Ritterbands Klassikwelt 21: Sensationeller Fund in einem Keller in San Francisco – Uraufführung nach 89 Jahren

Ritterbands Klassikwelt 21: Die verschollene Oper eines Holocaust-Opfers

© Andreas Lander

Eugen Engel     Grete Minde

Oper in drei Akten
Libretto von Hans Bodenstedt nach Theodor Fontanes
gleichnamiger Novelle
Uraufführung

von Charles E. Ritterband

Am Theater Magdeburg ist am 13. Februar 2022 eine Oper uraufgeführt worden, deren Geschichte berührender und dramatischer ist als der Inhalt der Oper selbst: „Grete Minde“ wurde im Jahr 1933, nach der Machtergreifung Hitlers, vom Komponisten, dem deutsch-jüdischen Textilkaufmann und musikalischen Autodidakt Eugen Engel fertiggestellt. Das Werk konnte damals aus bekannten Gründen nicht aufgeführt werden. Die komplette handschriftliche Partitur reiste 1941 im Koffer der Tochter auf ihrer Flucht in die USA – und ging in einem Keller ihres Hauses in San Francisco vergessen.

Zwei Jahre später wurde der Vater, der vergeblich auf Aus- und Einreiseerlaubnisse gewartet hatte, um der Tochter nachzufolgen, von der SS in Amsterdam aufgegriffen, ins Vernichtungslager Sobibor verschleppt – und dort im Alter von 67 Jahren ermordet. Keines seiner acht Geschwister überlebte die Shoah. Aber sein Werk überlebte! Dass es jetzt in Deutschland, 89 Jahre nachdem es komponiert wurde, in Magdeburg seine Uraufführung erlebt, ist ein Triumph über die erschütternde Geschichte seines Komponisten – eine Art symbolischer „Stolperstein“ (die eigentliche Bronzeplakette wurde vor seiner letzten Wohnadresse, an der Charlottenstraße 74, in Berlin, ins Trottoir eingelassen). Engels Familie stammte aus einem ostpreußischen Dorf und zog Ende des 19. Jahrhunderts in die deutsche Hauptstadt.

Engels Enkeltochter Jan Agee berichtet, dass die vielen Briefe und andere Papiere des Großvaters in einer Truhe aufbewahrt wurden – es sei für die Mutter zu schmerzhaft gewesen, diese zu sichten, obwohl sie immer gewusst habe, dass sich eine Opern-Partitur darunter befunden habe. Aber sie sei sich deren Bedeutung nicht gewusst gewesen, bis sie das Jüdische Museum Berlin auf der Suche nach Dokumenten für seine Archive, kontaktiert habe.

(c) Andreas Lander

Engels Oper beruht auf Theodor Fontanes Novelle „Grete Minde“, welche die Vorgeschichte des Tangermünder Stadtbrandes erzählt. Es erscheint kaum zufällig, dass Engel, der den rasch aufkeimenden Antisemitismus der Nazis verspürte, seit 1930 diese Geschichte einer Außenseiterin aufgegriffen hatte. Seine Leidenschaft galt, neben dem Brotberuf des Kaufmanns, der Musik und diese Oper ist zweifellos der Höhepunkt seines geheimen Schaffens. Sie offenbart eine tiefe Verehrung deutscher Musiktradition, es gibt Zitate Richard Wagners, die Volksszenen erinnern an die „Meistersinger“ oder an die Musik von Richard Strauss, und wie Engelbert Humperdinck (mit dem Engel in Kontakt stand) baute er Volkslieder in seine von Jazz-Elementen durchsetzte Musik ein.

Der Dirigent Bruno Walter, der sich in der holländischen Emigration, wie er sagte, „gründlich“ mit diesem Werk befasste, anerkannte in einem Brief an Engel dessen hohes fachmännisches Können, vermisste allerdings die Originalität. Doch der Musikkritiker von „BR Klassik“ beschreibt die Oper als „musikdramatisch äußerst effektvolles, klug konstruiertes, ja mitreißendes Werk“. Tatsache ist: „Grete Minde“ enthält alles, was zu einer erfolgreichen Oper gehört: große Chorszenen, Duette, Arien, Lieder. Musikalische Vielfalt – die Musik ist flirrend, schweigend, aufbrausend, zart, lyrisch und wechselhaft. Die Regisseurin Olivia Fuchs siedelte die Handlung in den 1930er/1940er Jahren an – ein Bezug auf den Komponisten; leere Koffer auf der Bühne sind eine unmissverständliche Anspielung auf den Holocaust.

Dr. Charles E. Ritterband, 16. Februar 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ladas Klassikwelt (c) erscheint jeden Montag.
Frau Lange hört zu (c) erscheint unregelmäßig.
Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.
Sommereggers Klassikwelt (c) erscheint jeden Mittwoch.
Pathys Stehplatz (c) erscheint jeden zweiten Donnerstag
Hauters Hauspost (c) erscheint unregelmäßig.
Daniels Antiklassiker (c) erscheint jeden Freitag.
Dr. Spelzhaus Spezial (c) erscheint unregelmäßig.
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint unregelmäßig.
Der Schlauberger (c) erscheint jeden Sonntag.

Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 67, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur“, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin. Er schreibt seit 2017 für klassik-begeistert.de.

Charles E. Ritterband mit seinem Königspudel auf der Isle of Wight

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert