10 Fragen an den Kirchenmusiker, Countertenor und Dirigenten Alexander Seidel: "Der Entschleunigung etwas Positives abgewinnen"

10 Fragen an den Kirchenmusiker, Countertenor und Dirigenten Alexander Seidel  klassik-begeistert.de

Alexander Seidel zeichnet sich durch seine Vielseitigkeit aus: als Kirchenmusiker, Countertenor und Dirigent. Geboren in Moskau, wuchs er in Deutschland auf, lebte in Berlin, Paris und jetzt in Zürich. Obwohl als Countertenor und Dirigent in Konzert und Oper gefragt, bleibt Alexander Seidel seiner ersten Berufung treu, als Chordirigent und Organist am Zürichsee und in der Stadtkirche St. Otmar in St. Gallen. Sein Repertoire reicht vom frühen Barock (mit Schwerpunkt bei Heinrich Schütz) über Händel, Bach, Mozart und Haydn, Dvorak bis hin zu Zeitgenössischem. Thomas Adés, Manfred Schlenker und Frederic Bolli komponierten für ihn. 1995 gründete er das Kammerensemble New Sagittarius Consort Zürich.

Hospitanzen und Assistenzen brachten ihn mit Herbert Blomstedt, William Christie, Sir Roger Norrington, Nikolaus Harnoncourt und Daniel Barenboim zusammen. Er selbst dirigierte Konzerte mit renommierten Spezialensembles und modernen Orchestern, sang regelmäßig im Theater und in der Oper, in Berlin, Zürich und München, zuletzt am Theater Basel. 2018 debütierte er bei den Osterfestspielen Baden-Baden als Solist; 2019 dirigierte er Henry Purcells Oper Dido & Aeneas beim Festival Arosa Kultur in der Schweiz, bei dem er seit vielen Jahren regelmäßig Gast ist.

Interview: Andreas Schmidt

klassik-begeistert.de: Lieber Alexander Seidel, wie geht es Ihnen?

Alexander Seidel: Rein physisch geht es mir besser. Anders als in normalen Zeiten, wo jeden Tag neue kleine und große Herausforderungen warten. Im Moment jogge ich täglich ein bisschen im Wald, was sehr gut tut, und mache abends Gymnastik. Psychisch erlebe ich die ganze Bandbreite: zwischen sehr gut bis schlecht. Diese Ruhe, die derzeit Raum einnimmt, ist mir willkommen, wenn sie auch nicht in jeder Stunde beglückend ist.

Was haben sie vor einem Jahr getan, und wie sieht ihr Alltag heute aus?

Vor einem Jahr startete gerade der Passionszyklus in der reformierten Kirchgemeinde Höfe am Zürichsee, wo ich seit 2012 auch zwei Chöre aufgebaut habe und leite. 2019 führten wir die Lukaspassion von Heinrich Schütz auf. In dem Zyklus führen wir Passionen aller vier Evangelisten auf; der Schlusspunkt soll Bachs Johannespassion mit einer internationalen Besetzung sein. Das war für 2022 geplant, wird jetzt erst 2023 sein. Als Sänger führte ich im Frühjahr 2019 eine Reihe von Lautenlieder-Rezitalen auf, was sehr beglückend für mich war, da ich dort mit der Stimme so viele Farben zeigen konnte. Zudem wirkte ich bei einer Produktion von Buxtehudes „Das jüngste Gericht“ mit, einer diffizilen Abrechnung mit der weltlichen Lebensweise aus Geldgier, Überfluss und Sucht. Dieses Frühjahr sah ereignisreich im Kalender aus, hingegen ist nun große Stille nach den Absagen. Ich bin derzeit in Zürich alleine, mein Partner lebt in Berlin. Eine klassische Fernbeziehung, in diesen Zeiten besonders schwierig. Und Videoanrufe sind längst kein Ersatz.

Aktuell ist daher Planungsphase angesagt; Projekte aus 2020 ins Jahr 2021 zu verschieben, was bei einigen Programmen auch bereits gelang, aber auch neue Projekte in Angriff zu nehmen. Meine Arbeit als Kirchenmusiker geht neue Wege: Wir nehmen Gottesdienste auf, und werden sie ab Karfreitag fortlaufend online jeden Sonntag auf der Homepage der Kirchgemeinde Höfe präsentieren. Die Aufnahmearbeit ist spannend und zeitintensiv, da die Anforderungen ganz andere sind. Die regelmäßige Chorarbeit mit meinen drei Chören fehlt mir indes sehr.

Nennen Sie bitte drei Schlagworte, wenn sie das Wort Corona hören…

Unsicherheit – Zwangspause – warten auf den Neuanfang.

Alexander Seidel

Welches sind die einschneidendsten Veränderungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie? Können Sie ihr auch etwas Positives abgewinnen?

Privat wie beruflich fehlt mir das Reisen. Positiv an der heutigen Situation ist, dass ich selbst zur Ruhe kommen kann, nachdenken kann, Unangenehmes aufarbeiten darf um aus solch einer Krise zu lernen. Nicht im gleichen Muster weiterzumachen wie bisher, der Entschleunigung etwas Positives abgewinnen.

Wie schaffen sie es als freischaffender Künstler, die finanziellen Verluste aufzufangen? Wie würde Ihrer Meinung nach ein geeigneter Rettungsschirm aussehen?

