In Ciboure findet ein bizarres Nachmittagskonzert statt.
Jean-François Heisser, Klavier
Jean-Frédéric Neuburger, Klavier
Charles Heisser, Klavier
Maurice Ravel (1875-1937) – Shéhérazade, Ouverture de Féerie; Rapsodie espagnole; Ma mère l’oye
Pierre Boulez (1925-2016) –Douze notations, Séquences 1-3
Jean-Frédéric Neuburger (*1986) – T, für drei Klaviere
Paul Dukas (1865-1935) – L’apprenti sorcier (Der Zauberlehrling)
Ciboure, CIAP Les Récollets, 5. September 2025, 17 Uhr
von Brian Cooper
Dieser Nachmittag gehört zu den mit Abstand bizarrsten Erlebnissen meines Konzertgängerdaseins. Das hängt sowohl mit dem Publikum als auch mit dem Geschehen auf der Bühne zusammen.
Drei flügellose Konzertflügel sind auf der Bühne aufgebahrt, dazu eine Art E-Piano oder Synthesizer – schwer zu erkennen von ganz oben – neben dem linken Flügel.
Neben mir sitzt ein Mann, der sich komisch verhält. Er spricht mit sich selbst und schnauft. Ich taufe ihn Schnaufi, bevor das Konzert begonnen hat. Nachdem ich das Programmheft gelesen habe, wette ich mit mir selbst: Er wird es lesen wollen. Er will.
Jean-François Heisser, den ich in bester Erinnerung habe, seit er mit Marie-Josèphe Jude vor einigen Jahrzehnten in Leverkusen La valse spielte, gastiert an diesem Nachmittag mit seinem Sohn Charles und Jean-Frédéric Neuburger, der auch komponiert. Eines seiner Werke steht auf dem Programm.
Los geht es mit dem Geburtstagskind Ravel, dessen Shéhérazade an drei Klavieren beeindruckt. Das pulsiert, hat orientalische Anklänge – aber auch Längen. Es ist nicht Ravels bedeutendstes Werk.
Es folgt das erste von drei notations von Pierre Boulez. Die Pianisten wechseln sich ab, während der Stücke. Hatte ich gestern bei Messagesquisse noch leise Hoffnung, mein Verhältnis zu Pierre zu kitten, ist das hier wieder Musik, die ich nicht begreife, die mich nicht im Geringsten anrührt oder bewegt. Allenfalls bereitet sie mir schlechte Laune.
Früher Höhepunkt des Nachmittags ist die Rapsodie espagnole, am Vorabend in der Orchesterfassung dargeboten. Die beiden JFs harmonieren prächtig miteinander. Heisser hat im Gegensatz zu Neuburger einen Umblätterer.
Jemand im Publikum hört eine Sprachnachricht ab oder schaut ein Video.
Der vierte Teil der Rapsodie ist ein klingendes Farbenspiel. Eine der bénévoles vom Freiwilligenteam des Festivals steht auf der Treppe und filmt. Dazu hätte ich eine Frage: Ist das Filmen seitens der bénévoles vom Festival erwünscht? Es ist eine Fotografin in jedem Konzert anwesend, die sich berufsbedingt umherbewegt und dies möglichst diskret tut. Warum braucht es Festival-Filmchen? Und, wenn das keine Aufgabe der bénévoles ist, warum wird das Team nicht instruiert, dass sich das nicht gehört und zahlendes Publikum stört?

Nicht, dass das Publikum heute seinen besten Tag hätte. Bei Boulez 2 gibt es eine Ansage von Monsieur Heisser, die ich nicht in Gänze verstehe. Hat man die Reihenfolge vertauscht? Wäre es jemandem aufgefallen? Das Publikum bespricht es eifrig, während gespielt wird. Wir sprechen von etwa 20 Leuten, die permanent reden.
Dann kommt „T, pour trois pianos“, eine Komposition von Neuburger. „Captain James T. Kirk. Das T steht für Sören“, denke ich, Malmsheimer zitierend. Das Werk – man weiß nicht genau, wo Boulez aufhört und T beginnt – hat sicher seine Meriten, aber es ist in diesem Programm fehl am Platz, da zu lang und völlig ohne Bezug zu Ravel. Glaube ich. Es soll traditionelle Elemente mit einem „langage résolument contemporain“ verbinden, also einer dezidiert zeitgenössischen Sprache. Die Betonung liegt auf résolument. Da gibt es etwas ziemlich Resolutes auf die Ohren.
Charles Heisser beginnt nach ein paar Minuten, das E-Piano zu traktieren. Ich versuche, mit zunehmender Verzweiflung, die im Programmheft erwähnten Anklänge an Jazz (!) und Rameau (!!) zu finden, mich irgendwo entlangzuhangeln. Wenn es Jazz gibt, ist er sehr free.
