Pathys Stehplatz (45): Trotz berechtigter Kritik an der Wiener Staatsoper sollte man die Kirche im Dorf lassen

Pathys Stehplatz (45): Trotz berechtigter Kritik an der Wiener Staatsoper sollte man die Kirche im Dorf lassen

Bogdan Roščić © Lalo Jodlbauer

Ein Blick auf den Spielplan der Wiener Staatsoper offenbart Unerfreuliches: Als Wagner-, Puccini- & Mozart-Liebhaber bleibt einem im Februar nichts anderes übrig, als das Haus zu meiden. Bis auf eine Ausnahme – „Tosca“ – liegt der Focus eher auf Belcanto und leichterer italienischer Kost. Das ist per se nichts Verwerfliches, muss und soll die Wiener Staatsoper doch ein breit gefächertes Repertoire anbieten. Bei Inszenierungen wie der von Tatjana Gürbacas biederem 1960er-Jahre „Il Trittico“-Abklatsch oder dem „Barbiere di Siviglia“ von Herbert Fritsch bleibt man aber lieber zuhause. Dennoch möchte ich eine Lanze brechen für die Wiener Staatsoper. Betrachtet man das Gesamtkonzept der Wiener Staatsoper, bleibt dieses Opernhaus weltweit ohne Vergleich.

von Jürgen Pathy

An der Wiener Staatsoper spielt man an fast 300 Tagen im Jahr, rund 60 unterschiedliche Opern, davon meist mehrere Neuproduktionen. Pro Woche stehen somit mindestens vier unterschiedliche Produktionen auf dem Spielplan. Täglich eine andere. Um das zu bewältigen, benötigt es einen ungeheuren Logistik-Apparat im Hintergrund. Mit diesem Mammutprogramm kann kein Opernhaus auf der Welt mithalten. Dass man unter diesen Voraussetzungen nicht immer musikalische Höchstleistungen liefern kann, liegt auf der Hand.

Wer da Vergleiche aus dem Hut zieht wie mit der Mailänder Scala, der lässt sich dazu hinreißen, die berüchtigten Birnen mit Äpfeln zu vergleichen. Mit seinem Semi-Stagione-System setzt man in Mailand auf ein komplett anderes Konzept. Ein bis maximal zwei Handvoll Opern pro Saison. Pro Monat eine, die an rund fünf Abenden auf die Bühne gebracht wird. Danach ist Sense. Wer so viel Zeit hat, dem bleibt natürlich genügend Spielraum, um einzelne Produktionen bis ins kleinste Detail zu zerlegen. In Wien läuft das alles anders.

An der Wiener Staatsoper steht und fällt alles mit den Wiener Philharmonikern

Für Orchesterproben bleibt an der Wiener Staatsoper kaum Zeit. Das birgt natürlich die Gefahr, dass gewisse Vorstellungen schon mal „scheppern“. Damit bezeichnen Profis den Umstand, dass die Harmonie zwischen den einzelnen Orchestergruppen aus der Balance gerät. Das spielt wiederum Dirigenten in die Hand, die kapellmeisterliche Fähigkeiten mit in den Graben führen. Dieses Modell kann man natürlich bemängeln. Es ist aber seit jeher ein Alleinstellungsmerkmal der Wiener Staatsoper. Repertoire-Programm pflegen andere Opernhäuser zwar auch, aber keines in diesen exorbitanten Ausmaßen wie das „Haus am Ring“.

Wer sich an der Wiener Staatsoper also als Dirigent in den Orchestergraben wagt, der muss mit allen Wassern gewaschen sein. Als Partner in spe stehen ihm dafür die Wiener Philharmoniker zur Seite. Ein Klangkörper, der ohne Zweifel zu den weltweit führenden Orchestern zählt. Vorausgesetzt, man weiß, an welchen Hebeln mal ziehen darf, und wo man lieber die Finger davon lässt. Wer denkt, er könne die selbstbewussten Musiker und Primgeiger mit Proben von Pontius bis zu Pilatus treiben, steht wohl auf verlorenem Posten.

