Fotos © Sofia Opera and Ballett
Richard Wagner
Die Walküre
Plamen Kartaloff, Inszenierung
Evan-Alexis Christ, musikalische Leitung
Sofia Opera und Ballett, 29. Juni 2025
von Dirk Schauß
Am Rande des Kosmos, wo Licht und Schuld sich begegnen, setzte sich am 29. Juni 2025 im Opernhaus Sofia Wagners Weltentheater fort – mit „Die Walküre“, jenem Werk, das das Menschlichste im Göttermythos berührt.
Nach dem farbsymbolischen Auftakt mit „Rheingold“, das wie ein leuchtender Urschrei in das Schöpfungsdunkel hallte, öffnete sich nun ein anderer Raum: wärmer, schmerzhafter, von Liebesopfern durchpulst. Die Metaphysik wich der Intimität, der Mythos der Emotion. Plamen Kartaloffs Regie ließ diesen Übergang spürbar werden – in Bildern, die nicht erzählen wollten, sondern sich erinnerten, tasteten, aufbrachen.
Schon der Beginn war von bedrückender Intensität: In der berühmten Sturmmusik hob sich der Vorhang zunächst nur einen Spalt, durch den zahlreiche, hastig fliehende Beine sichtbar wurden. Kein Held trat heroisch auf, sondern ein Gejagter – Siegmund, verwundet, atemlos, verfolgt von unsichtbaren Feinden. Es war ein Moment von erschütternder Körperlichkeit, der das Existentielle dieses Abends gleichsam vorwegnahm.
Wie bereits im „Rheingold“ entfaltete Kartaloffs Regie auch hier ihre suggestive Kraft durch Erinnerung statt Illustrierung – ein szenischer Bewusstseinsstrom zwischen Traum und Geschichte. Der Raum war nicht bloß Bühne, sondern Gedächtnis – mit Komparsen, die im Hintergrund das berichtete Geschehen szenisch spiegelten, wie Traumreste, wie Erinnerungen eines kollektiven Unbewussten. Wenn Siegmund seine bewegende Geschichte schildert, erscheinen schemenhaft die Gesichter, die er verloren hat. Wenn Wotan spricht, taucht sein jüngeres Ich im Halbdunkel auf, Bilder der Vorgeschichte, überflutet von der Flamme seiner einstigen Hybris. Es sind Momente, die tief unter die Haut gehen – nicht erklärend, sondern fühlend, eine szenische Polyphonie von Erzählung und Erinnerung.
Das Bühnenbild von Hans Kudlich variierte atmosphärisch und symbolisch: Im ersten Aufzug dominierte links eine stilisierte Hütte in geometrischer Dreiecksform, verbunden durch einen Steg mit dem übrigen Bühnenraum – ein Ort zwischen Schutz und Isolation. In den Aufzügen zwei und drei rückten wieder die Triskel-Formen in den Mittelpunkt, wie schon im „Rheingold“: diesmal in wechselnden Anordnungen, mal flächig, mal labyrinthartig, schließlich loderten sie wie ein flammender Wall – als Wotans Falle und Brünnhildes Feuerschrein.
Die visuelle Gestaltung folgte dem Farbenrausch des „Rheingold“ mit logischer Konsequenz: das Blau der Einsamkeit. Besonders eindrucksvoll: Brünnhildes Auftritt zu Beginn des zweiten Aufzugs. Hoch zu Ross, auf dem mythischen Grane, stürmte sie mit flammendem Blick in die Szene und schmetterte ihren Schlachtruf – nicht als Schrecken der Helden, sondern als Inkarnation göttlicher Entschlossenheit. Die Lichtgestaltung von Andrej Hajdinjak arbeitete erneut mit subtiler Expressivität – als würde jede Farbe eine emotionale Textur repräsentieren.
Evan-Alexis Christ formte auch an diesem Abend mit dem Orchester der Nationaloper Sofia einen Klangraum von atmender Weite, dramaturgischer Präzision und struktureller Klarheit. Wo er im „Rheingold“ die Urkräfte der Welt in klingende Bewegung übersetzte, ließ er nun Gefühle, Sehnsüchte, innere Kämpfe mit feinsten Mitteln hörbar werden. Sein Dirigat war erzählend durchdrungen, ohne je plakativ zu wirken: Er reagierte auf Bühne, Stimmen, Gesten, auf das Unausgesprochene im Orchester. Die Tempi waren fließend, von organischer Dynamik getragen.
