Fotos © Opera Sofia and Ballett
Was bleibt, ist ein Abend, der nicht auf Effekt, sondern auf Substanz setzte. Eine Aufführung mit Respekt vor dem Werk und gleichzeitig eigener Handschrift. Kein sentimentales Spektakel, sondern Theater, das aufrüttelt. Eine beeindruckende Ensemble-Leistung! Die Nationaloper Sofia hat mit dieser Version von „Les Misérables“ ein kraftvolles Zeichen für Menschlichkeit und Vergebung gesetzt. Vielleicht war es genau das, was Victor Hugo gemeint hat.
Claude-Michel Schönberg, Alain Boublil
„Les Misérables“
Plamen Kartaloff, Inszenierung
Constantin Trinks, musikalische Leitung
Alexander-Newski-Kathedrale, Sofia, 24. Juli 2025
von Dirk Schauß
Als Victor Hugo 1862 seinen gewaltigen Gesellschaftsroman „Les Misérables“ veröffentlichte, zeichnete er nicht nur ein Panorama der politischen, moralischen und sozialen Zerrissenheit Frankreichs, sondern stellte die Frage nach Erlösung ins Zentrum seines Werkes.
Jean Valjean, der ehemalige Galeerensklave, der zum Retter und Ziehvater eines Mädchens wird, steht für ein Menschenbild, das Hoffnung durch Mitgefühl erlangt. Dass dieser Stoff anderthalb Jahrhunderte später in zahlreichen Verfilmungen und als Musical auf den Boulevards von Paris, London oder New York Triumphe feiern würde, war kaum abzusehen.
Und doch hat sich die Musicalversion von Alain Boublil und Claude-Michel Schönberg, uraufgeführt 1980 in Paris, längst als Klassiker des Musiktheaters etabliert. Seitdem gab es unzählige Produktionen, Verfilmungen, Adaptionen – jede fügt dem alten Stoff einen neuen Farbton hinzu.
Am 24. Juli 2025 war es die Nationaloper Sofia, die diesem zeitlosen Epos eine neue, eigene Stimme verlieh. Unter der Regie von Generaldirektor Plamen Kartaloff, auf dem ehrwürdigen Alexander-Newski-Platz und unter freiem Himmel, wurde die bulgarischsprachige Version von „Les Misérables“ zu einem spektakulären Erfolg. Begleitet von einem sinfonischen Orchester, dirigiert von Constantin Trinks, gelang eine Aufführung, die sich in nichts hinter großen internationalen Produktionen verstecken muss – und dabei doch gänzlich anders wirkte: unmittelbarer, konzentrierter, ehrlicher, wie aus dem Leben gegriffen.
Kartaloffs Regiearbeit war bis ins Detail durchdacht. Er erzählte mit starken Bildern, gezielter Bewegung und klar geführten Lichtachsen. Was auf den ersten Blick klassisch wirkte, entfaltete bei genauerem Hinsehen eine dramaturgische Raffinesse, die sich nicht in großer Geste, sondern in der psychologischen Zeichnung der Charaktere zeigte.

Die Massenszenen – ob auf der Barrikade, in der Fabrikhalle oder in den Pariser Straßen – wirkten nicht einfach choreografiert, sondern wie lebendige Ströme von Körpern, getrieben von inneren Konflikten. Kartaloff führte sein Ensemble mit treffsicherem Gefühl für Balance und Dynamik, für rhythmische Wechsel zwischen Statik und Bewegung. Viele kleine, beinahe unscheinbare Momente – ein Blick, ein kurzes Innehalten, ein abrupter Rückzug in der Menge – bekamen plötzlich Gewicht. Dass er dabei nie in symbolhafte Schablonen abrutschte, sondern stets die Menschlichkeit der Figuren bewahrte, verlieh seiner Inszenierung überzeugende Glaubwürdigkeit.
Dabei nutzte Kartaloff ein übergeordnetes Raumkonzept, das der Bühne spirituelle Tiefe verlieh: Der Alexander-Newski-Platz, begrenzt von der monumentalen Kathedrale auf der einen Seite und dem offenen Stadtraum auf der anderen, wurde zur Metapher für zwei starke Pole menschlicher Existenz – Glauben und Gesellschaft, Innerlichkeit und Aufbegehren.
