Charly Hübner © Philip Kreibig
Charly Hübner trifft Schubert, Nick Cave und Mahler. Beim ION Musikfest sprengt er damit alle Grenzen zwischen Klassik, Rock und existentiellem Wahnsinn. Was als „Winterreise“ beginnt, endet im Abgrund menschlicher Sehnsucht.
ION Musikfest Nürnberg 4. und 5. Juli 2025
IMAGINE PEACE · A NIGHT FOR JOHN LENNON
Inga Rumpf
Gustav Peter Wöhler
Catt
Stefanie Hempel
All-Star-Band (u.a. mit Billy King und Ben Barritt)
Kulturkirche GoHo, 3. Juli 2025
MERCY SEAT · CHARLY HÜBNER SINGT FRANZ SCHUBERT UND NICK CAVE
Charly Hübner, Stimme
Kalle Kalima, E-Gitarre
Carlos Bica, Kontrabass
Max Andrzejewski, Schlagzeug
Sebastian Schottke, Klangregie
Tobias Schwencke, Bearbeitung
Ensemble Resonanz
St. Sebald, 4. Juli 2025
von Jürgen Pathy
Er ist Schauspieler, Regisseur und Sprecher. Mit Schuberts „Winterreise“ tritt Charly Hübner in eine andere Liga, eine andere Welt. „Auf einen Totenacker, hat mich mein Weg gebracht“, da ist es längst schon um mich geschehen. Die ersten Worte des Wanderers, der im „Wirtshaus“ landet – ein Synonym für den Friedhof, den Tod, der ihn noch nicht erlöst. Auf seiner Reise dahin, es ist immerhin Lied Nr. 20 aus Schuberts Liederzyklus, hat der aber erlebt, was vorher nicht war – und das Publikum ebenso.
„The Mercy Seat“, Nick Caves Song, mit dem der Meister des Gothic-Rocks 1988 einen inneren Monolog geschrieben hat. Ein Mann, der auf seine Hinrichtung wartet – zum Tode geweiht. Damit startet Charly Hübner, begleitet vom Ensemble Resonanz, ein Kammerorchester. Das war’s dann aber schon mit klassisch. Gitarrenriffs, Schlagzeug dazu, und man steckt tiefer in Schuberts morbider Seele, als Fischer-Dieskau es je geschafft hätte.
Und man spürt: Das ist keine Winterreise im herkömmlichen Sinn. Es ist eine Täter-Opfer-Konstellation, hier in Nürnberg, am Ort des ehemaligen Reichsparteitags, wo die Nazis ihre Rassengesetze verabschiedet haben. Ab da geht es nur mehr in eine Richtung: tief hinein in den Abgrund, den Schmerz.
Schubert, Cave und der Klang des Abgrunds
Das Konzept habe der Arrangeur geschaffen, erzählt der Herr am Kontrabass. Eine erschütternde Trauma-Performance, die Klassik mit Underground und anderen Genres verbindet: Carlos Santanas „Black Magic Woman“ blitzt kurz durch, eine Bach’sche Fuge. „Das sei nicht bewusst gewesen, ein Improvisation – aber wer mag schon Bach nicht“, holt der Herr weiter aus. Schuberts Message, die Trostlosigkeit, die Ausweglosigkeit, den Schmerz erzählt dieses Arrangement aber intensiver, tiefer und vor allem: wienerischer, morbider als je ein Wiener es könnte – obwohl das Ensemble Resonanz in Hamburg beheimatet sei, wie aus Gesprächen durchsickert.
Wer denkt, er habe jetzt schon alles erlebt, kommt aus dem Staunen nicht mehr raus. „Das geht“, vernehme ich leise, Kinnlade runter, als Mahlers Adagietto erklingt, Mitten drin, das KOMPLETTE Adagietto aus seiner Vierten, man stelle sich das nur mal vor – während der Winterreise. Dieser Einfall ist ein Geniestreich.

Dass Charly Hübner nicht die Stimme eines klassischen Liedsängers wiedergibt, wird nicht überraschen. Das hat niemand erwartet, dort liegt nicht sein Anspruch, seine Stärke, sein Fokus. Hübner, im schwarzen Dreiteiler, lila-rotes Hemd darunter, ein Siegelring aus Silber an jeder Hand, ist einfach eine Naturgewalt: Sein Erscheinen, seine Sprache, sein Blick starr in die Ferne gerichtet, schlägt in andere Kerben. Viel größer, viel epochaler: Nick Cave trifft Bruno Ganz, holt Ben Becker dazu – und man hätte eine grobe Beschreibung dessen, wer da in der Kirche steht.
Wo ist Frieden?
Richtig gehört: Kirchen sind die Austragungsstätten des ION Musikfests, das in Nürnberg seit 1951 stattfindet. Zu Beginn als reine Orgelwoche, spätestens seit 2021, da hat Moritz Puschke die Intendanz übernommen – mit neuem Groove, genreübergreifend, in keine Schublade zu stecken. Klassik goes wild und noch weit darüber hinaus. „Where the Wild Roses Grow“ ist auch der Abschluss, ein Hit, mit dem Nick Cave in den 1990er-Jahren auch die Charts erobert hat.
Dass da einige nicht mitkönnen, ist zu verkraften. „Paar Leute sind auch gegangen“, sagt Oliver Geisler, Dramaturg des Festivals und einer der Masterminds der Erfolgsstory. 1200 Zuschauer dieses Jahr, das unter dem Motto „Wo ist Frieden“ stand. Dass man sich in die Kirchen begibt, liegt somit Nahe.

Am Vortag hat man’s schon erlebt: „Imagine Peace – A Night for John Lennon“. Aktueller denn je, seien dessen Songs. „Eigentlich müsste man die in die Gebetsbücher aufnehmen“, sagt Geisler mit voller Überzeugung.
John Lennon in der Kirche
Stefanie Hempel, aus Hamburg, hat sich den Songs der Beatles verschrieben. Gemeinsam mit Gästen erweckt sie den 68er-Spirit wieder zum Leben. Das Publikum: überwiegend weit über die 50, Hörgeräte – das war’s aber schon mit der Gemeinsamkeit zum Opernpublikum. Schiebermützen, Turnschuhe und den Groove im Blut.
Es geht gar nicht anders, als zu wippen, zu den tonnenschweren Beats des Schlagzeugs, das bei „Mother“ den Ton angibt. Wenn Gustav Peter Wöhler, deutscher Charakterkopf, mit schneidender Stimme dann noch ins Mikro peitscht: „Mother, you had me, but I never had you“, trifft es einen umso tiefer, dieses traumatische Bekenntnis John Lennons zu seiner Kindheit.
Nicht die einzige Info, die Hempel zwischen den Hits erzählt. „Help“, habe Lennon viel grooviger wollen. Passend, dass Inga Rumpf, die weiße Soul-Stimme Deutschlands, es kraftvoll ins Mikro singt. Den ersten Joint hätten die Pilzköpfe mit Bob Dylan genossen. Danach sei alles anders gewesen, die Songs viel reifer.
Ebenso wie meine Person, die nach Nürnberg musste, um nach zwei Tagen zu erkennen: Dass es einen Haufen aus Hamburg braucht, um die Wiener Seele so gnadenlos bloßzulegen. Charly Hübner, der Wanderer – der lebt auch in Hamburg. Morbider, wienerischer kann Schubert nicht sein. Gänsehaut an einem Abend, der eine Reise war, die so nie wiederkehrt.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 6. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at