Billy Joel © Myrna Suárez
Klassik und Pop. Beides einfach nur Musik, könnte man meinen. Doch da gibt es Unterschiede. Betrachtet man das Zuschauerinteresse, teilweise sogar enorme, Billy Joel im Hyde Park in London – 65.000 Tausend Zuschauer. Brooklyn Rider, ein Streichquartett, in der Londoner Wigmore Wall – überschaubare 300 Besucher, wenn es hochkommt. Der Grund ist vermutlich lapidar.
von Jürgen Pathy
„Oh, oh, oh, for the longest time“, grölt ein Pärchen, das sich in einer Fahrrad-Rikscha durch die Londoner Innenstadt karren lässt. Die Straße ist leergefegt von Autos. Fast schon wirkt es so, als habe man extra wegen des Billy-Joel-Konzerts die Zufahrten rund um den Londoner Hyde Park gesperrt. Dort hat der US-amerikanische Sänger, Pianist und Songschreiber kurz zuvor sein einziges Europakonzert gegeben. Sonst spielt er generell nur in den USA. Die Uhrzeit: Es ist ca. 11.30 p.m Greenwich mean time (GMT). Das heißt spät in der Nacht.
Szenenwechsel. Nächster Tag. Wigmore Hall. 01.05 p.m., Mittags also. Die Stadt wird endlich ihrem Ruf gerecht. Statt brütender Hitze wie am Tag zuvor, verregnete Zurückhaltung. Angenehme Temperaturen. Nach etwas Verzögerungen – die Londoner U-Bahn, „Tube“, wie man sie hier nennt, muss enorme Menschenmassen durch die Stadt befördern –, schaffe ich es gerade noch so hinter die sich bereits schließende Tür. Was mich dort erwartet, ist eine komplett andere Welt. Ein Traum. Endlich Ruhe, die man in dieser pulsierenden Metropole sonst kaum wo findet. Eine Oase des Friedens. So könnte man die Wigmore Hall in London mit wenigen Worten umschreiben.
Knockin‘ on heavens door
Dazu dann die ersten Takte der Musik. Eine Kantilene fängt mich auf. Bettet mich sanft. Katapultiert mich in den siebten Himmel, während ich leise zu meinem Platz schleiche. Am Programm steht Philip Glass. Der Quartettsatz (2017) und drei Streichquartette. No. 5, No. 2 und No. 3, auch „Mishima“ genannt, um genau zu sein. Die Reihen sind überschaubar gefüllt. Mindestens ein Drittel der Plätze sicher leer. Wie kann das nur sein, stelle ich mir im Laufe der folgenden Stunde die Frage – während ich von einer Welle auf die nächste gleite.
So kann man die Musik von Philip Glass in wenige Worte fassen. Viel „später“ Beethoven, vor allem in den langsamen Sätzen. Sonst wellenförmige Bewegungen, die in den einzelnen Stimmen immer wieder ausbrechen. Nur, um anderswo wiederum neue Wellen zu formen. Balsam für die Seele. Warum springen da aber nur so wenige Menschen auf? Warum lockt der eine die Scharen an – noch dazu aus aller Herren Länder –, während man in der Wigmore Hall auf rund einem Drittel der Karten sitzenbleibt. Bei einer Zuschauerkapazität von gerade mal rund 500 Plätzen, wohlgemerkt.
Billy Joel versus Philip Glass
An der Qualität der Musiker kann es bestimmt nicht liegen. Brooklyn Rider, eine Streichquartett-Formation, die seit 20 Jahren besteht, kann mit Billy Joel locker mithalten. An der Klasse der Musik genauso wenig. Klar, Philip Glass ist nicht so eine internationale Größe wie Billy Joel, der mit rund 86 Millionen verkauften Alben zu den erfolgreichsten Musikern der USA zählt. Mit Hits wie „Uptown girl“, „We didn’t start the fire“ oder „Piano man“ hat der mittlerweile 74-Jährige in den 1980er Jahren die Billboardcharts gestürmt. Mit „Vienna“, einer Hommage an meine Stadt, für immer einen Platz in meinem Herzen sicher. Dennoch: Dort kennt ihn auch nicht jeder. „Hm, Billy Joel, wer ist das? Noch nie gehört!“, kommt mir da zu Ohren. Philip Glass, dem ergeht’s auch nicht anders. Den kennt auch nicht jeder. Aber Nobody ist er auf keinen Fall.
