Gabriel Venzago, Generalmusikdirektor des Staatstheater Mainz / Chefdirigent des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz © Andreas Etter
Wenn an diesem Abend ein Versprechen lag, dann das: Mainz hat einen Dirigenten, der die Fähigkeit besitzt, das Publikum an die Hand zu nehmen, ihm musikalische Geschichten zu erzählen und dabei die Balance zwischen Intellekt und Gefühl mit sicherer Hand zu halten. Man verließ den Saal mit dem Eindruck, dass hier nicht nur ein Konzert stattgefunden hatte, sondern eine erste Seite einer neuen Kapitelüberschrift aufgeschlagen worden war – und das Ganze mit einem dezenten Augenzwinkern, das sowohl Anspruch als auch Zuneigung signalisierte.
Aaron Copland
Fanfare for the Common Man
Ludwig van Beethoven
Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21
Wolfgang Amdeus Mozart
Exsultate, jubilate KV 165
Joan Tower
Fanfare for the Uncommon Woman Nr. 1
Sergej Rachmaninov
Sinfonische Tänze op. 45
Philharmonisches Staatsorchester Mainz
Alexandra Samouilidou, Sopran
Gabriel Venzago, musikalische Leitung
Staatstheater Mainz, 13. September 2025
von Dirk Schauß
Manchmal beginnt eine neue Ära nicht mit feierlichen Worten, sondern mit einem Paukenschlag. Am 13. September 2025 im Staatstheater Mainz war es der Schlag auf die große Trommel, der die Fanfare für den „Common Man“ eröffnete – und zugleich das Einstandskonzert von Gabriel Venzago, dem neuen Generalmusikdirektor.
Schon in diesen ersten Takten verriet er, worauf sich Mainz einstellen darf: kein höfliches Abspielen des Repertoires, sondern eine energiegeladene, klangfarbenreiche Erzählweise, die das Philharmonische Staatsorchester zu einem atmenden, agierenden Organismus formte. Von Copland bis Rachmaninow spannte Venzago den Bogen, und er tat es mit einer Klarheit und Leidenschaft, die keine Sekunde dem Zufall überließ.
Gabriel Venzago trat gleich in den ersten Takten als derjenige hervor, der er sein sollte: ein Erzähler am Pult, der mit eindeutigem Gestus und ausgeprägtem Sinn für Klangfarben ein Orchester formte, das an diesem Abend seine Stimme selbstbewusst und fein austariert erhob.
Das Philharmonische Staatsorchester Mainz spielte unter seiner Leitung mit bemerkenswerter Geschlossenheit; die Streicher zeigten eine polierte Einheit im Legato und feiner Artikulation, die Phrasen gewannen organische Atemzüge, die Holzbläser zeichneten Konturen mit glitzernder Präzision, und die Blechbläser waren jederzeit bereit, den Klangraum mit monumentalem Druck zu erfüllen, ohne die Kontur zu verlieren. Das groß aufspielende Schlagzeug war ein wichtiger Impulsgeber. Venzago leitete mit einer Mischung aus opernhaftem Formbewusstsein und orchestraler Raffinesse: seine Gestik war ökonomisch, aber zwingend, seine Tempowahl durchdacht, seine Phrasierung sängerisch orientiert — ein Dirigentenbild, das sich durch das ganze Programm zog und dem Orchester erlaubte, nicht nur Töne zu produzieren, sondern Handlungen zu erzählen.

Die Eröffnung mit Aaron Coplands „Fanfare for the Common Man“ setzte den ersten markanten Fingerabdruck von Venzagos Dirigat: Hier trat die Blechbläser-Gruppe nicht nur als Signalgeber auf, sondern als artikulierender Chor, dessen Intervalle in klar gesetzten Atemstößen erklangen. Die Musiker agierten in räumlich verteilter Aufstellung, d.h. die Trompeten waren im zweiten Rang, die Hörner im ersten Rang postiert, die übrigen Kollegen auf der Bühne. Die ersten Schläge der Pauken und der großen Trommel lagen wie Fundamentsteine; die Trompeten intonierten mit scharfem Glanz, die Posaunen und Tuba gaben dem Thema eine dunklere, beinahe erdige Gravitas.
