© Krzysztof Mystkowski
von Jürgen Pathy
Völlig durchgeknallt. In Bayreuth stürmt man das Festspielhaus. Künstlerisch natürlich nur: In Tobias Kratzers „Tannhäuser“-Inszenierung steht die Revolution vor der Tür. Einen Teil davon erlebt man gar hautnah mit. Während der Pausenshow am Teich, wo die Venus mit Punkrock-Attitüde zum Aufruhr anzettelt – im Anhang ein Kleinwüchsiger und eine farbige Dragqueen. Mit modernem Regietheater will man anscheinend aufhalten, was überall zu beobachten ist. Der Publikumsschwund ist nicht mehr zu verleugnen. Selbst bei den Bayreuther Festspielen nicht, wo man früher jahrelang auf Karten warten musste. Die Situation in diesem Jahr: Für viele Aufführungen gibt es sogar noch Karten.
Frisches Blut soll den grünen Hügel in Wallung versetzen
Woran das liegt, da gehen die Meinungen auseinander. „Keine großen Dirigenten mehr“, hört man von einigen Seiten. Christian Thielemann, den vermissen natürlich viele. In diesem Jahr – keine Spur von ihm. Schon die Jahre zuvor hat er sich rar gemacht. Seit Katharina Wagner seinen Vertrag als Musikdirektor nicht mehr verlängert hat, gibt es zwar keine offizielle Stellungnahme zu seiner Zukunft. Hinter vorgehaltener Hand munkeln aber einige: Thielemanns Zeit in Bayreuth sei vorbei.
Stattdessen setzt man auf Newcomer. Markus Poschner soll den „Tristan“ hervorragend geleitet haben, 2022. Diese Saison ist er wieder zu Gast. Pietari Inkinen ist auch wieder dabei. Schleppend soll es gewesen sein, das konzertante Walküren-Dirigat, mit dem der Finne 2021 in Bayreuth debütiert hat. Letztes Jahr hätte er den ganzen „Ring“ leiten sollen. Coronabedingt ist er ausgefallen. Dieses Jahr gibt man ihm nochmals eine Chance.
Ansonsten einige Frauen am Pult. „Quoten-Frauen“, wie es einige gar nennen wollen. Das Gefühl, dass man hier bewusst den Frauen den Vorzug gibt, nur um mit dem Trend zu schwimmen, lässt einige nicht los. Dabei ist Oksana Lyniv bei der Kritik wohlwollend angekommen. Vor zwei Jahren hat sie schon mit dem „Fliegenden Holländer“ debütiert. Als erste Frau überhaupt am Pult im Bayreuther Graben. Dieses Jahr gibt sie da wieder das Kommando.
Die Zweite im Bunde ist nun Nathalie Stutzmann. Eine Französin, von der bislang kaum jemand etwas gehört hat. Verheißungsvoll soll sie aber sein, glaubt man dem näheren Umfeld. „Eine ehemalige Sängerin, die sehr genau weiß, was diese eben benötigen“. Das mag ja alles sehr schön klingen. Den „Tannhäuser“ leitet die 58-Jährige diese Saison. Zugpferde sind das alles aber dennoch keine. Auch nicht der Spanier Pablo Heras-Casado, der kein Wort Deutsch sprechen soll und den „Parsifal“ bislang überhaupt nur konzertant geleitet hat. Nun aber gleich eine Bayreuth-Premiere, bei seinem Hügel-Debüt.
Das Regietheater ist natürlich Schuld
Viele meinen aber sowieso, am Regietheater läge es. Das sei der Grund, warum das Publikum nicht mehr in Massen nach Bayreuth strömt. So zumindest der Konsens, wenn man mit den Leuten in Bayreuth spricht. „Ich lebe seit 8 Jahren in Bayreuth und das hat es noch nie gegeben – Tickets, die jetzt noch am freien Markt zu kaufen sind.“ Für die Dame um die sechzig herum, ist die Ursache klar. „Das Stammpublikum hat keine Lust auf diese Inszenierungen!“ Augen zu und durch, sei das Motto vieler deshalb nur mehr. Die Musik alleine würde nur noch die Vorstellung retten.
