa die Technik in einem großen Bauwerk betrachten – man überlegt sich, welche Mittel man einsetzt, um die Architektur leicht wirken zu lassen, ohne dass die technische Komplexität sichtbar wird. Hinter jeder Struktur steckt enorme Berechnung und Planung. So ähnlich ist es beim Singen: Im Idealfall klingt es natürlich und leicht – aber meine Aufgabe als Sängerin ist es, technisch so zu arbeiten, dass die Schwierigkeiten verschwinden. Das sind für mich die Parallelen zwischen Architektur und Musik. Ich fand beides faszinierend. Zwei Jahre lang habe ich sogar parallel gearbeitet. Aber die Oper hat mich letztlich ganz in ihren Bann gezogen. Die Welt der Oper ist etwas zutiefst Berührendes und Ergreifendes.

klassik-begeistert: Können Sie uns etwas über die Inszenierung des Regisseurs Davide Livermore erzählen?

Manuela Uhl: Ich kann etwas zu seinen Vorgaben sagen. Gerade jetzt, speziell für China und den ersten Ring, der hier produziert wird, ging es ihm darum, ganz nah an der Handlung zu bleiben. Es sollte kein Regietheater sein, bei dem die Interpretation des Werkes im Vordergrund steht, sondern eine Inszenierung, die sich direkt an Text und Musik orientiert. Er arbeitet sehr streng entlang der Partitur. Wenn man überhaupt sagen kann, was Oper in ihrer Reinform ist, dann ist es für ihn das Bebildern der Handlung – sehr uneitel. Er geht davon aus, dass Wagner ein unglaublicher Dramatiker war, der schon bestimmte Effekte im Kopf hatte, die zu seiner Zeit technisch noch gar nicht umsetzbar waren.

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Davide hat entschieden mit der modernsten Technik, die uns heute zur Verfügung steht, all das einzubeziehen – um ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, das diese technischen Möglichkeiten voll ausschöpft. Wir haben ein spektakuläres Bühnenbild: riesige Bäume, die sich teilen, Schluchten, die sich öffnen. Die Lichtregie ist atemberaubend. Es gibt mehrere Screens, auf denen Bilder ablaufen – sie erklären die Handlung nicht, aber sie visualisieren ihren Subtext. In der Ästhetik wollte er bewusst in einer unbestimmten Zeit bleiben. Seine Inspiration war eine Welt wie in „Der Herr der Ringe“,

Dementsprechend orientieren sich auch die Kostüme an einem Retro-Stil – aber mit futuristischen Elementen und sehr fantasievollen, kreativen Figuren. Es wird ein äußerst spannendes Gesamtkunstwerk. Die Kostüme sind unglaublich aufwendig gestaltet. Auf den Screens sieht man zum Beispiel, wie sich Wolken zu Pferden formen, die galoppieren, oder zu Wölfen, manchmal auch zu Menschen oder Tyrannen, die einander bekämpfen. Das ist zwar plakativ, aber sehr wirkungsvoll. Es war der Wille des Theaters, eine Inszenierung zu präsentieren, die die Geschichte bildgewaltig erzählt – damit man in eine Welt eintauchen kann, die es so nicht gibt: eine Kunstwelt.

klassik-begeistert:  Sieglinde ist die erste menschliche Frau im Ring-Zyklus. Können Sie uns etwas über die Figur erzählen? Was ist Ihrer Meinung nach ihr zentrales Problem in diesem Stück?

Manuela Uhl: Also, Sieglinde ist halb Göttin, halb Mensch. Sie ist das erste Wesen im Ring, das eine menschliche Seite zeigt – und genau darin liegt schon ihr Problem. Ihre Menschlichkeit macht sie zunächst schwach, nicht mächtig genug, um gegen die Kräfte des Bösen in der Welt anzukommen. Sie wurde zusammen mit ihrem Bruder Siegmund geboren. Die beiden waren Zwillinge, ihre Mutter starb und sie mussten sich mehr oder weniger allein durchs Leben schlagen. Sie wusste nie wirklich, wer ihr Vater war, aber es gab immer jemanden, der sich um sie kümmerte. Irgendwann wurde Sieglinde geraubt, und Siegmund war plötzlich verschwunden. Schon als junges Mädchen wurde sie gezwungen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht liebte – sie wurde unterdrückt. Das ist die Ausgangssituation:

Sieglinde lebt in einem brutalen Umfeld, als ein Mensch, der sich gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen muss – ohne sich zu wehren. In dieser Lage tritt plötzlich ein Mann in ihr Leben, in dem sie ihren Bruder erkennt – oder vielleicht das Göttliche in ihm. Das Göttliche zeigt sich für mich in der Fähigkeit, Perspektiven wechseln und Grenzen  überschreiten zu können Und genau das verbindet die beiden: Eine übermenschliche Verbindung, in der sich zwei Hälften zu einem Ganzen fügen. Das kann man als Liebe bezeichnen, aber es geht tiefer – es ist ein Moment der Vollständigkeit. Daraus schöpft Sieglinde die Kraft, aufzubrechen, sich zu befreien und gegen ihr Schicksal aufzulehnen.