Venzago entzog der Fanfare jede schlampige Heroik; stattdessen gestaltete er die Wiederholungen als wachsende Episoden, in denen die Dynamik nicht nur lauter, sondern dichter wurde. Die berühmten offenen Quinten und Quarten hatten bei ihm nichts Automatistisches; sie breiteten sich wie eine klare Landschaft aus, deren Weite durch feines Abebben an den Phrasenenden konstituiert wurde. Das Resultat war eine fassbare Präsenz: der Klang des Saals verwob sich mit dem Atem der Blechbläser, der Ton glühte auf, machtvoll und doch menschlich, und das Publikum wurde sogleich auf eine Reise eingestimmt, die nichts anderes wollte, als Geschichten zu erzählen.

In Beethovens Sinfonie Nr. 1 zeigte sich Venzagos Fähigkeit, klassizistische Transparenz mit unmittelbarer Dramatik zu verbinden. Die Adagio-Einleitung wurde breit und mit der nötigen Schwere artikuliert; Venzago nahm ihr Raum, ließ Akkordanschläge atmen, bevor das Allegro mit einem federnden, aber niemals hastigen Puls einsetzte.
Das Orchester präsentierte die Klassik als lebende Form: Staccati waren scharf konturiert, Legatobögen kantabel gezogen, und die Tempi gaben jeder thematischen Wiederkehr eine neue Farbe. Besonders eindrücklich war die Arbeit der Streicher: ihre Artikulation war präzise, gleichzeitig sang die Linie ohne künstliche Schärfe. Die Holzbläser spielten Soli, die mehr als bloße Expositionen waren; jedes Motiv wurde verbalisiert, als spräche ein Charakter. In den Piano-Passagen des Entwicklungsteils öffnete das Orchester Farben an den Rändern: die Cellostimme zeigte eine leicht rauchige Färbung, während die oberen Streicher in höheren Lagen eine silbrig schimmernde Brillanz entfalteten.
Venzago entschied sich für wenige, aber markante Ritardandi an strategischen Stellen; diese Atempausen gaben dem Satz Dramaturgie, sodass das Finale als triumphaler, klar gefasster Schlusspunkt wirkte. Seine Interpretation legte die Keckheit und die noch nicht vollständig gebändigte Experimentierlust des jungen Beethoven frei, ohne historische Stilisierung zur Pose zu machen. Herrlich trumpften Trompeten und die markante Pauke auf. Das war ein vorzüglicher Beethoven, ruppig mit Ecke und Kante, dazu immer wieder mit musikalischem Schalk einhergehend. Begeisterung!
In einer kurzen sehr persönlichen Ansprache stellte sich Venzago dem Publikum vor, sympathisch und ungekünstelt. Die Chemie zwischen ihm und dem Orchester stimmt. Und so war es leicht für ihn, seinen Charme und Enthusiasmus auf die Mitwirkenden zu übertragen.
Mozarts „Exsultate, jubilate“ brachte den Abend in eine andere Sphäre; hier rückte Alexandra Samouilidou als Solistin ins Zentrum und lieferte eine Darbietung, die technische Sicherheit und gediegene Innigkeit verband. Samouilidous Koloratursopran überzeugte durch eine klare Höhe, die ohne Schärfe glitzerte, und durch eine Mittellage, die Wärme und Substanz besaß. Ihre Verzierungen wirkten nie dekorativ um ihrer selbst willen; jede Kadenz ergab sich aus dem Atem der Phrase und stand dramaturgisch im Dienste des Textes. Die Intonation blieb auch in den riskantesten Sprüngen unerschütterlich. Die Art, wie sie das berühmte „Alleluia“ ansetzte, gelang ihr in feiner Abstimmung: der Ton schwebte, dann glühte er auf, und in der Nachschwingzeit blieben Obertöne wie kleine Lichter im Raum hängen.

Venzago begleitete sie mit einer empathischen Zurückhaltung; das Orchester der Begleitung machte an keiner Stelle Konkurrenz, sondern malte zarte Farben aus Holzbläsern und Streichern, die schimmerten. Besonders berührend war die Interaktion im Rezitativ: ein leiser Dialog zwischen Orchester und Stimme, in dem Samouilidou Phrasierungen mit einer opernhaften Dringlichkeit versah, ohne theatralisch zu werden. Ihre Artikulation des Textes war deutlich, die Phrasen hatten Kantabilität, und die improvisatorisch wirkenden Verzierungen in den Kadenzen zeigten eine souveräne Stimmführung.