86 ist Glass mittlerweile. Einer der bekanntesten zeitgenössischen Komponisten, der schon auch außerhalb der Klassikszene einigen ein Begriff ist. „Philip Glass, cool“, höre ich von einer Seite. „Philip Glass, yes, we love his music“, von einem Pärchen, das in London lebt. In einem Viertel nahe Greenwich, im Süd-Osten der Stadt. Gutbürgerliche Mittelschicht. Warum er dann nur so wenig Publikum anziehen würde, frage ich sie. „Ja, klassische Musik, die ist hier nicht so weit verbreitet“. Aber warum nicht? Der Zugang wäre doch so leicht. Viel leichter eigentlich als man meinen könnte. Für Billy Joel blättert man rund 250 Euro auf den Tisch. Für die günstigsten Karten wohlgemerkt. In der Wigmore Hall gerade mal läppische 16 Pfund Sterling, umgerechnet ca. 19 Euro.
Take it easy, nicht immer alles so streng sehen
Die einzige Antwort, die da bleibt: Die Menschen suchen das Event. Das Großereignis. Einen Ort, an dem sie aus dem Alltag ausbrechen können. Ohne viele Regeln. Wo sie ungeniert singen, saufen und in der Wiese herumkugeln können. Ohne „Benimmpolizei“, die sie vielleicht auch noch von oben bis unten mustert. Anders kann ich es mir nicht erklären. Warum man sich lieber bei knapp 30 Grad Celsius durch die brütende Hitze kämpft, anstatt im wohltemperierten Saal zu sitzen. Sich lieber durch Menschenmassen quetscht. Kaum ein Zentimeter im Hyde Park ist frei. Anstatt in Ruhe auf gepolsterten Klappsesseln zu sitzen.
Im Klassikbetrieb spielt es das alles nicht. Da läuft das anders ab. Setz dich hin, schalt dein Handy aus und halt die Pfeife. Anders funktioniert das eben nicht. Klassische Musik benötigt nun mal die Stille. Weil man zuhören muss und nicht nur hinhören. Deshalb sei die Klassik auch „elitär“, wie mir Matthias Rüegg einmal weismachen wollte. Ein Schweizer Komponist, Arrangeur und Pianist, der im Jazz eine international anerkannte Größe ist. Eine Aussage, die ich so nicht stehen lassen wollte. Aber er hat recht.
Dennoch kann und muss man von Billy Joel und allen anderen Festivals etwas lernen. Die Klassik muss runterkommen von ihrem hohen Ross. Nicht immer so dogmatisch reagieren. Auch ich, der in der Wigmore Hall mal wieder kurz davor stand, die Nerven zu verlieren. Ein Dreikäsehoch, maximal drei Jahre alt, bei Kammermusik. Muss das sein? Ja, warum nicht! Ab und zu einfach mal ein Auge zudrücken, wenn der Sitznachbar mal wieder raschelt. Das Kleinkind sich beim Sprechen übt.
Und generell darüber nachdenken, Konzepte weiter zu lockern. Kühles Bier, saftiges Sandwich und qualmende E-Zigarette während der Vorstellung. Das kann natürlich ausufern. Sollte man aber zumindest bei Open-Air-Veranstaltungen in Erwägung ziehen. Damit könnte man dort vielleicht neue Publikumsschichten anziehen, diese begeistern, und in Zukunft auch für den verstaubten Indoorbetrieb gewinnen.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 17. Juli 2023, für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“
Pathys Stehplatz (35) – Abschied von Teodor Currentzis? klassik-begeistert.de, 18. Juni 2023
Lieber Jürgen,
vielen Dank für Deine schönen Anregungen, denen ich grundsätzlich zustimmen kann, teilweise bekräftigen, teilweise aber einschränken möchte. Nur am Rande: Auch die populäre Musik (von Rock, über Pop zum Hiphop) hat seit einiger Zeit Probleme, das Publikum zum Live-Event zu bewegen, wenn nicht die großen Zugpferde auftreten. Hierüber beklagen sich zunehmend die Veranstalter. Kleinere Bands tun sich noch schwerer als früher.