Ich habe Glück: die beiden Stellen in der Kirchenmusik werden weiterhin bezahlt. Finanziellen Verluste aus den Konzert-Honoraren kann ich nicht ausgleichen. Und mit weiteren Absagen steigen die finanziellen Einbußen. Ich habe angefangen, online Gesangsunterricht anzubieten und viele meiner regelmäßigen Schüler nehmen ihn gerne in Anspruch. Entsprechend ist dieser Zweig nicht ganz weggefallen.

Der Begriff Rettungsschirm ist das falsche Wort, zur falschen Zeit, am falschen Ort! Kultur hat über die letzten Jahre hinweg starke finanzielle Kürzungen hinnehmen müssen. Hier liegt das Problem, nicht in einer Notlösung, geschuldet der aktuellen Krise. Kunst und Kultur sind kein Selbstzweck, sondern Auftrag. Und so verstehen wir Künstler uns auch.

Wie gelingt es einem Musiker, ohne Publikum, bei Laune zu bleiben?

Schwer! Musik braucht nun einmal Publikum. Das entspricht der Logik. Seit einer Woche übe ich viel mehr singend, weil das Singen ein wunderbarer Blitzableiter von Emotionen ist und die tiefere Atmung den Kopf frei macht.

Eine Frage, die mich sehr interessiert: Mit welchem Musikwerk stimulieren Sie Ihr Immunsystem?

Beim Joggen liebe ich es im Moment eine Kantate von J.S. Bach zu hören. Aber die Energiespritze ist und bleibt Mozart für mich. Ich höre wenig Musik, die nicht Klassik ist. Wenn, dann eher Pop oder ganz neue Sachen, die gerade erscheinen, um am Puls der Zeit zu bleiben.

Momentan verbringen viele Musikliebhaber viel Zeit in ihren eigenen vier Wänden. Gibt es ein Buch, eine CD oder auch Streamingangebot, das Sie uns dringend empfehlen würden?

Da ich mit und in der Berliner Philharmonie groß geworden bin (als Zuhörer) und mich sonst viel mit diesem wunderbaren Orchester verbindet: die Digitalconcerthall der Berliner Philharmoniker. Dort gibt es auch semiszenisch die beiden grossen Passionen Bachs zu erleben. Das ist genau das Richtige in dieser Zeit. Das Angebot ist derzeit kostenlos. Hingegen finde ich das Online Angebot des Opernhauses Zürich, der Tonhalle Zürich oder der Deutschen Oper Berlin nicht mehr als eine Notlösung..

Alexander Seidel

Kommen wir zur ersten Frage zurück: Wo sehen Sie sich in einem Jahr?

In einem Jahr werde ich Projekte nachholen, die im März und April 2020  aufgeführt werden sollten. Es wird meine Musikerkollegen und mich nach der Krise wieder zusammenführen. Außerdem werden wir im Herbst 2021 das 25-Jahr-Jubiläum des New Sagittarius Consort Zürich feiern, auch dies ein Nachholen aus 2020. Wir haben diese Produktion verschoben, da wir jetzt keine Oper im freien Kultur-Bereich auf die Beine stellen können. Wir werden dann, wenn alles gut geht, semiszenisch mit einer barocken Kammeroper und jungen Solisten durch den Kanton Zürich und seine angrenzenden Regionen reisen.

Es gibt Zukunftsforscher, die nach überstandener Corona-Krise eine Verbesserung des Weltklimas – ökologisch wie sozial – prophezeien. Teilen Sie diese Einschätzung? Wie ist Ihre Vision?

Ich teile diese Einschätzung. Digitalisierung ist eine Möglichkeit, ersetzt aber den Kontakt zum Publikum nur unzureichend. Ich hoffe, dass eine gewisse Regionalisierung eintritt, regionale Produkte, Angebote und dementsprechend auch regionale Künstler wieder stärker wahrgenommen werden.

Schauen wir in die Glaskugel: Die Heilige Corona, auch Schutzpatronin gegen Seuchen, hat ein Einsehen mit uns und beendet die Pandemie. Alle Musikclubs, Theater, Konzert- und Opernhäuser öffnen wieder. Für ihren ersten Auftritt haben sie drei Wünsche frei: Wo, in welcher Produktion und mit wem teilen Sie die Bühne?

Da zwei Herzen in meiner Brust schlagen, mache ich zwei Vorschläge und bitte die Hl. Corona, auszuwählen, was Sie erleben möchte: Da mein Herz für Händels Opern schlägt interessiert mich die Möglichkeit wieder eine seiner Opern auf der Bühne zu singen. Ich wünsche mir meine Lieblingsrolle, den „Tolomeo“ in Händels Guilio Cesare zu singen. Als Dirigent wäre eine Aufführung von „Le Nozze di Figaro“ von Mozart jetzt mein grösster Dirigierwunsch, gerne auch eine Repertoireaufführung mit modernem Orchester und am liebsten an einem Ort, wo meine Lesart klingendes Neuland ist. Sie sehen: meine Wünsche speisen sich aus der Realität. Oper zu machen fehlt mir enorm, da ich derzeit nur im Konzertsektor aktiv bin.

Interview: Andreas Schmidt, 13. April 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ein Gedanke zu „10 Fragen an den Kirchenmusiker, Countertenor und Dirigenten Alexander Seidel
klassik-begeistert.de“

  1. Lieber Alexander,
    Sehr gute, wohl überlegte Antworten. Wir hoffen auf weiterhin gute Zusammenarbeit in der Kirchgemeinde Höfe, mit mehr fokussierten Prioritäten, mit einem begeisterten Publikum /Gemeindemitgliedern und einer starken Kombination von Wort und Musik zum Wohle unserer Gemeindemitglieder …

    Alles Gute

    Volker Graf

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