Mit Christian Thielemann arbeitet man gerne zusammen. Franz Welser-Möst genießt ebenfalls ein hohes Ansehen. „Bei Thielemann stimmt einfach die Harmonie“, kann man dem ein oder anderen Musiker schon aus der Nase ziehen. „Lassen sie uns lieber über etwas Erfreulicheres sprechen“, hält man aber lieber den Ball flach, lenkt man das Gespräch in Richtung Teodor Currentzis. 2013 gab es die bislang einzige und letzte Begegnung bei der Mozartwoche in Salzburg. Seit dem Ukrainekrieg ist die Personalie Currentzis sowieso ein rotes Tuch. Dabei hatten schon Mal Gerüchte die Runde gemacht, Currentzis sei kurz vor einem Auftritt an der Wiener Staatsoper gestanden. 2020 war angeblich Purcells „The Indian Queen“ geplant. Mit musicAeterna aber, nicht mit den Wiener Philharmonikern.

Um hier auch Klarheit zu schaffen: An der Wiener Staatsoper agieren die Wiener Philharmoniker als Staatsopernorchester. Der größte administrative Unterschied: Während bei philharmonischen Konzerten einzig und alleine der Geschäftsführer bestimmt, wer als Dirigent eingeladen wird, liegt diese Entscheidung an der Wiener Staatsoper in der Hand der Direktion. Das ist zumindest der offizielle Wortlaut.

Noch lange nicht aller Tage Abend

Unter diesen außergewöhnlichen Begebenheiten, gilt es im Augenblick ein Resümee zu ziehen: Dass man an der Wiener Staatsoper in den letzten Jahren keine außergewöhnlichen Stimmen der Marke „Weltklasse“ entdeckt hat, steht außer Diskussion. Malin Byström, die Bogdan Roščić scheinbar als neuen Stern zu etablieren versucht, fehlt es an Konstanz, Wärme und Innigkeit. Freddie De Tommaso, ebenso wie vielen anderen Newcomern, an der Einzigartigkeit, am besonderen Timbre und der unverwechselbaren Stimmfarbe.

Zieht man aber in Betracht, dass Bogdan Roščić mit Alexander Soddy einen Dirigenten ins Rampenlicht gedrängt hat, der in der Lage scheint, in große Fußstapfen zu steigen, gibt es durchaus auch Erfreuliches zu berichten. Noch-Musikdirektor Philippe Jordan reißt ebenso oft zu Begeisterungsstürmen mit.

Etablierte Kräfte hat Roščić sowieso verstärkt wieder ans Haus gebunden. Christian Thielemann kehrt im April mit einer Neuproduktion von Richard Wagners „Lohengrin“ in den Graben zurück. Piotr Beczała, Anna Netrebko und Jonas Kaufmann sind regelmäßig wieder zu Gast.

Lässt man also einige der schäbigen Neuproduktionen und den „Jugendwahn“ mal außen vor, ist nicht alles so schlecht, wie manche meinen. Überhaupt, da die Wiener Philharmoniker, trotz der Mammutaufgabe fast jeden Abend im Graben zu sitzen, immer wieder für musikalische Exzellenz sorgen. Diesbezüglich sollten einige die Kirche also schon im Dorf lassen.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 17. Februar 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jürgen Pathy, Baujahr: 1976, lebt in Wien. Von dort möchte der gebürtige Burgenländer auch nicht so schnell weg. Der Grund: die kulturelle Vielfalt, die in dieser Stadt geboten wird. Seit 2017 bloggt und schreibt der Wiener für Klassik-begeistert. Sein musikalisches Interesse ist breit gefächert: Von Bach über Pink Floyd, Nick Cave und AC/DC bis zu Miles Davis und Richard Wagner findet man fast alles in seinem imaginären CD-Schrank. Zur „klassischen Musik“, wie man sie landläufig nennt, ist der Rotwein-Liebhaber und Fitness-Enthusiast gekommen, wie die sprichwörtliche Jungfrau zum Kind: durch Zufall – aber auch relativ spät. Ein Umstand, weswegen ihn ein Freund wie folgt charakterisiert: „Du gehörst zu derjenigen ideellen Art der Zuhörer, die ich am meisten bewundere. Du verbindest Interesse, Leidenschaft und intelligente Intuition, ohne von irgend einer musikalischen Ausbildung ‚vorbelastet‘ zu sein.“

Pathys Stehplatz (44): Teodor Currentzis – wer ihn verjagt, schadet der Klassik klassik-begeistert.de, 1. Januar 2024

Pathys Stehplatz (43) – Dresscode und Regietheater: Herrscht an der Wiener Staatsoper seit neuestem Sodom und Gomorra?

