Ein Tanz, der Licht und Dunkel zerschneidet

Zweiteiliger Ballettabend, Silent Screen und Schmetterling  Nationaltheater, München, 31. März 2023 Premiere

Foto: Schmetterling, Silent Screen, Fernandes @niczeusmackay

Nationaltheater, München, 31. März 2023 PREMIERE

Programm

Zweiteiliger Ballettabend

Silent Screen
Uraufführung der Choreographie
Nederlands Dans Theater, Lucent Danstheater, Den Haag
8. April 2005


Schmetterling

Uraufführung der Choreographie
Nederlands Dans Theater, Lucent Danstheater, Den Haag
5. November 2010

Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Staatsballetts

von Frank Heublein

An diesem Abend, der Schmetterling heißt, werden zwei Choreografien von Sol León und Paul Lightfoot, Silent Screen (UA 2005) und Schmetterling (UA 2010) gezeigt. León und Lightfood haben die Choreografien für das Nederlands Dans Theater (NDT) kreiert. Von 2002 bis 2020 waren sie an diesem Haus die Hauschoreographen. Das Bayerische Staatsballett ist die erste Compagnie, die Silent Screen und Schmetterling außerhalb des NDT einstudiert.

Als erste Choreografie beginnt Silent Screen mit drei Personen auf der Bühne, die im Hintergrund eine Videoleinwand, eine Strandlandschaft zeigt. Es könnte die niederländische Atlantikküste sein. Auf der Bühne vor der Videoleinwand ist es düster. Die Musik von Philip Glass wirkt auf mich stets hypnotisierend. Ich lasse mich fallen in den Sog der Wiederholung. Die ersten tänzerischen Bewegungen zu dieser Musik sind unglaublich langsam. Nicht wie in Zeitlupe, nur unendlich langsam.

Ich bemerke, die dritte Person ist Teil des Videobilds. Sie entfernt sich in Richtung Meer. Überblende zu einer Winterwaldlandschaft. Ein Mädchen geht auf die Kamera zu. Das Zoom geht auf ihr Gesicht, auf ihr Auge, ein Makro-Kreisel saugt mich wie die Musik ins sich verdunkelnde Bild, das eins wird mit der Bühne.

Zwei Tänzer mit schwarzen Jacken und rotem Innenfutter. Die Tänzerin in rot. Ich sehe artistische Dynamik. Zwei Männer, die um die Frau tanzend buhlen.

Schmetterling, Silent Screen, Osiel Gouneo @niczeusmackay

Der mich faszinierendste Teil der ersten Choreografie ist die Frau, die langsam vom vorderen Bühnenrand, die Bühne wurde vertieft, der Orchestergraben überbaut, die Bühne nach hinten langsam entlangschreitet. Sie zieht auf dem hellen Bühnenboden ein schwarze die gesamt Bühnenbreite umfassende Schleppe hinter sich her. Diese wird von unten unter Luft gesetzt. Die wellenartigen Bewegungen des Stoffes, die sich im Licht brechen. Mich fasziniert die starke Fließbewegung, die harmoniert mit dem Solo des Tänzers, der die Frau antanzt, anbaggert, ihr vortanzt, sie anschmeichelt.

  • Schmetterling, Silent Screen © Wilfried Hösl

Am Schluss werden die Szenen des Videos im Schnelldurchgang in umgekehrter Reihenfolge vom Auge des Mädchens zurück zum bildlichen Anfang des Strandszenarios gezeigt. Ich erkenne die Tänzer vom ersten Abschnitt wieder. Die Bewegungen der gesamten Choreografie zerfließen für mich in der sich wiederholenden Musik. Selbst wenn ich wahrnehme, dass die tänzerische Bewegung sehr langsam ist, habe ich schwupps! den Eindruck, ich hätte für mich entscheidende Bewegungsabläufe verpasst. Mein beschreibender Eindruck im Nachhinein hat Lücken. Gerade so wie wenn ich aus einer Hypnose erwachte und nichts von dieser ist mir in Erinnerung. Ich bin sehr im Moment.

Die zweite Choreografie beginnt schon vor dem Dunkelwerden. Mit dem ersten Pausenendegeläut passiert auf der Bühne was. Eine geriatrische Tänzerin und ein pumperlgsundes properes Mannsbild, wie gut gebaute Männer in Bayern gelegentlich genannt werden, interagieren miteinander und alleine mit dem Publikum auf der Bühne.

