Nebenbei gesagt sangen alle Solisten ohne Noten. Und auch auf dem Dirigierpult lag die Partitur, ohne dass Thielemann sie gebraucht hätte. Chapeau!
Foto: Christian Thielemann © Matthias Creutziger
Wolfgang Amadeus Mozart: Requiem
Golda Schultz, Sopran
Christa Mayer, Alt
Sebastian Kohlhepp, Tenor
René Pape, Bass
Bachchor Salzburg (Einstudierung: Christiane Büttig)
Sächsische Staatskapelle Dresden
Musikalische Leitung: Christian Thielemann
von Kirsten Liese
Was lange währt, wird endlich gut, sagt der Volksmund, und in der Tat: Nachdem die Osterfestspiele, zweimal verschoben, nun verspätet an den Start gehen konnten, war mit Mozarts „Requiem“ ein fulminanter Auftakt zu erleben.
Wie schön, Christian Thielemann wieder einmal mit Mozart zu erleben! Seine Bruckner-, Brahms-, Wagner- und Strauss-Interpretationen gelten unangefochten als genial, mit Mozart kam er noch weniger zum Zuge, den kann er aber genauso gut! Davon konnte man sich schon einmal 2006 überzeugen, als er weiland mit den Münchner Philharmonikern eine Einspielung des Requiems vorlegte. In der Musikkritik allerdings war damals noch alles von Kopf bis Fuß auf Nikolaus Harnoncourt eingestellt und die von ihm vorgegebene Richtung der historischen Aufführungspraxis. Inzwischen ist man von dieser engen Sicht hoffentlich wieder etwas abgerückt. Zeitlose grandiose Aufnahmen von Sergiu Celibidache oder Riccardo Muti stehen für gleichwertige, traditionellere Ansätze beispielhaft. Und das Konzert im Großen Festspielhaus mit Christian Thielemann und der Sächsischen Staatskapelle Dresden reiht sich in diese Reihe unvergesslicher Aufführungen ein.
Um mir noch diese Fußnote zu erlauben: Ich würde mir wünschen, Christian Thielemann in Zukunft mit noch mehr Mozart zu erleben, zum Beispiel mit dem „Don Giovanni“, und zwar am besten gleich in der Salzburger Felsenreitschule, wo es in den 1950er Jahren zu der legendären Aufführung dieser Oper unter Wilhelm Furtwängler kam. In dessen Fußstapfen steht er ja auch. Und wenn sich das bei den Osterfestspielen leider nicht mehr umsetzen lässt, wo Thielemanns Ära 2022 mit dem „Lohengrin“ endet, dann eben bei den Sommerfestspielen!
In Mozarts „Requiem“, um nun auf das eigentliche Ereignis zu sprechen zu kommen, obliegt der Hauptpart dem Chor. Bei solchen Werken dirigiert Thielemann ohne Taktstock, und das hat sich schon mehrfach bewährt. Mit seinen Fingern kann er den vokalen Klangkörper plastischer formen, was man diesmal sehr deutlich sehen konnte, besonders dann, wenn die dramatische, aufwühlende Musik subito ganz leise mozärtlich wird, sei es nun beim „Salva me“ im „Rex tremendae“, beim „Voca me“ im „Confutatis“ oder beim „Huic ergo parce“ im „Lacrymosa“. Alles in der reichen Zeichen- und Körpersprache des Dirigenten sagt hier immer wieder eines zu den Chorsängern: noch weniger, noch leiser, atmosphärischer, anrührender. Mal zeigt das der linke Arme mit einer breiten Bewegung von außen nach innen, mal reicht ein fast beschwörerisches, zartes Beben in den Fingerspitzen. Mal dynamisiert der Klangmagier aus der Rückenlage, mal aus der Hocke, mal führt er die Hand symbolisch ans Kinn, mal mit einer dämpfenden Gestik nach unten. Und einmal steht er nur da und wendet leicht den Kopf wie zu einer Verneinung.