Pathys Stehplatz (42): Christian Thielemann – ein Maestro oder nur mehr ein Kapellmeister? klassik-begeistert.de, 15. Oktober 2023

7 Gedanken zu „Pathys Stehplatz (45): Trotz berechtigter Kritik an der Wiener Staatsoper sollte man die Kirche im Dorf lassen“

  1. Herr Pathy, ich weiß nicht, in welchem Dorf Ihre Kirche steht, aber Sie sollten unbedingt einen neuen Standort finden. Bevor Sie geboren wurden, war ich bereits in Wien und habe das „Wiener System“ in seinen besten Jahren erlebt. Obwohl Sie das „Wiener System“ akkurat beschreiben, legen Sie Wert auf QUANTITÄT, nicht QUALITÄT. Sie schreiben „rund 60 unterschiedliche Opern, davon meist mehrere Neuproduktionen“. In der Saison 2023/2024 gibt es nur 46 Opern (48, wenn man alle Werke im Trittico als Einzeloper gelten lässt) im Ganzen, von denen nur sechs Neuproduktionen in dieser Saison sind. Mit dem von Ihnen beschriebenen „Mammutprogramm“ können sehr wohl andere Opernhäusern mit einem ähnlichen System mithalten: Die Met in New York, die Royal Opera in London, die deutschen Opernhäuser in Berlin, Hamburg, z. Teil in Dresden und Zürich. Letztere zeigen womöglich nicht so viele Opern/Saison, aber in London ist täglich was los und die Met hat wöchentlich einen Schließtag, dafür aber samstags ZWEI Vorstellungen. Da Sie anscheinend erst 2017 zu bloggen begannen und Ihr erster Stehplatz erst 2021 erschienen ist, wundert es nicht, dass Sie weder Dirigenten-Genies wie Karl Böhm, Herbert von Karajan, Carlos Kleiber, Lorin Maazel oder aufblitzende – und leider früh erloschene – Sterne wie Giuseppe Sinopoli nicht erlebt haben, die für Sternstunden sorgten. Sie deuten an, dass nur Thielemann, Jordan und Welser-Möst zu denen gehören, die sich in den „Orchestergraben“ wagen, weil die Wiener Philis so angsteinflößend sind. Ein verständliches Irrtum, denn Sie haben die vielen „Kapellmeister“ nicht erlebt, die Abend für Abend den Betrieb aufrecht hielten, und das auf ausgezeichnetem Niveau: Santi, Hollreiser, Wallberg, Stein, Ferencsik, Klobučar, Fischer, Patanè, Guadagno, Märzendorfer, Weikert – um nur ein Paar zu nennen. Auch in den Jahren, als das Wiener System wirklich funktionierte, war auch nicht jede Vorstellung eine Gala-Vorstellung, aber das Niveau war im Durchschnitt weit über dem heutigen! Die sog. „Stars“ von heute wie Netrebko und Kaufmann können das sinkenden Schiff auch nicht retten. Beispiel: Aida im Januar 2023 – Netrebko viermal, nur einmal wirklich rollendeckend gesungen, und Kaufmann? Er hätte nirgends jene Rolle singen dürfen. Die Premierenbesetzung 1983: Maria Chiara und Luciano Pavarotti mit Lorin Maazel am Pult. Dass Sie aufgrund Ihres Alters das alles nicht erlebt haben, mache ich Ihnen nicht zum Vorwurf, denn Sie können genauso wenig dafür, dass Sie 1976 und ich 1945 geboren und 1969 nach Wien ausgewandert bin. Trotzdem: Weit ist die Wiener Staatsoper herabgesunken, egal in welchem Dorf Ihre Kirche stehen mag!

    1. Liebe Frau Cupps,

      Sie warten ja so ungeduldig auf Veröffentlichung Ihres Kommentars. Darf ich Sie in Zukunft bitten, Ihre Kommentare nicht unter Ihrem möglicherweise falschen Namen zu veröffentlichen. Sondern unter Ihrem richtigen Namen.

      Ein guter Kritiker, und so einer ist ohne Zweifel Jürgen Pathy, braucht übrigens nicht in den 1930er-Jahren zur Welt gekommen zu sein, um das heutige Konzert- und Operntreiben zu beurteilen. Wenn Sie gut schreiben können, lade ich Sie gerne ein, im Team von kb mitzuwirken.

