Pathys Stehplatz 59: Wer versteht schon Anton Bruckner?!

Pathys Stehplatz 59: Anton Bruckner?!  klassik-begeistert.de, 10. September 2025

Franz Welser-Möst, Wiener Philharmoniker, WM © Terry Linke

Manchmal sollte man vielleicht besser schweigen. Ich geb’s zu: Ich habe Bruckner noch nie verstanden. Nachdem ich das Große Festspielhaus in Salzburg verlassen hatte, sind die Fragezeichen nicht kleiner geworden. Bruckners Neunte ist harter Tobak, das ist nichts für zarte Gemüter. Bei Franz Welser-Möst und den Wiener Philharmonikern ist sie: ein einziger Hilfeschrei!

von Jürgen Pathy

In Salzburg sind Konzertkarten nicht gerade günstig. Hätte ich die Pressestelle im Vorfeld kontaktiert, wären Tickets für die Sonntags-Matinee mit den Wiener Philharmonikern vermutlich einzutüten gewesen. Nur: Bruckner ist Fremdland, den wollte ich nicht anfassen, schon gar nicht seine Neunte, nicht in Salzburg. Nachdem ich aber schon die Nacht in Salzburg verbracht hatte, um Teodor Currentzis zu folgen, hat es einfach irgendwie gejuckt. Also: Kaffee runter, rein in den Bus, hinab zum Festspielgelände.

Es ist 10:30 Uhr morgens, an der Tageskasse gibt es nur noch Restkarten. Teuerste Kategorie, eh klar, 240 Euro also. Handeln ist sinnlos. Dass selbst die Wiener Staatsoper Tickets am Vorstellungstag teilweise günstiger verkauft, interessiert den jungen Herrn an der Kasse nicht. „Nein, keine Chance, klare Vorgaben von oben“, also zücke ich meine American Express Karte, Bäm, 240 Euro weniger. Natürliche Auslese – das unterstreicht die Exklusivität der Salzburger Festspiele nochmals, die mit einer Auslastung von über 98 % positiv einen Strich unter die Saison 2025 gezogen haben.

Barometer des Erfolgs bei den Wiener Philharmonikern

Wie man Erfolg bei den Wiener Philharmonikern misst, gilt es noch zu ergründen. Vielleicht schon bald, nachdem Geschäftsführer Michael Bladerer einem Gespräch nicht abgeneigt scheint. Bis 16. September 2025 sind die Wiener Philharmoniker noch auf Tournee mit Franz Welser-Möst. „Können wir einen Termin zeitnah danach vereinbaren?“, zeigte sich der Niederösterreicher, der seit 2002 am Kontrabass bei den Wiener Philharmonikern spielt, sehr offen für ein Gespräch.

Ob Bruckner ein Thema wird, steht in den Sternen. Dessen Neunte hatte ich gestern aber ausgiebig studiert, zerlegt und von vorne bis hinten umgedreht – am Klavier, mit Klavierauszug zur Hand, samt Vollprofi und Bruckner-Kenner zur Seite. Denn eines hatte mir die Vergangenheit schon gezeigt: Wenn ich nicht weiter weiß, hilft meistens ein Perspektivenwechsel. Das hat sich schon bei Beethovens Streichquartetten und Symphonien bewahrheitet, bei Bruckner ist es nicht anders. (Ein Tipp: Beethoven-Transkriptionen fürs Klavier mit Glenn Gould; Lenny Bernsteins Transkription von Beethovens Streichquartett in cis-Moll fürs Orchester!)

Bruckner spendet keinen Trost

Die Conclusio gleich vorweg: Bruckner spendet keinen Trost. Wer sich in einen Konzertsaal setzt, mit der gleichen Erwartung wie bei Beethoven, Mahler, ja sogar wie bei Schostakowitsch – der wird eines erleben: eine herbe Enttäuschung. Anton Bruckner gibt diesbezüglich wenig bis nichts her. Kaum ein langer durchgehender Fluss in der Musik, ein ständiger Sprung in den Harmonien, rauf und runter, laut und leise – alles wechselt abrupt ohne lange Vorbereitungszeit. Zumindest bei der Neunten, die Achte ist nicht viel anders, die Fünfte auch nicht. Jedes „Thema“ setzt plötzlich ein, ohne jeglichen Anhaltspunkt oder Bezug zum Vorhergehenden – und Melodien enden nie ausladend in einer Schlusskadenz, sondern fallen steil bergab.

Man könnte denken: Diese Melodiefetzen mit Spannung zu vereinen, sei unmöglich. Franz Welser-Möst und die Wiener Philharmoniker bestätigen diese Annahme an diesem Sonntagvormittag nur. Laut und leise, flüstern und schreien, dazwischen wenig differenzierte Abstufungen. So etwas wie ein Gesamtbild, ein Bogen von A bis Z, wird mir nicht ersichtlich.

Celibidache und Karajan sind der Maßstab

Hört man jedoch Aufnahmen von Celibidache oder Karajan, zeigt sich ein anderes Bild. Bruckners Neunte kann doch vor Intensität, vor Spannung beben. Vor allem nach dem Hören des Klavierauszugs, der eine komplett neue Sichtweise über die Neunte aufreißt. Wagners „Rheingold“, Beethoven, ja sogar impressionistische Züge wie bei Ravel und Debussy sind erkenntlich. Obwohl Bruckner eines war – Expressionismus pur, ein Greis, der aus seiner mentalen Gefangenschaft nicht fliehen konnte. Vermutlich der Ärmste unter all den wirren Genies. Einer, der musikalisch nur in Hauptsätzen gesprochen hat. Wie ein Schulkind. Subjekt, Prädikat, Objekt. Punkt. Das allerdings auf höchstem Niveau.

Daraus eine spannende Geschichte zu bauen, die über eine Stunde fesselt, wie bei der Neunten, ist nicht nur absolute Meisterkunst. Es benötigt auch den unabdingbaren Willen der Musiker. Aufstehen, Mund abwischen, den Berg hoch, rumps – Absturz in ein Loch – und alles wieder von vorne. Das ist Bruckners Musik. Dazu benötigt es Musiker, die frisch sind, voller Biss, die brennen. Nach einer langen Saison könnte es den Wiener Philharmonikern genau daran gemangelt haben.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 8. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst, Dirigent Salzburger Festspiele, Großes Festspielhaus, 30. August 2025

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