Der Bachchor Salzburg, trefflich auch in der Textverständlichkeit einstudiert von Christiane Büttig, setzt das seismografisch um, beschert freilich auch dann eine Gänsehaut, wenn es ungeheuer dramatisch wird. Dies auch dank gemessener, moderater Tempi, die der Musik gut tun. Nur einmal wird es schnell, im „Dies irae“, wo es auch geboten erscheint, ist hier doch vom Tag der Rache und Gottes Zorn die Rede.
Und was für eine tolle Riege an Solisten sehen wir denn da auf dem Podium! Dass diese Besetzung die Handschrift des neuen Intendanten Nikolaus Bachler offenbart, ließ sich kaum übersehen, auch wenn Thielemann die seine auch klar eingebracht hat. So geht Zusammenarbeit. Auf ihrer letzten digitalen Pressekonferenz ließen beide vernehmen, dass sich überraschend auf den letzten Metern noch eine gute Kooperation angelassen habe. Das ließ sich nun vernehmen.
Die Sopranistin Golda Schultz jedenfalls, die ich zum ersten Mal unter Thielemanns Leitung hörte, ist an der Bayerischen Staatsoper – unlängst als Agathe das einzige Glanzlicht in einer sonst recht verunglückten Produktion des Freischütz – eine feste Größe. Ihrer Kehle entströmten die denkbar schönsten, warm timbrierten, goldenen Töne. Ein bisschen darf man bei diesem Goldenen an Mirella Freni denken oder auch an Barbara Hendricks.
René Pape, der Bass des Abends, hat seit Ewigkeiten nicht mehr unter Christian Thielemann gesungen. Er gestaltet seinen Part ebenso betörend mit allem was dazugehört, profund und mit unverwechselbarer markanter Farbe. Den Tenor Sebastian Kohlhepp, in bester Erinnerung als David in den Salzburger Meistersingern von 2019, wurde vermutlich von Christian Thielemann eingebracht, der ihn weiland entdeckte. Der Solopart im Requiem liegt ihm, der seine Karriere ja auch als Konzertsänger begann, ebenso. Herrlich lyrisch, geschmeidig aber nicht zu dick singt er seinen Part und versteht sich bei alledem auf das, was man einmal Legato nannte: das Singen auf Linie! Den Alt schließlich übernahm Christa Mayer, von Thielemann nachvollziehbar als eine flexible, vielseitige Kraft für unterschiedlichste Genres und Stile geschätzt.
Nebenbei gesagt sangen alle Solisten ohne Noten. Und auch auf dem Dirigierpult lag die Partitur, ohne dass Thielemann sie gebraucht hätte. Chapeau!
Und das Orchester? Kürzlich sagte mir Götz Teutsch, ehemals Cellist bei den Berliner Philharmonikern, darauf befragt, was für ihn die Sternstunden ausgemacht haben, es sei die Fähigkeit gewisser Dirigenten gewesen, alle unterschiedlichen Persönlichkeiten unter Musikern und Sängern auf einen Herzschlag zu bringen bzw. dazu, sich auf einer Schwingung zu bewegen. Eben das war an diesem Abend spürbar auch der Fall bei der Sächsischen Staatskapelle Dresden.
Am Ende hielt der Meister lange die Stille. Auch das gehörte dazu, schließlich hörten wir ein Requiem.
Kirsten Liese, 29. Oktober 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Das ist mehr als ärgerlich, das sind bereits Fakenews. Ich meine die Behauptung, Nikolaus Harnoncourt habe die historische Aufführungspraxis „vorgegeben“. Mal abgesehen, dass er selbst diesen Begriff ablehnte und wenn überhaupt von historisch informierter Aufführung sprach. Damit wird deutlich, um was es geht: um Wissen und daraus zu ziehende interpretatorische Ansätze. Zu behaupten, er habe das „vorgegeben“ ist völliger Quatsch. Er hatte nichts zu bestimmen oder vorzugeben. Aber er hat durch sein Denken und Musizieren überzeugt. Dadurch war und ist er natürlich ein Stachel im Fleisch all deren, seien sie MusikerInnen oder ZuhörerInnen, die meinen, musikalisches Genie genüge als Interpretationsansatz.
Prof. Karl Rathgeber