Eines vorweg: Zu einem Billy Joel-Konzert bekommen mich keine 10 Pferde. Da kann man mir auch gerne 250 Euro zahlen. Ich mochte den Schnulzenbarden schon in meiner Jugend nicht. Nicht dass ich Popmusik grundsätzlich nicht mögen würde, mir waren David Bowie (leider schon tot) und Chaka Khan lieber. Vielleicht unterscheiden sich unsere Geschmäcker, weil Joel Köln nie besungen hat 😉 Warum schreibe ich das? Weil dies aus meiner Sicht besser erklärt, warum die klassischen Konzertsäle und insbesondere die Kammermusiksäle sich weniger füllen als die Arenen, wenn Popmusik geboten wird.
Es gibt gute Untersuchungen dazu, dass der Musikgeschmack – völlig unabhängig vom Genre – in der Kindheit und Jugend geprägt wird. Hiernach ändert er sich selten. Die Musikausbildung liegt letztlich seit Jahrzehnten brach. Vor allem in der Grundschule, wo die Weichen gestellt werden, fehlen qualifizierte Kräfte. Hiermit meine ich nicht notwendigerweise ausgebildete Musiklehrer, was natürlich ideal wäre. Inzwischen sind die meisten Grundschullehrer soweit der Musik entfernt, dass diese mit den Kindern nicht mehr regelmäßig singen, geschweige denn klassische Musikwerke erarbeiten. Früher gab es in jeder Grundschulklasse ein Klavier, das von den meisten Lehrern zumindest soweit genutzt werden konnte, um ein einfaches Lied zu begleiten. Heute können sich – zumindest in NRW – die Schulen glücklich schätzen, wenn es überhaupt ein Klavier gibt. Lehrer fehlen ohnehin, von Lehrern, die eine musikalische Grundbildung mitbringen und das Klavier zumindest rudimentär bedienen könnten, ganz zu schweigen. So bewegt sich die Spirale nach unten. Um es polemisch zuzuspitzen: Schafft die CD-Player und die Bluetooth-Boxen ab! Singt! Das Singen ist eine zentrale Musikerfahrung, das den Zugang zur Musik erst ermöglicht. Es ist nicht von ungefähr, dass auch in der populären Musik der melodische Gesang mehr und mehr in den Hintergrund tritt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind Künstler mit Rap-Texten und den immer gleichen Beats die einnahmekräftigsten.
Zugegeben, die Bluetooth-Boxen braucht man natürlich dann doch noch, um tolle klassische Stücke kennenlernen zu können, die man nicht so einfach aufs Klavier zaubert.
Zur legeren Kleidung ist schon viel geschrieben worden. Dieses Argument halte ich schlicht für Unsinn. In welchem Konzertsaal (in Deutschland) wird man noch schräg angesehen, wenn man mit T-Shirt kommt? Die Irritation dürfte umgekehrt weitaus größer sein, wenn ich zu einem Heavy Metal-Konzert erscheine, wie ich mich wohl fühle: mit langem Hemd und Sakko. Das man die Kleidungsfrage überhaupt thematisiert, führt nur zur Verstärkung des Vorurteils, dass vielfach erwartet würde, im schwarzen Anzug oder Abendkleid zu erscheinen.
Ausdrücklich zustimmen möchte ich Dir bei der Frage des Ambiente an sich. Für mich sind so mancher Beethoven und Ba_rock wie Rock-Musik. Der Basso continuo hat die geilsten Riffs. Wieso darf ich mich dazu nicht bewegen? Gestern haben wir Strauß’ Kaiserwalzer in kammermusikalischer Besetzung gehört. Dazu hätten wir tanzen müssen! Auch die Da-Capo-Arie gibt es ja, _weil_ sich die Leute jahrundertelang zur Musik bewegt haben. Das Vorspiel zu Tristan und Isolde beim Gemurmele zu Sekt und Bier zu genießen, halte ich jedoch für ausgeschlossen. Hier ist auch der Komponist davon ausgegangen, dass man still und aufmerksam zuhört. Letztlich schließt sich der Kreis, das Publikum müsste wissen, wann freie Bewegung und Bier angemessen sind und wann man sich still verhalten soll.
Wir haben uns übrigens in den letzten Tagen gefreut, wie viele jüngere Kinder hier in Estland auch abends im Kammer- oder Sinfoniekonzert zu sehen sind. Man muss sie als Eltern nur mitnehmen.
Herzlich
Guido
Toller Blog, sehr lesens-und empfehlenswert für alle Musiker:innen, Sänger:innen und auch für alle Musikliebhaber:innen – Pop und Klassik sind eben nicht „nur einfach Musik“!
Jolie