Foto © Detlef Kurth
Ludwig van Beethoven, Fidelio
Oper Halle, 15. November 2017
von Guido Müller
Wenn es in der ursprünglich unter dem Titel „Leonore“ oder „Die Gattentreue“ als deutsches Singspiel entworfenen Befreiungs-Oper „Fidelio“ etwas zum Lachen gibt, wenn Slapstick sich mit humanistischem und kapitalismuskritischem Ernst um einen diffizilen Freiheitsbegriff abwechselt, ja durchdringt, dann hat sich der derzeitig weit über das Kulturleben der Saalestadt Halle hinaus beachtete und für deutsche Theaterpreisehren sorgende junge Opern-Intendant Florian Lutz der feierlichen Sache von Beethovens musikalisch heterogener Hymne auf Gattentreue und Freiheit angenommen. Diese beliebte deutsche Fest-Oper ist ja durchaus mit genug dramaturgischen und textlichen Schwächen und Zerrissenheit behaftet.
Deswegen wurden die hölzern-gestelzten Sprechtexte, die sicher schon bei der Uraufführung vor überwiegend französischem Soldatenpublikum während der napoleonischen Besetzung Wiens für Ablehnung beim Publikum sorgten, häufig verändert, durch zeitbezogene philosophische Betrachtungen wie von Walter Jens ersetzt oder ganz weggelassen. Diesen Weg beschreitet die Inszenierung in Halle auf originelle Weise durch kulturpolitische und wirtschaftskritische Diskurse, die sich auch, aber nicht nur auf aktuelle strukturelle Bedrohungen des Musiktheaters in Halle beziehen.
Die Inszenierung von Florian Lutz und seinem Team stellt das sonst kaum reflektierte abstrakte Problem der Endfassung von Fidelio ins Zentrum, dass die Rettung des Individuums (Staatsgefangener und Mörder Florestan) und die Erringung der Freiheit nicht durch die Frau (die abstrakt idealisierte Opernfigur Leonore beziehungsweise Fidelio), sondern letztlich in fast religiöser Überhöhung („Heil!“) nur durch eine höhere politische Macht (der Auftritt des „Ministers“ als staatliche Obrigkeit) und Gerechtigkeit sowie Wiederherstellung der (alten?) Ordnung ermöglicht wird.
Die „Große Oper“ Fidelio befragt den Freiheitsbegriff in allen Facetten. Und das gelingt dem Team um Florian Lutz durch eine sehr sinnliche, kurzweilige, vor Einfällen sprühende, überaus opulent ausgestattete und vor allem zum Schluss der Oper oft die Aufmerksamkeit des Publikums durch die Reizüberflutung der Video-, Ton- und Texteinspielungen bewusste über ihre sinnlichen und intellektuellen Grenzen der Aufnahmefähigkeit hinaus fordernde Inszenierung.
Zu Beginn des zweiten Aufzugs wird der Kerker des Spardiktaten ausgelieferten und seinen Fundus verramschenden Opernhauses im Büro des erschöpft leidenden Intendanten sogar zum comicartigen Tollhaus. Wir erblicken das selbstironisch gezeichnete Ebenbild des in seinem Büro Akten und Bilanzen wälzenden Intendanten Florian Lutz, der gleichzeitig die Oper Fidelio mit der Darstellerin der Leonore inszeniert. Er tritt gleich selber als dreifacher Staatsgefangener Florestan auf – Lutz sollte von seiner Beethovenaffinen Mutter sogar diesen Vornamen erhalten, zusammen mit Kopien seiner beiden Stellvertreter Michael von zur Mühlen und Veit Güssow.
Im Kerker des kapitalistischen Effizienz- und Spardrucks auf die Kultur stöhnt er laut auf „Oh welch Dunkel hier“. Der singende, inszenierende und managende Intendant in einer Person. Ironischer und selbstreferentiell übertriebener Stadttheater-Narzissmus. Und schon alleine durch die Musik bittere Parodie auf das radikale Spardiktat. Doch von Depression keine Spur.
Bereits zu Beginn der Oper hatte der kulturpolitische Manager-Geschäftsführer in einem rot leuchtenden Ancien-Regime-Kostüm mit üppiger Allonge-Perücke (bereits in seiner Auftrittsarie strahlt Heldenbariton Gerd Vogel als Don Pizzaro herausragend dunkel) über Video seine neoliberale Botschaft vom Ende des Wohlfahrts- und Kulturstaats verkündet – und somit auch vom Ende des narzisstischen Stadttheaters: ein Seitenhieb auf einen im Mai 2017 erschienenen Aufsatz des Geschäftsführers der Theater, Oper und Orchester GmbH Halle, Stefan Rosinski, über das depressive Staatstheater. Anschließend setzt der marktkonforme Controller es im Nadelstreifenanzug beim Gefängnispersonal vulgo Sängerpersonal des Stadttheaters gleich auf der Bühne postwendend um durch Freistellungen als Sicherheits-, Reinigungs- und DHL-Logistik-Dienst.