Den Einwand, man versuche damit ja nur, junges Publikum anzuziehen, will sie so nicht stehen lassen. „Die Zeit der Oper ist einfach vorbei“. Man sage zwar, die Stoffe seien zeitlos – aber: „Die Jugend interessiert sich nicht mehr für die Wurzeln. Für diese alten Geschichten. Die richtet ihren Fokus nur mehr in die Zukunft“. Da kann man eigentlich wenig entgegensetzen. Nur in die Ferne schweifen und sich fragen, wie man dort so viele Opernneulinge zu Wagner locken konnte.
Großer Publikumszuspruch im „Bayreuth des Nordens“
In Sopot, unweit von Danzig, hat man das Baltic Opera Festival reaktiviert. Treibende Kraft des Outdoor-Spektakels: KS Tomasz Konieczny, der sich mit Haut und Haar dem Schaffen Richard Wagners verschrieben hat. Seine Devise, keine komplett klassische, aber dennoch weit entfernt vom ausufernden „Regietheater“. Viel schwarz-weiß. Kaum irgendwelche Faxen. Alles recht simpel gehalten.
Mit den örtlichen Gegebenheiten schaffen, was möglich ist. Die Umgebung fließend miteinbeziehen in die Regie. Ohne dabei auf Raffinessen zu vergessen. Daland sitzt im Rollstuhl. Das Bildnis des Holländers ersetzt man durch eine Voodoo-Puppe, auf die Eric in rasender Eifersucht einsticht. Als Farbe dominiert Weiß. Das Segel, die Matrosen, die Geisterschiff-Crew, alles in Weiß. Der Holländer ebenso. Weil er „blass“ sei, wie der Tod, begründet Tomasz Konieczny seine Entscheidung. In Sopot steht er ja nicht auf der Bühne. Hier ist er künstlerischer Leiter und führt zudem Regie. Zum ersten Mal, mit der Unterstützung von Lukasz Witt-Michalowski und Barbara Wisniewska.
Das Resultat: Ein fabelhafter „Fliegender Holländer“, mit dem man die Waldbühne in Sopot beinahe voll bekommen hat. 5000 Zuschauern bietet diese überdachte Freiluftbühne mitten im Wald einen Platz. Rund 4500 dürften da bei der Premiere dabei gewesen sein, nochmals rund 2500 bei der Reprise zwei Tage danach. Eine unglaubliche Leistung. Überhaupt für ein Festival, das sogut wie zum ersten Mal stattfindet. Die große Vergangenheit ist ja schon lange vorbei.
1944 hatten die Nazis hier zum letzten Mal die Bühne okkupiert. Mit Wagners „Siegfried“, mit dem das ursprüngliche „Zopotter Waldfestspiel“ ein Ende nahm. In der jüngeren Geschichte gab es hier eigentlich nur mehr Pop, Rock und anderweitige Veranstaltungen. Nun schlägt man mit der Oper wieder zu.
Das Geheimnis des Baltic Opera Festival
Dass man daraus nun schließen könne, die Regie sei verantwortlich, warum es an manchen Orten bergab geht und anderswo steil bergauf, wäre natürlich Balsam auf der Seele vieler. Vor allem derjenigen, die den Untergang der Oper gerne dem Regietheater in die Schuhe schieben. Das ist natürlich Unfug. Die New Yorker Met bestätigt das Gegenteil. Dort sind die Zahlen auch im Sinkflug – obwohl man überwiegend auf klassische Inszenierungen setzt.
Viel eher lässt dieser Senkrechtstart in Sopot einfach nur zwei Thesen zu. Dass Opernneulinge nur über das einmalige Erlebnis zu gewinnen sind. Die gab es beim Baltic Opera Festival nämlich zuhauf. Anders lässt es sich nicht erklären, dass im letzten Aufzug zweimal heftiger Applaus aufbrandet. Ein deutliches Zeichen dafür, dass viele mit der Materie nicht vertraut waren. Oder die zweite Option: Die Menschen im Norden Polens sind einfach nur ausgehungert und sehnen sich nach Kultur. So oder so. Man kann nur hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht. Dann ist noch lange nicht aller Tage Abend.
Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 20. Juli 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Pathys Stehplatz (35) – Abschied von Teodor Currentzis? klassik-begeistert.de, 18. Juni 2023