      Herzlich,

      Andreas Schmidt

      1. Sehr geehrter Herr Schmidt,

        Warum glauben Sie, dass ich NICHT Sheryl Cupps heiße? Wenn Sie dafür Beweise haben, dann bitte machen Sie sie publik! Wer soll in den 1930-Jahren geboren sein. Ich doch nicht, sondern im Jahre 1945. Jede(r) hat das Recht, die Artikel von Herrn Pathy zu beurteilen. Aber wenn er gleich am Anfang eines Artikels Dinge behauptet, die nicht stimmen, z.B. „rund 60 unterschiedlichen Opern“, was so nicht der Fall ist, und dass er offensichtlich nicht gut, wenn überhaupt, recherchiert hat, sonst würde es die Gepflogenheiten in anderen Theatern kennen, darf KB es niemandem übelnehmen, wenn man darauf reagiert, wie ich dies tat. In aller Bescheidenheit meine ich, dass ich nicht schlecht schreibe, aber meine Art, den Dingen auf den Grund zu gehen, ehe ich meine Meinung kundtue, steht im krassen Gegensatz zur von Herrn Pathy gewählten Methode, die offenbar in KB gut geheißen wird. Was Kritiken über Aufführungen betrifft, ist die Meinung eines Kritikers subjektiv, die man teilen kann oder nicht. Aber wenn der Author eines Artikels argumentiert mit Zahlen und Behauptungen, die einfach nicht stimmen, ist dies nicht mehr subjektiv. Die Einladung, im KB-Team mitzuwirken, lehne ich dankend ab.

        Sheryl Cupps

    2. Vielen Dank für ihren Kommentar, Frau Cupps,

      es ist so leicht, ständig draufzuhauen. Inszenierung „a Dreck“, Dirigenten schwach, die Wiener Staatsoper steht vor dem Untergang. Diese Hiobsbotschaften bekomme ich ständig um die Ohren geschleudert. Es gibt aber auch eine andere Fraktion. Die sind begeistert von den Neuproduktionen. Die lieben Kaufmann. Auch wenn er „keinen Siegfried mehr singen wird“, wie selbst seine größten Fans einem schon pointiert unter die Nase reiben.

      Deshalb ist es mir ein Anliegen, auch mal zu erwähnen, dass die Wiener Staatsoper unvergleichlich ist. Dass sie ein unglaubliches Angebot liefert. Mit Bundestheatercard und „Standhaftigkeit“ um einen Spottpreis sogar. Ich war noch nicht in New York. Soll nicht so der Burner sein, glaubt man manch jungen Stimmen. Wien ist und bleibt Wien. In München hatte man auch ein großes Repertoire. Musste man etwas kürzen, seit Serge Dorny dort die Intendanz übernommen hat, habe ich gehört. Bei den anderen deutschen Häusern bezweifle ich, dass die mit Wien mithalten können.

      Die Berliner Staatsoper kann schon rein atmosphärisch der Wiener Staatsoper nicht das Wasser reichen. Ein sehr „unterkühltes“ Haus, während die Wiener Staatsoper unheimlich viel Wärme ausstrahlt. Hamburg? Liest man die Berichte, die Andreas Schmidt, der Herausgeber, hier ab und zu verfasst, scheint das Haus so gut wie vor der Beerdigung zu stehen. Schau ma mal, ob Tobias Kratzer und Omer Meir Wellber das Ruder herumreißen können.

      London? Schön und gut, keine Ahnung. Ist weit weg von Wien. Dort ist alles möglich. Betrachtet man die Eichhörnchen, die dort wie Rambos aussehen, dass sie auf der linke Seite mit den Autos fahren, traue ich denen alles zu. Die sind etwas anderes auf der großen Insel.

      Wien hat eine harte Kritik verdient. Bogdan Roščić soll ruhig täglich eine imaginär über den Scheitel ziehen. Dennoch, darf man nicht vergessen: Er hat das Schiff durch extrem turbulente Zeiten gelenkt. Ist noch nicht lange her, dass Corona gewütet hat und fast die Oper von der Bildfläche gelöscht hat. Andere Häuser haben sich da nicht so rasch erholt, was ich so lese. In New York hat man die Bude zuvor ja oft nicht mal annähernd voll bekommen, selbst, wenn alle Zugpferde am Programm standen wie Kaufmann, Garanča & Co. Klar, das Haus hat mit seinen rund 4000 Plätzen ein anderes Fassungsvermögen.