Schmetterling, Lauretta Summerscales, Robin Strona © Nicholas MacKay

Getanzt wird zu einer musikalischen Mischung aus elegischem Pop von The Magnetic Fields und leichter Klassik von Max Richter.

Die Lichtgestaltung ist auch hier atemberaubend. Die ganz große Bühne, der Orchestergraben ist überbaut, King Size, double XL!, ist überwiegend dunkel. Denn nur in der Mitte am eigentlichen Bühnenrand sehe ich eine zwei Meter große Öffnung, die sich in drei Stufen nach hinten verjüngt. Lichttechnisch ergibt das ein Dreieck. Aus diesen Stufen treten die Tänzer und Tänzerinnen hervor. Sie erscheinen. Ziehen sich langsam zurück.

Mich beeindrucken die Choreografien der beiden Musikstücke I think I need a new heart und Boa Constricor von The Magnetic Fields am stärksten.

Schmetterling, E. Ibraimova, V. Kozlov © Nicholas MacKay

Solos und Duette, deren Bewegungen nahezu magisch verschwimmen, in der Rhythmik aufgehen. Artistisch. Elegant. Dynamisch. Es raubt mir den Atem. Eine Kombination aus humoristischen, aggressiv-dynamischen und am Ende der Choreografie ins Zarte gleitende mein Herz sanft berührende tänzerischen Bewegung. Modern Dance mit einem großen Hauch klassischem Schwung, so fasse ich meinen Eindruck der zwei Choreografien von Sol León und Paul Lightfoot zusammen. Mir macht es Lust auf mehr von dieser spannenden Kombination von dynamischer Grazilität.

Der Jubel des Publikums ist groß. Einem Menschen scheint es buh hörbar nicht gefallen zu haben, den restlichen 2000 dafür umso mehr. Mir so gut, dass ich überlege, mir den Abend ein zweites Mal anzuschauen, die für mich anziehend neue Tanzinterpretation der beiden Choreografen ein zweites Mal zu schauen, zu spüren, zu erleben. Dann näher dran als ich es dieses Mal war, denn der Eindruck des großen Gesamtbilds ist viel stark, viel zu schade für den Blick durch das Opernglas.

Frank Heublein, 2. April 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Weitere Vorstellungen unter:  https://www.staatsoper.de/stuecke/schmetterling/2023-03-31-1930-13582

 

Besetzung

Silent Screen
Choreographie, Bühne, Kostümdesign und Filmkonzept   Sol León, Paul Lightfoot
Musik   Philip Glass
Kostümrealisation   Joke Visser, Hermien Hollander
Licht   Tom Bevoort

Filmrealisation   Metropolis Film, Dicky Schuttel
Einstudierung   Sol León, Paul Lightfoot, Jorge Nozal, Rupert Tookey, Roger Van der Poel, Ema Yuasa
Ballettmeister:innen   Javier Amo, Séverine Ferrolier

Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Staatsballetts

Eline Larrory, Severin Brunhuber, Andrea Marino, Bianca Teixeira, Matteo Dilaghi, Osiel Gouneo, Giovanni Tombacco, António Casalinho, Margarita Fernandes, Vladislav Kozlov, Séverine Ferrolier

Schmetterling
Choreographie und Bühne   Sol León, Paul Lightfoot
Musik   The Magnetic Fields, Max Richter
Kostüme   Joke Visser, Hermien Hollander
Licht   Tom Bevoort
Projizierte Fotografien   Rahi Rezvani

Einstudierung   Sol León, Paul Lightfoot, Jorge Nozal, Rupert Tookey, Lorraine Blouin, Roger Van der Poel, Ema Yuasa
Ballettmeister:innen   Valentina Divina, Norbert Graf

Tänzerinnen und Tänzer des Bayerischen Staatsballetts

Laurretta Summerscales, Robin Strona, Rafael Vedra, Florian Ulrich Sollfrank, Shale Wagman, Elvina Ibraimova, Kristina Lind, Sergio Navarro, António Casalinho, Phoebe Schembri, Vladislav Kozlov, Severin Brunhuber

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