Foto: Grigory Sokolov © Klaus Rudolph
Störenfriede. Meistens sind sie menschlicher Natur. Husten, rotzen und lärmen, was das Zeug hält. Diese Szenen sind nichts Neues und werden auch heftig diskutiert. Was allerdings machen, wenn einem die Technik einen Strich durch die Rechnung zieht? Im Wiener Konzerthaus stört ein Hörgerät den ganzen Abend. Es piepst und rauscht in einem fort. Ein „Problem“, das nicht als Einzelerscheinung zu Tage tritt. Hier sind alle gefordert.
von Jürgen Pathy
„Der kann spielen, was er will“. Nächstes Jahr habe sich der Herr schon vorgemerkt. „Er spielt eh das ganze Jahr dasselbe Programm“, erwidert sein Kollege. Die Rede ist von Grigory Sokolov. Im Wiener Konzerthaus, wo er seit Jahren schon seinen fixen Österreichstop einschiebt, bestätigt der gebürtige Russe alles, was die Herren so während der Pause besprochen haben. Schumann und Brahms hat er bereits letztes Jahr gespielt. Chopin und Rachmaninoff das Jahr zuvor. Bach spielt er auch ganz gerne. An diesem Abend setzt er mit Henry Purcell einen Komponisten aufs Programm, dessen Werke einem nun aber weniger geläufig sind.
„Ich bin froh, dass ich nichts schreiben muss“, sagt ein Kollege. Wieso? „Was will man denn schon schreiben, er spielt eh alles perfekt“. Da gibt es eigentlich wenig entgegenzusetzen. Der in St. Petersburg lebende Grigory Sokolov kann wirklich fast alles spielen. Bei Beethoven als auch bei Mozart, da scheiden sich indes die Geister.
Dabei läuft ein Sokolov-Konzert immer gleich ab. Der mittlerweile 73-jährige, seit langem schon ergraute Ausnahmekönner betritt die Bühne. Schreitet zielstrebig zum Klavier – schwarz ist das natürlich, ein klassischer Flügel aus dem Hause Steinway & Sons. Verbeugt sich einmal in den Saal, einmal nach hinten, nimmt Platz und greift in die Tasten. Ein mantraartiges Ritual, fast schon wie das Amen im Gebet. Die Kleidung ebenfalls nichts Extravagantes: Ein Frack, der die Figur mittlerweile nicht unbedingt wohlwollend in Szene setzt.
Völlig unprätentiös also, ohne jegliche Starallüren. Bei Sokolov spricht eben nur das Klavier. Interviews gibt er so gut wie keine. Dem Publikum öffnet er aber regelmäßig die Türen. Nach dem Konzert, wo er im Backstage-Bereich ebenso bescheiden seine Autogramme verteilt. Mit stoischer Ruhe, das versteht sich eh von selbst. Die kommt ihm vermutlich auch sonst zugute.
Sokolov bringt nichts so leicht aus der Ruhe
„Wie machen Sie das?“, stelle ich die Frage. „Wie kommen Sie mit den Handys klar, die ständig läuten?“ Resignierendes Schulterzucken erübrigt eigentlich ein weiteres Nachbohren. Es ist halt so, was soll man machen, könnte man die Gestik deuten. An diesem Abend kommt aber noch erschwerendes hinzu. „Und das Hörgerät, das fast durchwegs gepiepst und gerauscht hat“? Das habe er gar nicht wahrgenommen. „Wo, auf der Galerie weiter hinten“? Genau, oben links, irgendwo im hinteren Bereich, der von der Direktionsloge zumindest gut einsehbar ist.