      Bei all der berechtigen Kritik also. Die Wiener Staatsoper hat auch ein wenig Liebe verdient. Ob die neue Windrichtung, das Schiff zu neuen Höhenflügen leiten wird, ist fragwürdig. Die Zukunft wird es weisen. Aktuell ist die Bude wieder ziemlich voll. Auch wenn das nicht ja nicht der Parameter sein sollte, ob Kunst relevant sei oder nicht. Waren ja sogar Bogdan Roščićs Worte bevor er die Intendanz angetreten hat. Ich möchte dieses Opernhaus dennoch gegen kein anderes auf dieser Welt eintauschen. Nicht gegen Berlin, München, Neapel oder Bayreuth – alles bedeutende Opernhäuser, in denen ich schon Gast sein durfte. Ich bezweifle auch stark, dass ich die Wiener Staatsoper gegen das Royal Opera House oder die New Yorker Met tauschen würde. Wien ist mein Wien und bleibt mein Wien!

      Jürgen Pathy

      1. Sehr geehrter Herr Pathy,

        Auf Diskussionen über Sänger/innen gehe ich nicht ein, denn DAS ist bestimmt das subjektivste Gebiet rund um die Oper überhaupt! Jede(r) hat ihren/seinen Gartenzwerg, den sie/er hegt und pflegt.

        Was mir in Ihrer Antwort auffällt, ist dass Sie sich allzu sehr auf Wien konzentrieren und sich, was andere Opernhäuser betrifft, auf Hörensagen bzw „Hörenschreiben“ verlassen, wie folgende Phrasen untermauern: habe ich gehört; was ich so lese; war noch nicht in New York (Soll nicht so der Burner sein, glaubt man manch jungen Stimmen.); bezweifle ich, dass die mit Wien mithalten können; London (ist nur ein paar Stunden mit dem Fliegen entfernt und es ist egal, ob man dort links oder rechts fährt!) … keine Ahnung; Hamburg … liest man die Berichte … scheint das Haus so gut wie vor der Beerdigung zu stehen (wann, wenn überhaupt, waren Sie in Staatsoper Hamburg?) Wenigstens geben Sie Ihren Mangel an Erfahrung ehrlich zu, aber an Ihrer Stelle würde ich davon Abstand nehmen, Urteile ohne persönliche Ortskenntnisse in Ihre Berichte zu übernehmen.

        Auch zu einem Zeitpunkt, als das Wiener System perfekt funktionierte, war ich unterwegs, um zu erleben, wie die Oper als Genre anderswo gepflegt wurde. Ich werde Sie nicht mit 55 Jahren Weltreisen langweilen, nenne also nur die von mir seit meiner Pensionierung 2001 besuchten Theater: Salzburg Festival (Sommer), Hamburg, Paris (Opéra Bastille), Zürich, Brünn, München (Staatsoper), Florenz, Santander, Oviedo, Sevilla, Jerez, Athen (Megaron und National Opera), Amsterdam, Berlin (Staatsoper, Komische Oper und Deutsche Oper), Madrid, Valencia, Ravenna, Málaga, Barcelona, Bari, Neapel, Triest, Verona (Arena und Teatro filarmonico), Tokio (New National Theater), New York (Met), Frankfurt, Lissabon, London (Royal Opera Covent Garden), Washington, D.C., Bologna, Dresden, Stuttgart, Kopenhagen, Mailand, Los Angeles, Turin, Brüssel, und Wien (Theater an der Wien, Volksoper)… Ich glaube, das reicht schon um zu demonstrieren, dass, wenn ich Vergleich ziehe, geschieht dies allein aufgrund persönlicher Live-Erlebnisse. Ich gebe zu bedenken: Nicht nur Opernintendanten wurden durch COVID eingeschränkt, sondern auch meine Reisetätigkeit!

        Mit Absicht habe ich meine einmalige, jedoch interessante Erfahrung in Budapest ausgelassen, denn sie stammt aus dem Jahr 1977, möchte sie trotzdem gesondert beschreiben. Eine Traviata im Erkel Theater auf ungarisch… Für jede Phrase auf italienisch benötigte man offenbar mindestens 6-10 zusätzliche Silben auf ungarisch, was den Fluss der Musik nicht gut bekam. Merkwürdiger Fall…

        Ende 2023 hörte ich eine tolle Aufführung von Barbiere di Siviglia in der Semperoper Dresden, in einer Inszenierung von Asagaroff, der jahrelang in Wien tätig war, die mich an die „guten alten Zeiten der Wiener Staatsoper“ erinnerte. Die von Ihnen angesprochene „unheimlich viel Wärme“ der Wiener Staatsoper mag gefehlt haben, aber das Engagement aller dort Beteiligten hat einen solchen theoretischen Mangel vergessen lassen. Die Atmosphäre eines Opernhauses soll m.E. von der Bühne und dem Orchestergraben stammen, nicht von den Wänden oder Saalbeleuchtung.