Kartaloff selbst sprach von einer „spirituellen Brücke“, die dieser Bühnenraum schlage: Die Kathedrale stehe für Gebet und Hoffnung auf Erlösung, der Platz für Handeln, Sprache und Widerstand. Dazwischen entstand ein theatralischer Raum, in dem sich das Private mit dem Politischen verschränkte, in dem individuelles Leid in kollektive Not überging. Dieser Raum diente nicht nur der Erzählung, sondern verlieh ihr durch künstlerische Verdichtung einen größeren Sinn. Für Kartaloff bedeutet Kunst nicht nur, Geschichte zu zeigen, sondern sie zu läutern – und damit zur Katharsis zu führen.
Das Bühnenbild unterstützte diese Lesart mit szenischen Winkeln, die filmische Bewegungen überhaupt erst möglich machten – dynamische Achsen, die sich über die ganze Breite und Tiefe der 50 mal 24 Meter großen Fläche zogen. Der Platz selbst wurde zum Mitspieler: ein atmender Raum, in dem Licht, Klang und Körper in neue Verbindungen traten.
Hans Kudlichs Bühnenbild entwarf eine wandelbare Topographie aus Zäunen, Holzplanken, Barrikaden und Aufbauten, die sich jeder Szene anpassten. Kein statischer Hintergrund, sondern eine Art architektonische Übersetzung jener „spirituellen Brücke“. Die Bühne wurde zu einem Knotenpunkt zwischen Andacht und Aufstand, zwischen innerer Sammlung und äußerer Erhebung. Drei szenische Achsen, die Kartaloff in die Bühnenwinkel einschrieb, verliehen der Inszenierung eine geradezu filmische Bewegungsfreiheit. Figuren tauchten aus der Tiefe auf, verschwanden zur Seite oder stiegen über Ebenen hinweg. Das Auge des Publikums wurde geführt, aber nie fixiert.
Besonders die Barrikade, zentrales Symbol der Revolte, wurde hier nicht einfach zur Kulisse, sondern zum Spielort mit vertikaler Dramaturgie. Sie erlaubte Staffelungen, bot Rückzugsorte, Aussichtspunkte – und wurde zum choreografierten Körper der Hoffnung. Diese Vielschichtigkeit ermöglichte rasche Szenenwechsel, atmosphärische Sprünge, fließende Überleitungen. Das Bühnenbild diente nicht der Illustration, sondern der Eröffnung innerer Bedeutungsräume.
Leo Kulashs Kostüme unterstrichen diese Idee mit historischer Präzision und erzählerischem Feingefühl. Keine Figur blieb klischeehaft. Die Stoffe wirkten getragen, die Farbwahl – blasses Grau, gedämpftes Blau, mattes Ocker – reflektierte die Armut, aber auch die stille Würde der Figuren. Kleidung wurde hier zum sozialen Code, der nie laut, aber stets lesbar blieb.
Das Lichtdesign von Andrej Hajdinjak und Emil Dinkov arbeitete gezielt mit Kontrasten: Dämmerung gegen Glut, Straßenlicht gegen Schattenkammern. Einzelne Figurenmomente – Javerts innerer Bruch, Fantines Abschiedslied – erhielten durch punktuelle Ausleuchtung eine emotionale Aufladung, die die Musik vertiefte. Es war ein Licht, das nicht nur beleuchtete, sondern stets Atmosphären schuf.
Das Ensemble zeigte sich dieser starken Bühnenidee jederzeit gewachsen. Vladimir Mikhailov als Jean Valjean war eine echte Entdeckung. Kein glattpolierter Held, sondern ein Gezeichneter mit Widersprüchen. Seine Stimme vereinte metallische Kraft mit weichem Kern, spiegelte Valjeans Zerrissenheit. Schon in der Szene mit dem Bischof war zu ahnen, wie viel Schwere diese Figur trägt. Nikolay Voynov verlieh dem Bischof mit sonorer Stimme und ruhiger Präsenz die Aura, die diese Schlüsselbegegnung verlangt. In „Who Am I?“ spannte Mikhailov einen Bogen zwischen Gewissensnot und Mut. Sein letzter Monolog verglühte in einem Licht aus Reue und Liebe – groß und leise zugleich.

Orlin Pavlov als Javert stellte ihm einen Polizisten entgegen, der kein Fanatiker war, sondern ein Mensch in einem zerfallenden Weltbild. Pavlovs Stimme – klar, fokussiert – verlieh „Stars“ eine Mischung aus Ordnungssuche und Verzweiflung. In seiner letzten Szene, nah am Abgrund, entstand ein berührender Moment großer Innerlichkeit. Das Zerbrechen an den eigenen moralischen Dogmen wurde in Javerts Erleben beklemmend spürbar.
