„Wie ist’s mit dem Fürchten?“ – „Siegfried“ bei den Tiroler Festspielen Erl 2024

Richard Wagner, Siegfried  Tiroler Festspiele Erl, 8. Juli 2024

Erl/Siegfried © Xiomara Bender

Richard Wagner
Siegfried

Erik Nielsen, Dirigent

Vincent Wolfsteiner, Tenor
Simon Bayley, Bassbariton
Peter Marsh, Tenor
Christiane Libor, Sopran

Orchester der Tiroler Festspiele Erl

Brigitte Fassbaender, Inszenierung

Tiroler Festspiele Erl, 8. Juli 2024

von Dr. Andreas Ströbl

„Auf ein Glas Schampus mit Erda“ könnte diese Besprechung auch überschrieben sein, denn das bezöge sich auf einen der wunderbaren Einfälle des „Siegfried“ als dritter „Ring“-Abend am 8. Juli 2024 im Festspielhaus Erl, der – das darf bereits zu Beginn gesagt werden – eine Steigerung der beiden großartigen vorigen Teile darstellte.

Man hat ja schon den einen oder anderen „Siegfried“ erlebt, aber so kurzweilig, ideenreich und vor allem im ersten Aufzug wirklich witzig wie in der Inszenierung von Kammersängerin Brigitte Fassbaender mit ihrer einfühlsamen und aufmerksamen Personenregie und Liebe zum Libretto, vor allem zur Kongruenz von Wort, Ton und Tun, dürfte dieser Teil der Tetralogie selten aufgeführt worden sein.

Mit einem schwer erziehbaren Kind kommt man ja mitunter an seine pädagogischen Grenzen: Schon der dem Laufstall entwachsene Bub entwindet Mime das Holzschwert und wenn der großgewordene Rabauke aus dem Wald kommt, bringt er schon mal einen Bären mit – hier genügt, entsprechend den anderen Tiersymbolen in der Produktion, eine Maske, um den garstigen Schmied gehörig zu erschrecken.

Wenn aber der Pflegevater dem Nibelungen-Prekariat entstammt, durch die vorgeblich liebevolle Erziehung nur ganz groß abkassieren und den Zögling sogar ermorden will, dann ist es Zeit für das Eingreifen eines göttlichen Jugendamtes. Das muss aber in diesem Falle dem Spross nur auf die eigenen Beine helfen, um sich vom bewusst kenntnislos gehaltenen Naivling zum Helden zu entwickeln, und so leitet der Wanderer Wotan eine Entwicklung ein, an deren Ende seine eigene Entmachtung steht.

Zu der braucht er jemanden, der keine Furcht kennt und sich über bisherige Gesetze anarchistisch hinwegsetzt. „Wie ist’s mit dem Fürchten?“, fragt einer, der tatsächlich erst mit dem Entdecken des anderen Geschlechts an die Grenzen seiner psychischen Belastbarkeit kommt.

Erl/Siegfried © Xiomara Bender

Vincent Wolfsteiner ist ein Siegfried, der bubenhaft polternd durch Welt und Schmiede stapft, sein markiger Tenor hat die nötige Stimmkraft, um die Heldenfigur glaubhaft zu vermitteln. Dass er auch zu zarten Tönen in der Lage ist, wird er am Schluss beweisen.

Ziehvater Mime ist Peter Marsh und seine Gestaltung der Rolle bringt doppelten Spaß: Er quetscht, näselt und falsettiert, um diesem Part höchsten Facettenreichtum zu verleihen – immer wieder köstlich imitiert von Siegfried. Seine Bewegungen entsprechen dem Gesang, der zuweilen ins Parlando fällt; mit größter Agilität schleicht er, tänzelt und schwingt sich am Ende sogar an der Kette, die den Gusstiegel über dem Feuer hält, durch die ganze Werkstatt.

Eine der gelungensten Szenen, in denen sich Handlung, Wort und Klang zweifach verbinden, ist das Schmieden des Schwerts, wo zu den Takten von Siegfrieds Hammer im Hintergrund Mime mit dem Hackmesser das Gemüse für den Gifttrank häckselt. Ja, es wird hier tatsächlich geschmiedet, und sogar in doppelter Weise: Auf der Bühne von Kaspar Glarner entsteht durch technisch gekonnt gestaltete Requisiten aus gelber Glut mit wuchtigen Schlägen ein starkes Schwert, das schließlich auch den Amboss zerteilt.

Erl/Siegfried © Xiomara Bender

Gelangt man nach den begeisterten Bravo-Rufen dann in die Pause, trifft auf dem Vorplatz des Passionsspielhauses dort der Hammer von Hans Neuschmied den glühenden Stahl. Der Mann heißt tatsächlich so; er ist Schmied in neunter Generation und seit Jahrhunderten fügt seine Familie das spröde Erz zu kunstvollem Zierat. Man erfährt von ihm, dass ein gutes Schwert eine Woche Arbeit bedeutet, aber soviel Zeit hat nicht mal eine Wagner-Oper.

Schmied Hans Neuschmid, Photo: Andreas Ströbl

Viel Zeit wendet auch Alberich auf, der in einem schäbigen Unterstand aus Plastikfolie darauf wartet, endlich wieder an „seinen“ Schatz zu kommen; mit Energy-Drinks und Butterkeksen hält er sich am trostlosen Leben, das vor allem die Gier nährt. Thomas De Vries ist kein lächerlicher Zwerg, sondern ein gefährlicher Gegner, was seine Stimmfülle machtvoll und kernig verdeutlicht.