        In einem Punkt sind wir jedoch einig: Wien ist mein Wien und die Wiener Staatsoper ist MEINE Oper. Ausgerechnet deswegen tut mir der Verfall im Herzen weh!

        Sheryl Cupps

  2. Liebe Frau Cupps,

    Man muss sich jedoch der Frage stellen: Was ist Verfall, und ist der nicht nur rein subjektiver Natur?

    Als Kind der 90er-Jahre, der mit Love Parade und grellen Farben sozialisiert wurde, habe ich vermutlich ein anderes Ästhetik-Verständnis wie Sie. Barrie Kosky haut mich teilweise vom Hocker.
    Sein Wiener „Don Giovanni“ ist mit das Aufregendste, was ich je erlebt habe. Inszenierungen wie die von Tatjana Gürbacas „Il trittico“ lassen mich hingegen kalt. Die leben von einem biederen Bühnenbild aus Holz, das leider in Mode scheint. Und von Kostümen mit speziellen Farbtönen. Das widerstrebt meinem persönlichem Empfinden für Ästhetik. Personen, die noch früher sozialisiert und aufgewachsen sind, werden womöglich mit beidem nicht zurecht kommen. Das ist immer in Betracht zu ziehen. Um das zu erkennen, erfordert es, auch Mal die Perspektive zu wechseln.

    So unerfreulich es nämlich auch sein mag: Da Bogdan Roščić den Auftrag hat, das Publikum deutlich zu verjüngen, könnte er mit seiner Linie durchaus auf dem richtigen Weg sein. Bieder, minimalistisch, Art Deco ist ja der letzte Schrei unter der kulturell interessierten Jugend. Teils stehen sie gar wieder auf den 80er-Retro-Schick, mit viel Kitsch und „Vokuhila“. Ob man das mag oder nicht, die Hipster pflegen genau diesen Lebensstil. Dass man damit Teile einer Generation vergrault, die anderes gewohnt sind, steht außer Diskussion. Mir sind einige Inszenierungen ebenso ein Dorn im Auge. Zahlen, ob sein Plan aufgeht, muss er noch liefern. Das hat er nicht. Sollten die aber positiv sein, ist dieser Punkt auf jeden Fall zu berücksichtigen!

    Was Sie in puncto Dirigenten ansprechen, hat eigentlich nichts mit dem Standort Wiener Staatsoper zu tun. Böhm, Karajan & Co. sind der Vergangenheit anzurechnen. Die sind tot. Die stehen also in New York, Berlin oder Barcelona auch nicht mehr auf der Bühne. Natürlich hat New York mit Nézet-Séguin einen anderen Musikdirektor als Wien mit Jordan oder Hamburg mit Nagano.

    Alle gehört zu haben, um zu erkennen, ob etwas erstklassig ist oder nicht, halte ich für eine falsche Annahme. Personen prahlen zwar gerne mit Zahlen, um damit ihre Kenntnisse zu untermauern. Ein Mensch, der ein außergewöhnliches Gespür für Atmosphäre, Musik und Harmonie hat, der benötigt das nicht unbedingt. Der erkennt auf Anhieb, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. Ohne überheblich wirken zu wollen: Selbst ohne die „Salome“ bereits zigmal live erlebt zu haben, hätte ich beim ersten Mal erkannt, dass Philippe Jordans Dirigat außergewöhnlich war. Das nennt man Begabung, kluge Intuition und Feingefühl. New York und Covent Garden benötigt man dazu nicht!

    Die Behauptung, Thielemann und Welser-Möst wären die einzigen, die sich in den Graben der Wiener Staatsoper wagen, haben Sie nicht korrekt interpretiert. Da legen Sie mir Falsches in den Mund. Die Wiener Philharmoniker arbeiten mit einigen gerne zusammen. Das ist der Punkt!

    Es freut mich, dass wir zumindest mit einer Aussage auf einer Linie sind: Die Wiener Staatsoper bleibt UNSER Haus. Hoffen wir, dass das nach Bogdan Roščić auch so sein wird.

    Liebe Grüße
    Jürgen Pathy

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