Die Fotografin hat inzwischen aufgegeben, sitzt zehn Meter von den Pianisten entfernt auf dem Boden und spielt mit ihrem Handy.
Schnaufi wird zunehmend ungeduldig. Zappelt, scharrt mit den Füßen.
Die beiden JFs traktieren ihre Konzertflügel inzwischen mit den Armen. Cluster heißt das, glaube ich.
Ich ertappe mich dabei, etwas zu tun, was ich sonst nie im Konzert tue: Ich schaue auf die Uhr. Und freue mich auf Daphnis und Chloé mit dem Orchester aus Toulouse, drüben in Saint-Jean-de-Luz.
Wenn man mich gehen lässt. Denn das Konzert ist längst nicht vorüber. Es kommt tatsächlich noch etwas von Ravel. Und von Boulez. Und von Dukas.
Warten auf Maurice. Frei nach Beckett.
Inzwischen sind die Unterhaltungen im Publikum in vollem Gange, bald wird der normale Café-Lautstärkepegel erreicht sein.
Plötzlich schimmert ein winziger Hauch von Ravel in T durch. Also doch ein Bezug. Aber niemand hat mehr Hoffnung, dass sich irgendwas zum Guten wenden möge.
Ich denke an meinen Bekannten Andrew, den Marías-Leser, der mir gestern erzählte, dass er heute nur zum Toulouse-Konzert gehe, nicht aber zu diesem. Ich beglückwünsche ihn. Er trinkt bestimmt gerade ein kühles blonde.
Ich spüre den nie zuvor im Konzert gespürten Drang, mein Smartphone hervorzukramen. Ist die Holde gut angekommen? Hat J. geschrieben? Hat Regina meine letzten Beiträge gepostet? Wie ist das Wetter in Bilbao?
Auffallen würde es nicht; etwa zehn Leute in meinem Sichtfeld sind eifrig am Daddeln. Aber es konterkarierte alles, wofür ich als Konzertgänger und leidenschaftlicher mélomane stehe und wogegen ich anschreibe.
Endlich Ravel, ein Stück, das ich liebe: Ma mère l’oye. Heisser junior und Neuburger spielen es hart und mechanisch.
Nach dem ersten Teil der Märchensuite kommt jemand raus auf die Bühne. Es ist der Umblätterer. Er geht hinten die Bühne entlang, umrundet die drei Flügel, streichelt den linken Arm von Heisser senior, der rechts sitzt und gerade nicht spielt, und geht von dannen. Gelächter. Wir sind in einer Performance!
Dritter Teil von Ma mère l’oye. Ich vermisse die Schwestern Labèque sowie Martha Argerich plus X.
Die letzten beiden Teile verströmen etwas mehr Liebreiz. Im vierten Teil verlassen drei Leute den Saal, ohne sich auch nur im Ansatz Mühe zu geben, leise zu sein.
Mutter Gans hat fertig. Nun stürzt ein Herr aus der ersten Reihe auf die Pianisten zu. Ein Attentat? Tirez sur le pianiste? Gottlob nein. Er hebt lediglich etwas auf.
Drei weitere Leute verlassen den Saal. Sie brauchen Wein. Ich inzwischen auch.
Boulez 3. Die nächste Dame geht. Dann 5, 6, 7, 8, 10, 12 Leute. Schnaufi zischt.
Boulez ist überlebt, nun zum Abschluss der Zauberlehrling von Dukas in einer Fassung für drei Klaviere. Schnaufis Geduld ist am Ende: Er pfeift noch während der Einleitung das Thema, das noch nicht da ist. „Da. Di. Dadada Dap. Dadap“ etcetera.
Ein Handy klingelt. Weitere Personen verlassen den Saal, finden den Dukas offenbar nicht so toll.
Nun daddelt auch Schnaufi an seinem Smartphone.
Natürlich klatscht jemand in die Generalpause kurz vor Ende des Stücks.
Ich betrachte das Programmheft, auf dem das schöne Foto von Maurice Ravel zu sehen ist. Klug. Würdevoll. Irgendwie belustigt. Was hätte er von diesem bizarren Geburtstagsständchen gehalten? Und von seinen Gästen?
Ich muss unbedingt herausbekommen, ob Ravel Wein getrunken hat. Eine geraucht hätte er ganz sicher nach dieser Performance.
Dr. Brian Cooper, 6. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Klaviermusik Ravel und Boulez, Ciboure, Église Saint-Vincent, 2. September 2025, 21 Uhr
Klaviermusik von Maurice Ravel, Hyunji Kim Ciboure, Église Saint-Vincent, 2. September 2025, 17 Uhr
Ravel-Festival 2025 Urrugne, Église Saint-Vincent, 1. September 2025