Foto: © Oper Halle
Oper Halle, 29. Februar 2020
Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (Premiere)
von Guido Müller
Was haben Rollstühle und eine Schildkröte mit dem Begehren und Mythos des spanischen Adligen Don Giovanni zu tun? Diese Fragen wirft die intellektuell und bildlich anspruchsvolle Inszenierung der Psychologin, Forensikerin, Schriftstellerin und Regisseurin Nina Kupczyk auf. Ihr geht es um körperlich und seelisch versehrte Menschen unterschiedlichen Alters und in unterschiedlichen Lebenstationen. In dieser Inszenierung werden in ihrem unerfüllten Begehren gealterte und zerrissene Menschen und die rückwärtsgewandten Zeitsprünge ihrer Biographien auf die Bühne gebracht.
Daher zeigt die Inszenierung zur Ouvertüre in ihrem ersten Donnerschlag schon zugleich eine nackte Frau stehend und den Blicken des Publikums ausgeliefert auf einer Art Opfer-Altar und einen dahinter von oben herunter rasenden verhüllten Leichnam. Lust und Tod als das große Thema der Oper Don Giovanni gleich zu Beginn.
Und dann alte Menschen in Rollstühlen, mit Gehhilfen und am Tropf in einem Altersheim. Auch Don Giovanni und sein Diener Leporello erscheinen zunächst als ältere Männer. Nachdem Don Giovanni begleitet von einem Jungen im Hofkostüm des Ancien Régime den Komtur und Vater Donna Annas ermordet hat, tritt seine verlassene Geliebte Donna Elvira auf. Während Leporello ihr das berühmte Register der zahllosen Affären Don Giovannis vorträgt, impft ein Altenpfleger mit einem von Leporello angemischten Mittel die Bewohnerinnen des Heims. Womit, bleibt unklar. Rauschmittel, Schmerzmittel oder ein Virus unerfüllter Sehnsüchte?
Zur ersten Arie des Verlobten von Donna Anna, Don Ottavio, erscheint nun zum ersten Mal die langsam über die Bühnenbreite kriechende Schildkröte (Konstruktion und Steuerung Albrecht Drosdziok). Während Don Giovanni sozusagen für die Begierde nach einer unendlichen Zahl von Frauen steht, verkörpert Don Ottavio das unerreichte Begehren nach einer einzigen Frau. Die schleichende Schildkröte steht zunächst für eine andere Zeitdimension und Verlangsamung.
In der griechischen Antike wurde von einem Philosophen das Paradoxon der Unendlichkeit aufgestellt, dass eine Schildkröte mit einem Vorsprung auch vom schnellen Läufer Achill nicht eingeholt werden könne, da sie ihren Vorsprung immer behalte, auch wenn dieser immer kleiner würde. Die Schriftststellerin Elfriede Jellinek erwähnt dieses Paradoxon in einem Text „Requiem auf eine Oper“ (2006) zur Unerreichbarkeit der Ziele des Begehrens am Beispiel Don Giovannis, (https://www.elfriedejelinek.com/fhwurst.htm). Gerade im Nichterreichen liegt sozusagen das Ziel des Begehrens Don Giovannis. Aber auch aller anderen Figuren der Oper.
Auch die Figur des Don Giovanni wird im Laufe der Oper immer weniger fassbar und wenn er mit Leporello lediglich den Mantel tauscht, hält im selben goldenen Rahmen auch in hellem Licht sogar Donna Elvira den Diener für den Herren. Oder sie überträgt in ihrem an Wahnsinn grenzenden Begehren dies nun zunächst auf den Diener und später dann sogar auf einen Jungen oder auf das jungenhaft Kindliche in Don Giovanni.
In Halle endet die Oper nun zunächst mit dem Untergang Don Giovannis durch den Komtur, da er seine Taten nicht bereuen will. Er erscheint wie zu Beginn der Oper nun wieder als gealterter Lüstling. Die Mitwirkenden erscheinen zum Schlussbeifall, der für die Sänger, den Chor, das Orchester und die musikalische Leitung begeistert und mit Bravorufen ausfällt. Für das Inszenierungsteam gibt es dann auch einige Buhrufe.
Doch als Überraschungscoup ist die Opernaufführung damit nicht zu Ende. Wie eine Zugabe singen die Darsteller nun noch das Finale der Oper mit dem moralisierenden Schluss. Das wirkt nun noch um so mehr aufgesetzt und außerhalb des eigentlichen Werks stehend.
Da die Personen der Oper und der Chor häufig szenischen Wechseln unterworfen sind, ist das Bühnenbild mit einem Einheitsraum und einem schwarzen Bühnenvorhang ausgestattet, der auch der Beleuchtung eine wichtige Rolle zuweist (Bühne: Martin Kukulies). Für die vielen zeitlichen Wechsel im Alter der Protagonisten hat Mechthild Feuerstein praktikable und ausdrucksstarke Kostüme entworfen.
Den stärksten Jubel des Publikums erhält zu Recht Andrii Chakov, der viril strahlende Debütant in der Titelrolle des Don Giovanni. Alle Nuancen seiner Partie beherrscht Chakov mit einer restlos überzeugenden Strahlkraft und der lyrischen Verführungsmacht seines Baritons. Bravissimo.