Die zweite Fanfare des Abends, Joan Towers „Fanfare for the Uncommon Woman Nr. 1“, setzte einen modernen Kontrapunkt zu Copland und erwies sich als kluger Programmgedanke: Tower nahm die Idee der Fanfare auf und verwandelte sie in eine scharf konturierte Aussage, deren rhythmische Ecken Venzago mit kerniger Präzision herausarbeitete. Die Blechbläser attackierten mit geschärfter Kante, die Schlagzeuger fügten stoßartige Akzente hinzu inkl. spektakulärem Paukensolo, und die harmonischen Spannungen ließen die Ohren aufhorchen — hier war weniger Weite als Verdichtung gefragt. Die Dynamik verlief in extremeren Bahnen als bei Copland; plötzlich wurde der Raum kleiner, dichter, die Klänge bündelten sich zu impulsiven Ausbrüchen.
Diese Gegenüberstellung erhöhte die Wirkung beider Werke: Coplands nobler Atem und Towers unmittelbare, aufgeladene Durchschlagskraft standen in einem ironischen Dialog, und Venzago ließ die Spannung zwischen ihnen als programmatischen Kommentar wirken.
Der Abschluss mit Rachmaninows „Sinfonischen Tänzen“ op. 45 bildete den emotionalen und klanglichen Höhepunkt des Abends. Venzago setzte auf große Bögen und detailreiche Feinarbeit zugleich: Die einleitenden Motive erschienen wie aus dem Dunkel gegraben, mit einem schweren, aber niemals trägen Bassfundament; die wiederkehrende „Dies-Irae“-Zelle war als düsterer Fingerabdruck präsent und wurde vom Orchester in immer neuen Schattierungen entfaltet.
Besonders eindrucksvoll war die kumulative Arbeit der Streicher: in den chorischen Abschnitten ertönten diese tief und satt, in den tänzerischen Episoden glänzten sie perlend und leicht. Die Holzbläser brachten feine, solistische Farben ins Spiel — eine Klarinette, die mit herbem Ton eine melancholische Melodie vortrug; ein Englischhorn, das beschwörende Klänge beitrug, dann das Saxophon mit seinen exotischen Farben –, während die Blechbläser in den dramatischen Zuspitzungen monumental wirkten. Die Rhythmik der Tänze wurde von Venzago präzise geformt: die Synkopen atmeten, die akzentuierten Einsätze hatten Messerschnitt, und doch blieb der Fluss erhalten, sodass die Tänze nicht fragmentierten, sondern narrative Episoden bildeten.
In den Passagen, in denen Rachmaninow an frühere Werke erinnerte, öffnete das Orchester Farben, die an Filmdramaturgie grenzten – Nostalgie, die nicht zur Sentimentalität kippte, sondern in anrührender Klarheit stand. Die Schlusssektion, in der sich alle Kräfte bündelten, verwandelte sich unter Venzagos Führung in eine Klangkathedrale: ein gewaltiger, organischer Block, der zugleich transparent blieb; die Dynamik stieg zur Apotheose, und der Nachhall des Saals nahm die letzten Obertöne wie ein Echo auf, das noch lange im Körper nachwirkte. Hier hatten auch die intensiv geforderten Schlagzeuger ihre großen Momente.

Das Publikum reagierte mit lang anhaltendem, lebhaftem Beifall; die Art der Ovationen spiegelte die Anerkennung für ein Ensemble, das an diesem Abend nicht nur technisch überzeugte, sondern eine gemeinsame Sprache gefunden hatte. Alexandra Samouilidou erhielt Bravo-Rufe, wie auch Venzago der mit hörbarer Sympathie und Respekt verabschiedet wurde.
Im Fazit zeigte dieser Einstand, was Venzago als Generalmusikdirektor einbringen kann: eine programmatische Kühnheit, die in der Lage ist, unterschiedliche Stile zu verbinden, und eine dirigentische Handschrift, die dramatische Logik mit klanglicher Delikatesse vereint. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz präsentierte sich als formidabler, flexibler Klangkörper mit weiter Farbpalette.
Wenn an diesem Abend ein Versprechen lag, dann das: Mainz hat einen Dirigenten, der die Fähigkeit besitzt, das Publikum an die Hand zu nehmen, ihm musikalische Geschichten zu erzählen und dabei die Balance zwischen Intellekt und Gefühl mit sicherer Hand zu halten. Man verließ den Saal mit dem Eindruck, dass hier nicht nur ein Konzert stattgefunden hatte, sondern eine erste Seite einer neuen Kapitelüberschrift aufgeschlagen worden war – und das Ganze mit einem dezenten Augenzwinkern, das sowohl Anspruch als auch Zuneigung signalisierte.
Dirk Schauß, 14. September 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Arthur Honegger & Jacques Ibert, L’Aiglon Staatstheater Mainz, 2. Februar 2025