Alexandra-Yoana Alexandrova verlieh Cosette mehr Tiefe als üblich. Ihre helle, schlanke Stimme klang rein, ihre Szenen mit Valjean waren von einer Zartheit, die berührte. Als Tochterfigur in der zweiten Hälfte wirkte sie beinahe schwebend, und doch blieb ihr Spiel geerdet.
Vesela Delcheva als Fantine gestaltete einen emotionalen Höhepunkt. Ihre Verzweiflung, der Moment, in dem sie sich ihrer Haare entledigt, ihr Bühnentod – alles wirkte unmittelbar, greifbar. Ihr „I dreamed a dream!“ hallte lange nach.
Éponine (Denitsa Karaslavova) überraschte mit dunklem Timbre und liedhafter Intimität. Ihr „On My Own“ wurde kein großer Auftritt, sondern ein leiser Schmerz. Ihr Tod in Marius’ Armen war einer jener stillen, vollkommen gespielten Momente, in denen ein Publikum den Atem anhält.
Veniamin Dimitrov als Marius zeigte jugendliche Emphase. Besonders „Empty Chairs at Empty Tables“ wirkte glaubhaft als erschrockenes Zwiegespräch mit der Einsamkeit.
Emil Pavlov als Enjolras überzeugte mit kontrollierter Kraft, ohne Pathos. Kein Held, sondern ein Überzeugter, der dazu feine Tenortöne beisteuerte.
Plamen Dimov-Grandjan (Thénardier) und Vesela Yaneva (seine Frau) bildeten das Zentrum grotesker Zuspitzung. Zwischen Farce und Sozialkritik fanden sie ein Gleichgewicht, das unterhielt und zugleich nachdenklich machte. Dimovs Vielseitigkeit und mimische Präzision gaben dem Gauner viel Lebendigkeit. Yaneva gab an seiner Seite eine pralle Gattin, die durch ihre starke Bühnenpräsenz und ihre wuchtige Stimme ihrer Rolle nichts schuldig blieb.
Ein Glanzlicht bildeten die Kinderrollen: Marina Andreeva als junge Éponine, Nikol Veselinova als junge Cosette und Maxim Petkov als Gavroche überzeugten durch Sicherheit und Authentizität. Gavroches Tod auf der Barrikade war erschütternd. Der Blick des Kindes auf die Welt der Erwachsenen wirkte wie ein Spiegel, der wehtut.

Auch musikalisch lieferte die Produktion auf hohem Niveau. Constantin Trinks, bislang vor allem für seine Arbeit im deutschen Opern-Repertoire bekannt, führte Orchester und Ensemble mit ruhiger Hand. Er hat eine besondere Affinität zu diesem Werk, das er vor vielen Jahren oft dirigiert hat. Seine Tempi waren lebendig, nie starr. Das Werk profitierte immens von dieser sinfonischen Besetzung des Orchesters. Besonders in den Ensembleszenen zeigte Trinks sein Gespür für musikalische Entwicklung.
Der Chor unter Violeta Dimitrova war kraftvoll, klar, dynamisch. Sound Director Plamen Yordanov sorgte für akustische Brillanz – auf einem offenen Platz dieser Größe alles andere als selbstverständlich.
Das Publikum jubelte begeistert, es gab viele glückliche Gesichter, Tränen und Hoffnung – eine besondere Erfahrung für alle.
Was bleibt, ist ein Abend, der nicht auf Effekt, sondern auf Substanz setzte. Eine Aufführung mit Respekt vor dem Werk und gleichzeitig eigener Handschrift. Kein sentimentales Spektakel, sondern Theater, das aufrüttelt. Eine beeindruckende Ensemble-Leistung! Die Nationaloper Sofia hat mit dieser Version von „Les Misérables“ ein kraftvolles Zeichen für Menschlichkeit und Vergebung gesetzt. Vielleicht war es genau das, was Victor Hugo gemeint hat.
Dirk Schauß, 26. Juli 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Kiril Popov, Der Einsiedler von Rila Alexander-Newski-Kathedrale, Sofia, 11. Juli 2025
Richard Wagner, Tannhäuser Sofia Opera und Ballett, 5. Juli 2025
Richard Wagner, Das Rheingold Sofia Opera und Ballett, 28. Juni 2025
Richard Wagner, Die Walküre Sofia Opera und Ballett, 29. Juni 2025
Richard Wagner, Siegfried Sofia Opera und Ballett, 1. Juli 2025
Richard Wagner, Götterdämmerung Sofia Opera und Ballett, 3. Juli 2025