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Sie macht eine Entwicklung durch: von der unterdrückten Frau zur freien Frau, die ihrer Liebe und ihren Gefühlen folgt. Diese Gefühle bringen sie allerdings auch in große Gefahr. Ihr geliebter Bruder stirbt sehr bald, sie bleibt allein zurück und verliert zunächst allen Lebensmut. Sie hat für ihre Liebe und ihre eigene Persönlichkeit gekämpft – für Selbstbehauptung. Als sie aber erfährt, dass sie ein Kind erwartet, beschließt sie, den Fokus nicht länger auf sich selbst zu richten, sondern für dieses Kind zu leben – das Kind der Liebe. Und da kommt wieder der göttliche Teil in ihr zum Tragen: die Fähigkeit, eine Vision zu entwickeln, sich selbst zu überwinden und sich für etwas Größeres hinzugeben. Das ist auch typisch für viele Frauenfiguren bei Wagner – sie haben oft eine Vision und sind bereit, sich zu opfern. Das wird Sieglinde auch tun: Sie kämpft für dieses Kind, für die Zukunft, nimmt Verantwortung auf sich und bringt es zur Welt – und dieses Kind soll der neue Held Siegfried sein.

klassik-begeistert:  Ist Wagner überhaupt so tolerant gegenüber diese Liebe? Immerhin handelt es sich um Geschwister – bei uns in der Gesellschaft ist das verboten, aber bei Wagner wirkt es ganz normal?

Manuela Uhl: Es gibt viele Interpretationen, und es sind unglaublich viele Bücher über Wagner geschrieben worden. Er selbst hatte ja auch ein enormes Bedürfnis, seine Werke zu erklären. Man bekommt das alles manchmal kaum unter einen Hut. Aber Wagner selbst hatte wohl eine Schwester, die er sehr geliebt hat – sie hat sich stark für die Familie eingesetzt. Ich persönlich glaube aber nicht, dass es Wagner um das Ideal einer geschwisterlichen Liebe im wörtlichen Sinn ging. Ich würde das abstrakter sehen. Für mich geht es um zwei Figuren – Siegmund und Sieglinde –, die beide einen göttlichen Funken in sich tragen. Und dieser Funke steht für die Kraft, aufzubrechen, Dinge zu verändern. Wenn zwei solche Elemente aufeinandertreffen – sich anziehen, weil sie in der Lage sind, die Perspektive zu wechseln und denselben Drang zur Veränderung haben –, dann kann daraus etwas Neues entstehen. Das ist für mich nicht in erster Linie sexuelle Liebe zwischen Geschwistern, sondern eher ein symbolisches Bild: zwei Teile einer Gesellschaft, die zusammenkommen, um etwas Größeres zu bewirken. Eine neue Entwicklung, ein Neuanfang.

Wagner war ja in gewisser Weise selbst ein Revolutionär im „goldenen Mantel“ – jemand, der gut gelebt hat, aber gleichzeitig eine klare Vision von gesellschaftlichem Wandel hatte. Vielleicht wusste er selbst nicht genau, wie diese Gesellschaft aussehen sollte, aber er hatte den Mut zur Veränderung. Und genau das symbolisieren Siegmund und Sieglinde.

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Sieglinde allein hätte nichts verändern können – sie braucht das zweite Element, mit dem gemeinsam etwas Neues entstehen kann, etwas, das die Zukunft voranbringt. Ich glaube, man muss diese Liebe auf einer abstrakteren Ebene denken. Das ist wie in der griechischen Mythologie – da denkt man sich auch manchmal: Mein Gott, wie kommen die nur auf solche Ideen? Die Götter machen ja oft völlig unmoralische Dinge. Aber das Ziel ist nicht die Darstellung dieser Taten an sich, sondern die Idee dahinter, das Sinnbild, das sie transportieren. Und so sehe ich das auch bei Wagner: Es geht nicht um den Tabubruch an sich, sondern um etwas, das auf einer höheren Ebene gedacht ist – als Symbol, als Idee.

klassik-begeistert: Und sind diese abstrakten Ideen der Wagner-Figuren vielleicht eine von den Schwierigkeiten für Sie, diese Partie darzustellen?

Manuela Uhl: Ja, das ist definitiv eine Schwierigkeit. Wenn man sich die Handlung anschaut, gibt es unglaublich viele Worte – viele Erklärungen, viele Rückblicke. In dieser Wortfülle die feinen Nuancen zu finden, die eine Figur komplettieren und vervollständigen, ist natürlich eine Herausforderung. Es geht darum, dem Publikum begreiflich zu machen, wo die Verletzungen dieser Figur liegen, was sich aus diesen Verletzungen entwickeln kann, wo ihre Umbruchsmomente sind – und das nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich auszudrücken. Das verlangt natürlich auch stimmlich sehr viel.

Man beginnt als Sieglinde im sehr tiefen Register, sie ist zunächst zurückhaltend, eher defensiv. Dann tritt Siegmund auf, sie bringt sich ihm vollkommen entgegen – und nach und nach beginnt sie, stimmliche Grenzen zu überschreiten. Der Tonumfang wächst, sie wird expressiver in der Lautstärke und im Ausdruck. All diese Farben zu vereinen, ohne den Rahmen der Figur zu sprengen, das ist die Kunst. Man darf nicht der Versuchung erliegen, aus Sieglinde eine Brünnhilde zu machen. Brünnhilde ist eindeutig die Figur, die den Schritt weitergeht, die offen gegen den Gott rebelliert – das ist Sieglinde nicht. Dieser Versuchung zu widerstehen und die Figur in ihrem Rahmen zu halten, aber dennoch ihre ganze Empathie, ihre Entwicklung und Tiefe zu zeigen – mit all den stimmlichen und emotionalen Farben – das ist die große Herausforderung.

Getong Feng, 22. Mai 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Am Samstag, 24. Mai 2025, lesen Sie Teil II dieses Interviews mit
der Sopranistin Manuela Uhl, made in China!

Interview mit der Sopranistin Manuela Uhl – Teil 1 klassik-begeistert.de, 22. Mai 2025

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