Doch dieses Lob kann auch allen anderen überwiegend jungen Sängern und Sängerinnen dieser Premiere erteilt werden, die bis auf einen Gast alle vom Haus besetzt wurden. Es sei gestattet, vor den Damen den ebenfalls als Leporello debütierenden Michael Zehe heraus zu heben. Als erkältet angekündigt, stand er die anspruchsvolle Partie nicht nur achtungsvoll durch, sondern er verlieh dem Diener ein seinem Herren ebenbürtiges kraftvolles baritonales Profil mit großer Spielfreude, Präsenz und stimmlicher Farbenvielfalt.
Als Donna Anna strahlte Liudmila Lokaichuk sensationell mit einer sauber gesungenen Höhe, einer restlos überzeugenden und tief aus ihrem Inneren heraus gestalteten Dramatik und den wunderschönen Stimmfarben ihres Soprans durch alle Lagen und Kantilenen. Mit ihrer großen Arie im zweiten Akt ließ sie förmlich den Atem anhalten.
Kammersängerin Romelia Lichtenstein überzeugte darstellerisch und stimmlich in ihrer von der Inszenierung verlangten enormen charakterlichen Bandbreite zwischen der enttäuscht gealterten, am Stock gebückten und graumelierten Verlassenen und der bis zur Hysterie exaltierten Liebenden. Emotional vermochte sie restlos zu überzeugen.
Während Vanessa Waldhart alle notwendigen gesanglichen und spielerischen Pluspunkte ihres schönen Soprans in die Rolle der Zerlina einbrachte, überzeugte der Gast Johannes Wedeking als Masetto nicht nur durch seine starke präsente Spielfreude und Beweglichkeit, er machte auch mit seinem Bassbariton den Masetto zu einem gesanglichen Ereignis, das den beiden Hauptpartien ebenbürtig war. Bewährt steuerte schließlich Ki-Hyun Park die notwenige Basstiefe seiner Rolle des Komturs bei. Sehr gut gefiel auch der Chor der Oper Halle unter der Einstudierung von Johannes Köhler.
Die musikalische Leitung durch Michael Wendeberg steuerte mit der Staatskapelle Halle unaufgeregt und elegant einen wohl austarierten Weg zwischen dem musikalischen Dramma und den Giocoso-Elementen dieser Oper alle Opern. Die Tempi passten ohne atemlos oder übertrieben zu werden wie es heutige übermanirierte Mozart-Interpretationen oft anzustreben scheinen. Besonders gefällt das in den Ensembles und Finali. Aber ganz besonderen Wert legt Wendeberg auch auf die zarten und in sich gekehrten musikalischen Stellen dieser Oper. Diese musikalische Interpretation berührte.
Musikalisch vermag diese neue Produktion an der Oper Halle somit restlos zu überzeugen. In der Inszenierung wirft sie als Ganzes eine Reihe von Fragen auf, wenn auch gerade viele ganz auf die Individualität der Personen und ihr Seelendrama zentrierte Szenen sehr gut gelingen. Doch vermutlich war es auch gar kein Anliegen der Regisseurin, der in sich schon disparaten Mozart-Oper eine einheitliche Linie oder Konzeption aufzustülpen.
Guido Müller, 1. März 2020, für
klassik-begeistert.de
Ich fand die Inszenierung einfach gruselig und unwürdig. Auf der Bühne wälzten sich Alte, Nackte, Behinderte und Wahnsinnige.
Katrin Schmitt (Name geändert)
In meinen Augen leider nicht annähernd „mozartwürdig“, außer Frage: schauspielerisch und gesanglich absolut top, nur die Inszenierung nicht zu „Don Giovanni“ passend und am Eigentlichen vorbeiinszeniert…schade.
Trotzdem Superleistung aller Darsteller!
Anna B.
Vielen Dank für Ihren Kommentar. Was ist für Sie „mozartwürdig“ an einer Inszenierung gerade von „Don Giovanni“?
Ich vermute, dass Sie an Inszenierungen denken, die Sie beeindruckt haben.
Mich beschäftigt die Inszenierung gedanklich immer noch, nachdem ich mich anfangs über einiges einfach nur geärgert habe.
Solche provokativen Stachel auch ins Unterbewußtsein halte ich im Theater prinzipiell für gut, da sie eigene Schemata und Gewohnheiten in Frage stellen können.
Manchmal stellt sich allerdings auch die Frage, ob es mit den Mitteln des Musiktheaters realisiert wurde oder eher intellektuelles Glasperlenspiel darstellt. Auch diese Frage stellt sich mir bei dieser Inszenierung.
Dr. Guido Müller
Am 06.03.2020 haben meine Frau, unser Enkelsohn und ich die Aufführung besucht. Ich kann dazu nur raten, dass sich die Verantwortlichen kurzfristig überlegen sollten, solch eine schwachsinnige Inszenierung dem Publikum auch weiterhin anzubieten (s. Kommentar Frau Schmitt). Die Interpreten waren gesanglich hervorragend, werden durch die Inszenierung der Frau Kupczyk schlichtweg verheizt.
Es war zu Vorstellungsbeginn schon verwunderlich, dass etliche Plätze nicht besetzt waren, nach der Pause hatte sich der Anteil nicht besetzter Plätze erheblich vermehrt. Warum wohl?
3 bediente Opernfreunde aus Guben, die diese Oper „weiter empfehlen“ werden.
Manfred Wolf