Mit diesem Kunstgriff der aktualisierten Zwischentexte, teilweise auf Videos, die sich im Subtext auf die kulturpolitische Diskussion in der Händelstadt um das Musiktheater und die neue künstlerische Leitung beziehen, sucht der Regisseur die Peinlichkeiten des Urtextes der Oper zu umgehen.
Intendant Florian Lutz dreht in der Inszenierung die Schraube über das Selbstreferentielle in Halle hinaus weiter, indem er mit einer Parodie auf die TV-Sendung „Bares für Rares“ (ZDF) bewusst auch Peinlichkeiten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens im marktbestimmten Zeitalter des neoliberalen Ausverkaufs von Kultur und Geschichte thematisiert. Diese Inszenierung nimmt zunächst nichts ernst außer der totalen Kunstform Oper, verkörpert in erster Linie durch die ergreifend und besonders differenziert gerade auch im lyrischen Bereich singende und die Lichtgestalt der Oper bravourös und auch heldisch verkörpernde Anke Berndt als herausragender Fidelio. Wie schon in ihren Wagner-Partien gefällt mir an dieser seit vielen Jahren dem Ensemble der Oper Halle angehörenden Sängerin ganz besonders, dass ihre Stimme nie dramatisch drückt oder forciert sondern immer im Belcanto bleibt. Sie ist zudem eine begnadet differenziert und berührend spielende Sängerschauspielerin.
Zur Ouvertüre bricht Leonore im Video (Iwo Kurze) auf von den Stufen des Opernhauses Halle in ihrer 30 Kilo schweren Rokoko-Prachtrobe (Kostüme: Andy Besuch) mit riesigem Haaraufbau. Sie irrt durch Halle und Schlossparks auf der Suche nach ihrem Mann Florestan, der im Gefängnis sitzt. Das prächtige geradezu Disneylandmäßige Bühnenbild von Martin Miotk zeigt im ersten Aufzug ein schönes malerisches Piranesi-artiges Gebäude mit großer Treppe, Eisentoren und herumliegenden Skeletten. Ein Staatsgefängnis als Augenweide! Leonore entschlüpft dem Rokokokostüm, das in den Schnürboden gezogen wird und später zur Rettung der Kultur versteigert werden wird. Sie verkleidet sich als Mann, um im Gefängnis nahe bei ihrem Mann arbeiten zu können. Zu seiner Rettung wird sie im zweiten Aufzug als Fidelio im eleganten Gehrock der Beethoven-Napoleon-Zeit in den Kerker des auf der Unterbühne liegenden Intendantenbüros eindringen. Dort zeigt sie sich durch die heutigen Interieurs von laufendem TV und Smartphone stark verstört. Oper nicht nur mit doppeltem Boden.
Schließlich erschießt Leonore im wehenden Negligé à la Wilhelmine Schröder-Devrient, einer berühmten Verkörperung der Rolle im 19. Jahrhundert, nicht nur den Tyrannen Pizarro, sondern gleich danach alle Darsteller auf der Bühne einschließlich des Intendanten Florian ( Lutz ) alias Florestan. Und wundert sich dabei, dass die Pistole echt ist. Ein geradezu Brecht-würdiger Theater-Coup.
Ende der Oper? Nein, dies ist nur eine der vielen dialektischen, spielerischen Volten, die der Regisseur zunächst zum Amüsement und dann aber auch zur wachsend ablehnenden Verwunderung von Teilen des Publikums in dieser Inszenierung schlägt. Florian Lutz zitiert damit ironisch das optisch opulente alte Opernspektakel eines Otto Schenk, das gar als verstaubtes Totengerippe im Kerkervorhof auch Marzelline mal zum Tänzchen im wunderschön gemalten Kulissengefängnishof dient.
Genauso ironisiert Lutz auch die Mätzchen des Regietheaters mit dem hundertfach abgedroschenen Herren-Chor in taubenblauen Blazern mit Smartphone und Aktenkoffer. Als Investment-Banker-Touristentruppe lauschen sie zunächst dem Gefangenenchor mit Kopfhörern und singen nach Textblättern, fühlen sich peinlich vom Publikum beobachtet und starren ins Publikum, um dann auf der kreisenden Drehbühne mit wachsendem Staunen die Bühnenarchitektur zu inspizieren. Eine Parodie auf die vielen Männerchor-Festkonzerte, in denen die Hits der Gefangenenchöre von Beethoven oder Giuseppe Verdi so schmalzig verdehnt wie gedankenlos zum Besten gegeben werden – und zugleich auf die vierte, eine räumliche Illusion vortäuschende Wand der Theaterbühne. Florian Lutz ist nämlich ein dezidierter Gegner des überintellektualisierten Dramaturgen-Regietheaters. Er ist mehr ein post-postmoderner Regisseur mit fast barock-rheinischer Lust an Sinnlichkeit und karnevalesker Satire über die Mächtigen; er ist ein intellektueller Spieler.
Zum großen feierlich oratorienmässigen Schlußtableau des Fidelio (Chor und Extrachor grandios einstudiert von Rustam Samedov) tritt der Deus-ex-machina-Minister Don Fernando auf, verkörpert vom sowohl balsamisch wie auch autoritär markant singenden Bass Ki-Hyun Park, einem trotz seiner jungen Jahre bereits vielfach bewährten Ensemble-Mitglied. Da denkt man unverzüglich, ob auch die in argen finanziellen Nöten steckende Theater, Oper und Orchester GmbH Halle am Ende durch ein Eingreifen des Staatsministers aus Magdeburg gerettet wird?
Der Chor steht in eleganter und opulenter Ancien-Regime-Garderobe mit hohen Perücken auf dem Podest. Vor ihm posieren die Solisten auf dem durchsichtigen Gazevorhang. Dazu werden ununterbrochen Videosequenzen mit Stimmen und Texten von Hallenser Bürgern zu ihren individuellen Begriffen und Erfahrungen von und mit Freiheit und Beziehungen eingespielt. Diese starke Collage zur Musik ist ganz besonders berührend.
Leider hat der Regisseur diese Einblendungen nach der Premiere um ein Drittel gekürzt – die ursprüngliche Wirkung mit wiederholten Unterbrechungen der Musik und Tonüberblendungen war ergreifender.
Mit diesem Spiegel der sehr persönlichen Meinungen von Menschen auf den Straßen von Halle in den Videos hatten einige Premieren-Besucher sichtlich großes Unbehagen. Sie forderten durch Zwischenrufe die Priorität der Musik Beethovens und der Sänger herzustellen. Dem hat sich der Hausherr wohl teilweise gebeugt. Während es zur Premiere noch zahlreiche Zwischenrufe und Buh-Rufe gegen das Regieteam gab, sind diese nun zum Ende der fünften Vorstellung lauten Bravi und starkem Beifall für alle Sänger, Chor und Orchester gewichen.
Christopher Sprenger leitet die Staatskapelle Halle mit frischem und geschwindem Zugriff passend zur Inszenierung. Das Pathetische wird durchgängig vertrieben, Sprenger verzichtet auch auf die sonst immer als Zwischenmusik vor dem Schlussbild verwendete dritte Leonoren-Ouvertüre mit dem berühmten Trompetensignal.
Während die Hörner zu Beginn schon mal leicht wackeln, gelingt der Schlusschor mit dem Orchester trotz schwieriger Sichtverhältnisse grandios abgestimmt – und überwältigend schön musiziert. Das zeigt Sprengers Begabung in der Koordinierung großer Chorszenen und Ensembles mit den Solisten und dem Orchester, die er 2016 schon im Luther-Projekt mit den Bach-Kantaten an der Oper Halle gezeigt hatte – damals sang ein Bürgerchor mit mehr als 100 Sängerinnen und Sängern.
Ines Lex als Marzelline singt sich mit ihrem glockenhellen Sopran und ihrer Spielfreude sofort in die Herzen der Zuschauer – sicherlich nicht zuletzt auch dank ihres entzückenden Zofenkostüms. Jaquino wird von Robert Sellier als Liebhaber, aber auch in den Ensembles sowie in einer akrobatischen Paketnummer als DHL-Bote sehr präsent dargestellt und differenziert gesungen.
Gerd Vogel im Prachtkostüm des Pizarro und als gefährlicher kalter Geschäftsführer vermag das dunkle und bedrohliche Profil seiner Rolle prägnant und mit glänzend fokussiertem Bassbariton zu verkörpern.
Der einzige Gast Hans-Georg Priese in der Tenor-Rolle des Florestan strahlt von seiner schweren Auftrittsarie mit eindrucksvollem tenoralen Glanz und lyrischer Differenzierung bis in das Finale. Er fügt sich sehr gut in das Ensemble ein.
Der Rocco von Vladislav Solodyagin liefert mit flexiblem, sehr spielfreudigem und tonschönem Bass nicht nur eine beeindruckende Studie eines Goya-mäßigen Gefängniswärters, sondern auch die eines zeitgenössischen Sicherheitsbeamten, dessen Gewissen langsam erwacht. Alle singen ein äußerst textverständliches Deutsch – heutzutage leider nicht nur wegen der Internationalität allzu oft nicht mehr selbstverständlich.
In der fünften Vorstellung seit der Premiere zum Spielzeitauftakt zeigt die Oper Halle einen unterhaltsamen, stellenweise witzigen, auf jeden Fall anregenden und opulent ausgestatteten Fidelio voller ironischer Anspielungen auf die kulturpolitische Gefährdung der Oper in der Saalestadt. Sie zeigt kluge Überlegungen zum Thema Freiheit und regt an zum Nachdenken: Was darf Kunst im 21. Jahrhundert?
Die musikalische Qualität ist mehr als solide und im Laufe der Vorstellungen ausgereift. In ihr zeigt sich eine neue hohe Qualität des Ensembles der Oper Halle und der Staatskapelle Halle, wie sie bereits kürzlich auch in konzertanten Aufführungen der Belcanto-Oper „Anna Bolena“ von Gaetano Donizetti glänzend demonstriert wurde. Unbedingte Besuchempfehlung!
Fidelio an der Oper Halle: nächste Vorstellungen am 9. Dezember und 25. Dezember 2017; 5. Januar und 14. Januar 2018.
Guido Müller, 17. November 2017,für
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