Rico Gulda versucht auch sein Bestes. Als künstlerischer Betriebsdirektor, auf diese Bezeichnung legt er viel wert, zieht er im Grunde vermutlich viele Fäden. Überhaupt, wenn man ans Klavier denkt. Als Drittgeborener von Friedrich Gulda, dem Klaviergott vieler, ist es gut vorstellbar, dass vieles seinem Einfluss und seinen Beziehungen zu verdanken ist. Giganten wie Sokolov, Volodos und Grimaud – über letztere könnte man streiten – zählen im Wiener Konzerthaus seit Jahren zu den Fixsternen. An diesem Abend ist auch er machtlos. Da hilft es nichts, dass er mit aller Kraft versucht, den Unruhepol zu lokalisieren. Der ist nicht aufzuspüren. Egal, wie viel Energie er in die Suche steckt. Nach zehn Minuten gibt auch er klein bei. „Wir werden uns morgen mit dem größten österreichischen Hörgeräteanbieter in Verbindung setzen.“
Eine unabdingbare Notwendigkeit. Vielen Gästen hat dieser Störenfried den Abend versaut. Vorwürfe kann man den Verantwortlichen an dieser Stelle eigentlich keine machen. Auch nur schweren Herzens dem Unruheherd. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich das sein muss, sein Hörvermögen zu verlieren.
Wie soll man da also vorgehen? Alle Bediensteten des Abends zusammentrommeln und wie einen militärischen Suchtrupp auf die Reise schicken? Stört man damit nicht vielleicht den Künstler auf der Bühne? Fühlt der sich wiederum aber nicht gestört von diesem Geräusch? Alles Fragen, die mir durch den Kopf schießen. Im Parterre Rechts, Reihe 12, Platz 6, fußfrei auf den VIP-Plätzen. Ein großer Dank gebührt an dieser Stelle dem Wiener Konzerthaus, das es klassik-begeistert immer ermöglicht, von diesen Konzert-Highlights zu berichten.
Das Publikum in der Verantwortung
Stillschweigend kann man diesen Vorfall aber nicht hinnehmen. Es ist kein Einzelfall. Bei einem Publikum, das nicht unbedingt jünger wird, sicherlich auch eine zukünftige Problematik. An der Wiener Staatsoper hat ein Hörgerät schon die ein oder andere Vorstellung zerschossen. Bei einem Konzert an der Mailänder Scala, das kürzlich erst Riccardo Chailly geleitet hat, ebenso. „Deswegen werden wir der Sache nachgehen“. Das hat Rico Gulda versprochen. Das möchte ich auch gar nicht bezweifeln. Die Erkenntnisse sollten unbedingt geteilt und veröffentlicht werden. Damit man daraus in allen Häusern lösungsorientierte Schlüsse ziehen kann.
Viel mehr stellt sich aber die Frage, warum das nähere Umfeld so versagt hat. Jene Personen, die im Einflussbereich des Unruheherds ihren Platz gefunden haben. Dass die es nicht hören konnten, will ich einfach nicht glauben. Wieso niemand an diesem Abend nichts unternommen hat, ist also die viel entscheidendere Frage. Aus Angst, sich zu blamieren, zu stören? Dem armen Zuhörer womöglich auf den Schlips zu treten (Stichwort: Fremdschämen)? Oder aus ganz anderen Gründen?
Grigory Sokolov sind die nicht zum Verhängnis geworden. Der spult sein Programm ab, als wäre nichts geschehen. „Sechs Zugaben, das ist fix“, hatten die beiden Herren in der Pause schon prophezeit. Sokolov liefert. Dazu dann auch noch Mozart, den er öfters gerne nach der Pause aufs Programm setzt. Zu meckern gibt es da eigentlich nicht viel.
Spitzbübischer könnte man Mozart vielleicht spielen. Das ist bekannt. Etwas frecher. Vor allem in den raschen Passagen, wie im Kopfsatz der B-Dur Sonate, KV 333. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Mozart sicherlich kein trockener Bursche war. Karten hat er gespielt, dabei vermutlich einen Haufen Geld verzockt, und sich regelmäßig den Unmut der Obrigkeit an den Hals gezogen. Das kann man durchaus auch in seine Musik einfließen lassen.
Ansonsten soll der Abend ruhen. Viel zu sehr war der Fokus auf Nebensächlichkeiten gerichtet, auf Nebengeräusche, die auch anderen das Vergnügen verdorben haben. Das gilt es in Zukunft zu verhindern.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 29. Mai 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“