MFB2024, EÖ Yulianna Avdeeva, Le Cercle de l’Harmonie, Jérémie Rhorer © Nikolai Wolff-fotoetage
Ein fulminanter orchestraler Parforceritt in der Glocke und zwei zu Herzen gehend dargebotene Bach-Kantaten im Dom bieten stimmungsvolle Momente beim Auftakt des Musikfests Bremen
35. Musikfest Bremen: Eine Große Nachtmusik, Samstag 17. August 2024
im Konzerthaus Die Glocke:
Gioacchino Rossini Ouvertüre aus „Wilhelm Tell“
Franz Liszt Klavierkonzert Nr.1 Es-Dur S 124
Johannes Brahms Ungarische Tänze Nr.1 g-Moll, Nr.5 g-Moll
Le Cercle de l’Harmonie
Yulianna Avdeeva Hammerflügel
Jérémie Rhorer Dirigent
im Dom St.Petri:
Johann Sebastian Bach Kantaten: „O Ewigkeit, du Donnerwort“ BWV 20, „Jesu, der du meine Seele“ BWV 78
Bach Collegium Japan
Masaaki Suzuki Leitung
von Dr. Gerd Klingeberg
An neun Spielstätten rund um den Bremer Marktplatz achtzehn Konzerte unterschiedlicher Couleur, die auf drei Zeitebenen zwischen 19 Uhr und Mitternacht stattfinden, dazwischen gemütliches Plaudern, Schlendern und Social Meeting am Roland: Das ist die Große Nachtmusik, der beliebte Auftakt des Musikfests Bremen.
Und auch beim mittlerweile 35. Musikfest haben die Zuhörer wieder einmal die Qual der Konzertauswahl.
Für den Rezensenten geht es erst einmal in die Glocke, zu Jérémie Rhorer und dem von ihm anno 2005 gegründeten Orchester „Le Cercle de l’Harmonie“.
Bei Gioacchino Rossinis Ouvertüre aus „Wilhelm Tell“ lässt es Rhorer äußerst ruhig und zurückhaltend angehen, zaubert so eine geradezu magische Stimmung. Ein kurzer und gewitterig tosender Ausbruch nur, dann dominiert wieder ausgeprägte Beschaulichkeit mit einem klangvollen Melodiemotiv. Bis schließlich nach kecker Jagdfanfare eine mitreißend furiose Parforcejagd startet, bei der Rhorer maximale Tempi ausreizt: Ein rundum gelungener Aufwärmer für das nachfolgende Klavierkonzert Nr. 1 von Franz Liszt. Das Timbre des großen Erard-Hammerflügels von 1838 mochte anfangs etwas gewöhnungsbedürftig sein, warm, dabei leicht dumpf vor allem im tieferen Register. Doch Rhorer setzt bekanntlich auf Originalklang, das Orchester spielt ohnehin auf historischem Instrumentarium.
Das passt optimal. Und die Gewinnerin des Chopin-Wettbewerbs 2010, die aus Moskau stammende Pianistin Yulianna Avdeeva, weiß den Hammerflügel brillant einzusetzen. Hochromantisch, zum Dahinschmelzen schön, gerät vor allem der Mittelsatz mit seiner eingangs hauchzarten Klavierlinie. Das kleinfigürlich konzipierte Vivace wirkt indes heiter und verspielt, dann scheinen sich die Schleusen für einen Sturzbach von Läufen zu öffnen, die Avdeeva virtuos perlend gestaltet. Von dröhnenden Fanfaren eingeleitet, präsentiert das vehement aufspielende Orchester gleichermaßen effektvoll und mitreißend fulminant den Presto-Schlusssatz.
Derart längst auf optimaler Betriebstemperatur angelangt, beglückt das Ensemble die begeisterten Zuhörer auch noch mit den paprikafeurig dargebotenen Ungarischen Tänzen Nr. 1 und Nr. 5 von Brahms.
Im Bremer Dom St. Petri, nur wenige Schritte neben der Glocke, ist, quasi als eine Art Kontrastprogramm, Masaaki Suzuki mit dem Bach Collegium Japan zu erleben. Nicht mit großen Bach-Werken, sondern „nur“ mit zwei seiner Kirchenkantaten. Obwohl beide für den Choralkantatenjahrgang 1724/25 komponiert wurden, unterscheiden sie sich in ihrer theologischen Ausrichtung. Bei „O Ewigkeit, du Donnerwort“ (BWV 20) stehen Schrecken und Pein der Hölle im Vordergrund, während bei „Jesu, der du meine Seele“ (BWV 78) das Vertrauen auf göttliche Hilfe beschworen wird. Kraftvoll und in tadelloser Artikulation, dabei perfekt unterstützt vom homogenen, durchweg sehr ausgewogenen Klang des Instrumentalensembles, präsentieren die lediglich sechzehn Chorsänger die Eingangschöre und Schlusschoräle.
Ausnehmend gut bringen sie dabei die bei Bach immer wieder so verblüffende, weil nahezu wortgetreue kompositorische Umsetzung des Textes zum Ausdruck. Mit ihren klangvoll ausgeführten Arien und Rezitativen unterstreichen auch die vier Solisten (Carolyn Sampson, Sopran; Alexander Chance, Alt; Benjamin Bruns, Tenor; Christian Immler, Bass) die jeweiligen Textinhalte. Beide Kantaten werden so – ganz ungeachtet ihrer teils doch recht antiquiert anmutenden Sprache – zu beeindruckenden, inhaltsgewichtigen Predigten. Wenn man beim „Donnerwort“ noch einiges von der grenzenlosen Furcht vor der geballten Unbill dieser Welt nachfühlen konnte, so vermittelt der Schlusschoral aus BWV 78 „Herr, ich glaube, hilf mir Schwachen“ die unbedingte Hoffnung auf göttliche Führung.
Ein wunderschöner, begeistert vom Publikum gefeierter Abschluss eines leider nur kurzen, aber zu Herzen gehenden Kirchenkonzerts, bei dem sich der vielfach ausgezeichnete Masaaki Suzuki und sein erfahrenes Ensemble wieder einmal als herausragende Bach-Interpreten erwiesen haben.
Dr. Gerd Klingeberg, 18. August 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at