Christ nahm das Orchester verschiedentlich sehr weit bis ins Pianissimo zurück, um dann in eruptiven Momenten große Steigerungen zu realisieren. Besonders in der Todesverkündigung baute sich ein musikalischer Bogen von seltener Eindringlichkeit auf – nicht grell oder effekthascherisch, sondern glühend von innen her, mit einem silbrigen Schimmer der Harfen über der Schmerzlinie des Orchesters. Die dynamische Balance zwischen Klangaufbau und innerer Ruhe gelang ihm mit traumwandlerischer Sicherheit. Der Walkürenritt wurde endlich einmal zur martialischen Schlachtenmusik, ohne derb zu lärmen. Wie groß war der Kontrast dann im großen Vater-Tochter-Duett, das in einer atemraubenden Dichte von Zartheit und innerem Konflikt erzitterte. Hier zauberten die sensiblen Holzbläser impressionistische Melancholie, die Streicher artikulierten kantabel, glühten in gedecktem Rot. Die Hörner mit feinen Blüten an der Schwelle zum Fortissimo, die Wagnertuben in düsterem Bronze – der ganze Apparat atmete. Die Kontrabässe grundierten weich, mit existenzieller Schwärze. Die Pauken – konturiert, atmend, nie bloß punktierend – gaben rhythmische Fundierung ohne martialische Härte.
Christ bewährte sich einmal mehr als vorzüglicher Operndirigent. Sein Gefühl und der treffsichere Theaterinstinkt machen ihn zum großen Gewinn für diese Tetralogie. Sein Erfolg spiegelte sich in der Hingabe des Orchesters, das sich – aufmerksam, flexibel, transparent – zu einem einzigen atmenden Instrument formte. Das Zusammenspiel war dabei nicht bloß korrekt, sondern voller inspirierter Klanglust – durchhörbar bis ins kleinste Detail. In den zahlreichen Soli – etwa der Klarinette in Sieglindes Vision oder der Hornführung bei Wotans Abschied – offenbarte sich ein Ensemble mit starker individueller Qualität und kollektiver Disziplin.
Im Zentrum dieser „Walküre“ stand ein Sängerpaar, das als Idealbesetzung gelten darf: Martin Iliev als Siegmund und Tsvetana Bandalovska als Sieglinde verschmolzen in Darstellung und Gesang zu einer szenischen Wahrheit, die schlichtweg betörte. Ilievs Siegmund war kein muskulöser Draufgänger, sondern ein verletzlicher, aber unbeirrbarer Liebender. Sein Tenor – metallisch grundiert, doch von schimmernder Flexibilität – leuchtete in der Höhe und besaß in der Mittellage eine Wärme, die unmittelbar berührte. In den „Winterstürmen“ wuchs aus seinem Gesang eine Hoffnung, die über Sprache hinauswies. Iliev zeigte an diesem gefeierten Abend eine seiner stärksten Leistungen. Völlig frei im Spiel mit zahlreichen neuen Zwischentönen verblüffte er mit einer Darbietung, die bekanntere Sänger deklassierte. Es spricht für seine Klasse, dass er die “Wälse”-Rufe nicht als vulgären Stimmprotzmoment gestaltete, sondern daraus musikalische Gestaltungsmomente ableitete.
Tsvetana Bandalovska gestaltete ihre Sieglinde mit einem Sopran von inniger Leuchtkraft – weich, doch nicht schwach; stark, doch nie hart. Ihre Stimme umspielte die Phrasen mit kammermusikalischer Sensibilität, während ihre Körpersprache das Trauma der Figur mit erschütternder Ehrlichkeit auslotete. Besonders ihr Schrei der Verzückung bei der Schwertgewinnung war ein Moment von kathartischer Erfüllung – nicht nur für die Figur, sondern auch für das Publikum. Hinzu kommt ihre totale Rollenidentifikation, womit der Zuschauer stets den Eindruck vermittelt bekommt, der dargestellten Figur tatsächlich zu begegnen. Berührend, wie sie im zweiten Aufzug fortwährend in den Wahnsinn abdriftet. Und natürlich: mit ihrer leuchtkräftigen Stimme setzte Bandalovska ein deutliches Ausrufezeichen nach einem hinreißenden „Hehrsten Wunder“.
Bjarni Thor Kristinsson verkörperte den Hunding mit abgründiger Schwärze. Seine Stimme – granitartig, düster, in der Tiefe unheimlich – ließ keinen Zweifel an der Gefahr, die von dieser Figur ausging. Er war kein lärmender Bösewicht, sondern die Verkörperung archaischer Ordnung. Faszinierend, wie fein er in der Textgestaltung abstufte. Auch er war eine vortreffliche Wahl.

Thomas Hall kehrte mit großer Bühnenautorität als Wotan zurück – stimmlich ausdauernd, mit edlem Legato und ruhigem Atem. Und doch blieb sein Auftritt im Ausdruck zwiespältig: Wo stimmliche Kraft und Linie überzeugten, fehlte es oft an deklamatorischer Vielseitigkeit und präziser dramatischer Akzentuierung. In der großen Szene mit Brünnhilde ließ er jene innere Spaltung hörbar werden, die Wotans Handlung lähmt – zwischen Macht und Ohnmacht, Wille und Reue. Sein „Leb’ wohl“ wurde zum Höhepunkt eines musikalisch-dramatischen Zerreißakts: mit einer Stimme, die nicht klagt, sondern langsam verblasst. Ein schön und völlig mühelos gesungener Wotan, allein für einen großen Wotan-Interpreten fehlt es ihm an der nuancierten Zuspitzung zentraler Gedanken. So klingen wichtige Schlüsselstellen wie „Nimm den Eid“ oder „und für das Ende sorgte Alberich“ viel zu nebensächlich.