Gefahrvoll den Drachen zu bilden, das ist eine große Aufgabe in jedem „Siegfried“. Hier gelingt es durch eine der einfallsreichen Video-Einblendungen von Bibi Abel, die auf den ganzen Bühnenhintergrund einen massigen Reptilienrücken projiziert hat, der sich beim Erheben der Stimme des Riesenwurms unheilverkündend bewegt; die ganze Szenerie wird ein weiteres Mal durch die Lichttechnik von Jan Hartmann belebt. Das Untier selbst ist ein waffenstarrender Höllen-Samurai mit zwei unangenehm blendenden Scheinwerfern auf der Brünne; auch die Kostüme stammen von Kaspar Glarner.

Erl/Siegfried © Xiomara Bender

Anthony Robin Schneider als Fafner lässt seinen mächtigen Bass drohend rollen, was jeden zittern macht – außer den jungen Herausforderer. Wie Kapitalbesitz und Kriegsmaschinerie sich aufs Grässlichste ergänzen, zeigt diese Allegorie der Unmenschlichkeit, gegen die nur furchtlose Aufrichtigkeit wirkt.

Fast einträchtig liegen sie schließlich nebeneinander, der Bezwinger und der tödlich Getroffene. Und ein zweites Mal schneidet Siegfrieds Schwert, um Trug und Lüge Mimes zu enden. Das Waldvögelein wies ihm den Weg zu all seinem Tun; hier ist es ein Mädchen mit knallrotem Haar und bunten Kleidern, das auch einen Gefährten mit grünen Haaren und rosa Anzug hat. Beim übermütigen Tanzen stören allerdings etwas die von dessen Schuhen verursachten Quietschgeräusche. Ilia Staple erzeigt sich als talentierte Kunstpfeiferin und beherrscht Vogel- wie Menschensprache.

Doch was war jetzt mit dem Schampus? Den schenkt der Göttervater sich selbst und Erda erstmal ein, bevor er sie, die mit Schlafmaske in einem würdigen Bett mit Seidenzeug ruht, weckt – die Stimmung könnte ja kippen. Simon Bailey beweist auch an diesem Abend das ganze Spektrum seiner Sanges- und Darstellungskunst, von machtvoll-würdig bis zärtlich-liebevoll. Wie ein altes Ehepaar, das weiß, was es verbindet, pflegen die beiden ein zugewandtes Miteinander, sie kosen sich mit den Händen und es gibt sanfte, innige Küsse. Geküsst wird ohnehin viel in diesem „Ring“, Beziehungen werden auch durch diese zärtlichen bis leidenschaftlichen Begegnungen mit Hingabe und Klarheit deutlich.

Zanda Švēde als sehr weibliche Erda erinnert in der noblen Aufmachung ein bisschen an Renée Fleming; sie ist dem Wanderer gesanglich ebenbürtig und so formt sie mit mütterlich-sanfter, aber dann auch energischer Stimme das Bild einer Ur-Wala, die letztendlich von Wotan ausgebremst wird.

Der trifft dann auf den, der seine Macht verlacht; allerdings ist auch die Großvater-Enkel-Szene vielschichtig und voller Verweise. Allein der Moment, als sich die Zeigefinger der beiden berühren, erweist die Intelligenz der Produktion. Natürlich wird hier die Erschaffung Adams aus Michelangelos Gemälde in der Sixtinischen Kapelle zitiert, aber die Geschichte geht ja weiter. Wotan hat einen Helden erzeugt, der ihn, den Gott abschafft. „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!“, so Nietzsche und damit ist der philosophische Kreis geschlossen und die Brücke von der nebeldurchwaberten Mythologie zur abgeklärten Moderne gebaut.

Doch nun gilt es, das Fürchten zu lernen und das geschieht dem Helden auf dem harten Felsen mit minniglicher Maid. Einer der vielen sensibel-genialen Einfälle ist, dass Siegfried sich erstmal nicht traut, die Göttertochter auf den Mund zu küssen – nein, er küsst ihre Füße und erweckt sie dadurch. Christiane Libor als Brünnhilde ist an diesem Abend deutlich besser in Form als zwei Tage zuvor, kraftvoll singt sie die bei ihr ohnehin starken Höhen und auch gestisch-mimisch lässt sie in ihr Innenleben blicken, mit all der Zerrissenheit, Angst, Hoffnung und Liebe.

Das Orchester der Tiroler Festspiele Erl unter dem Dirigat von Erik Nielsen erglänzt in wuchtiger Fülle. Die Harfen sind ohnehin die ganze Zeit hindurch zauberhaft und entlassen tönende Perlenschnüre in den Saal, aber auch das gesamte Orchester, zumal im Blech, bringt vollen Wagnerklang.

Den echten Kuss gibt es erst beim letzten Ton, alles inhaltlich exakt auf den Punkt gebracht. Licht aus, Beifall an, jubelnd und langanhaltend. Einzigartig!

Dr. Andreas Ströbl, 9. Juli 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Richard Wagner, Das Rheingold Tiroler Festspiele Erl, 5. Juli 2024

Richard Wagner, Die Walküre Tiroler Festspiele, 6. Juli 2024

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