An seiner Seite erschien mit Niina Keitel eine neue Fricka – keine herrische Mahnerin, sondern eine noch liebende, tief verletzte Frau. Keitels Darstellung brach bewusst mit dem Bild der allwissenden Ehegöttin. Ihre Fricka weinte nicht, sie verbarg ihren Schmerz. Ihr Mezzo war klar, gelegentlich herb, aber voller kontrollierter Emotion. In ihrem inneren Ringen spiegelte sich eine Menschlichkeit, die diese Figur seltener erfährt. Die omnipräsente Erinnerung an Mariana Zvetkova, die unvergessene Fricka der letzten Jahre, schwebte wie ein stilles Leuchten über dem Abend – spürbar in einem Halbschatten, der kurz auf Keitels Gewand fiel, wie ein Zitat der großen Vorgängerin.
Gergana Rusekova als Brünnhilde war eine Offenbarung. Ihr Sopran strahlte mit gläserner Höhe und hatte zugleich ein warmes Zentrum, das sie in der Todesverkündigung wie eine Flamme aufflackern ließ. Ihre Wandlung von der göttlichen Kriegerin zur mitfühlenden Tochter war nicht bloß ein Entwicklungspfad, sondern ein psychologisches Beben. In der Abschiedsszene, auf den flammenden Kreis zusteuernd, trug sie die Wucht aller Emotionen in der Stimme – stolz, zärtlich, fassungslos. Ihre Hingabe war bemerkenswert und zeigte sich in vielerlei Farben ihrer Darstellung. Stimmlich begeisterte sie mit ihrer warmen Stimmfarbe, wovon vor allem die intensiv gestaltete „Todesverkündigung“ profitierte. In den Höhenlagen war sie voll und ganz die kämpferische Wunschmaid, die Wotan so sehr liebt. Alle Töne blieben vorbildlich in die Gesangslinie eingebunden. Ihre dynamische Kontrolle war vorzüglich – wie auch ihre bemerkenswert gute Textverständlichkeit.
Große Kraft entfaltete das Walküren-Oktett, das nicht nur szenisch – auf ihren leuchtend roten Pferden, in einer dynamischen Choreografie von Riolina Topalova – sondern auch vokal eindrucksvoll agierte. Jede einzelne Stimme trat mit Profil hervor: Stanislava Momekova (Helmwige) glänzte mit furchtloser Wucht, Silvia Teneva (Ortlinde) mit weich leuchtender Mitte, Lyubov Metodieva (Gerhilde) sang mit metallischer Klarheit, Ina Petrova (Waltraute) bewies Gestaltungskraft, Elena Mehandzhiyska (Siegrune) klang samtig, Tsveta Sarambelieva (Rossweisse) artikulierte präzise mit klarer Linie, Alexandrina Stoyanova-Andreeva (Grimgerde) war von klarer Präsenz, Vesela Yaneva (Schwertleite) rundete mit noblem Klang und fokussierter Kraft das Ensemble ab. Gemeinsam boten sie einen furiosen Auftritt, bei dem Wildheit und Disziplin, szenische Energie und vokale Klarheit Hand in Hand gingen. Dafür gab es Szenen-Applaus!

Das Publikum nahm diese „Walküre“ mit einer Mischung aus Konzentration und innerer Bewegung auf. Keine distanzierte Opernabendhaltung, sondern echtes Erleben. Nach dem letzten Flammenbild – Brünnhilde in Licht gehüllt, allein im Zentrum der Feuersglut – stürmte sofort ein vielstimmiger Applaus in den Saal, durchzogen von endlosen Bravo-Rufen, die allen Beteiligten und Plamen Kartaloff galten.
Gefeiert wurde eine Aufführung, die Herz und Verstand gleichermaßen erreichte. So fügte sich dieser Abend nahtlos in die Linie des vorausgegangenen „Rheingold“: nicht als illustrativer Fortsatz, sondern als Vertiefung, als Herzzentrum des Rings. Mit einer Intensität, die weder kalkuliert noch inszeniert wirkte, sondern aus einem inneren Strom gespeist wurde – dem Strom jener Musik, die Welten entstehen und untergehen lässt.
Dirk Schauß, 30. Juni 2025, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Richard Wagner, Das Rheingold Sofia Opera und Ballett, 28. Juni 2025
Richard Wagner, Tannhäuser Sofia Opera & Ballett, 26. Juni 2025