Photo: Portrait Carlos Johnson ohne Copyright
4. Symphoniekonzert
in der Lübecker Musik- und Kongresshalle, 19. Dezember 2022
Franz Liszt, Les Préludes
Pēteris Vasks, Konzert für Violine und Streichorchester, Tala Gaisma
César Franck, Symphonie d-Moll
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
John Axelrod, Dirigent
Carlos Johnson, Violine
von Dr. Andreas Ströbl
In bewährt origineller Zusammenstellung gratulierte das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck dem belgisch-französischen Komponisten César Franck zum 200. Geburtstag. Der war am 10. Dezember und so wurde der klingende Blumenstrauß am 18. und 19. Dezember fast pünktlich überreicht. Der Komponist mag es zum Genuss eines Happen Panis angelicus vernommen haben, die Lübecker durften sehr irdisch erleben, wie musikalische Sonnenstrahlen die schneematschige Hansestadt für ein paar Stunden deutlich erwärmten, zumindest in der „Musik- und Kongresshalle“.
Von Franz Liszt, einem bekennenden Bewunderer Francks, ertönte die symphonische Dichtung „Les Préludes“. Den Chorzyklus, den das Stück ursprünglich einleiten sollte, hat Liszt nie komponiert und so widmete er das Stück inhaltlich um, indem er die „Préludes“ schlichtweg dem unausweichlichen Ende voranstellte, gleichsam als eine Ahnung der „Präludien zu jenem unbekannten Gesang, dessen erste und feierliche Note der Tod anstimmt“.
So feierlich-leuchtend, ja lebensschmetternd dieses klassische Repertoire-Stück ist, so düster ist seine Rezeption und es gibt niemanden aus der Kriegs- oder Nachkriegsgeneration, der wenigstens einen Teil der „Préludes“ nicht gleichsam in schwarz-weiß hören würde – erklang doch das Hauptthema mit der markanten Fanfare als akustisches Erkennungszeichen zu Beginn der Übertragung des Wehrmachtsberichts in Volksempfänger und Wochenschau. Während des Musikunterrichts am Lübecker Katharineum in den frühen 80er Jahren sperrte der Musiklehrer die Türe zum Musiksaal einmal weit auf und meinte zur Klasse: „Passt mal auf, was jetzt passiert!“. Er legte die „Préludes“ auf den Plattenspieler und drehte voll auf. Wie aufgejagte Wespen stürmten die älteren Lehrer-Semester auf den Flur; für einige von ihnen war damals „auch nicht alles schlecht gewesen“.
Das hat dieses freudestrahlende Stück niemals verdient und umso bunter und freudvoller ergießt es das Lübecker Orchester unter der Leitung des US-amerikanischen Stardirigenten John Axelrod in den Saal. Die zahlreichen jugendlichen Hörerinnen und Hörer dürften die liebenswürdige Zartheit, dann wieder die triumphierende Größe und Helligkeit in dieser Klangdichtung ohnehin mit ganz unschuldigen Ohren wahrgenommen haben. Gerade die romantischen Naturtöne, das spannungserzeugende Weben der Celli und die eher böhmisch als deutsch klingenden Passagen lassen die Vielfalt dieses Werks erblühen; John Axelrods Dirigat ist so engagiert und detailbezogen, dass allein das Zusehen eine wahre Freude ist. Dieser sympathische Dirigent hält beständig intensivsten Kontakt zum Orchester bzw. den Solisten und Instrumentengruppen, sein freundliches und begeisterndes Lächeln spiegelt sich in dem der Musikerinnen und Musiker.
Der lettische Titel „Tala Gaisma“ des Konzerts für Violine und Streichorchester von Pēteris Vasks bedeutet „Fernes Licht“. Der Name ist daher programmatisch, weil das Stück von tiefer Traurigkeit und Schmerz erzählt und Licht und Trost eher in weiter Ferne als greifbar erscheinen. Die zehn Sätze oder vielmehr Abschnitte gehen ineinander über, deutlichstes Gliederungselement sind drei Kadenzen, die höchstes virtuoses Können erfordern. Das gelingt Carlos Johnson, dem Konzertmeister des Orchesters, in bewundernswerter Selbstverständlichkeit und – respektive des anspruchsvollen Inhalts bzw. der immer wieder durchklingenden Schwere – mit beachtlicher Leichtigkeit.
Unfassbar zart beginnt die Violine mit Lauten, die der Kehle eines kleinen verängstigten Vogels entflohen sein könnten. Das dann mit dem Orchester entstehende Gemälde ist entschieden ein Aquarell, noch fern von satten Farben. Dies Klangbild wird immer dichter und so fliegt der kleine Vogel über eine weite Landschaft mit fast durchweg entlaubten Bäumen. Flageolett-Töne und Pizzicati in den Kadenzen geben dem Gesang etwas Gequältes, Angestochenes. Violine und Orchester finden sich aber immer wieder und so entstehen fast tänzerische Figuren von Näherung und Distanznahme.
Tempowechsel schaffen weitere Spannung und aufknospende Melodien bleiben durchweg fragmentarisch, somit ungelöst. Johnsons Violine klingt oft trotzig, als wollte sie gegen ein dunkles Schicksal mit letzter Kraft aufbegehren, die Stakkato-Reihen wirken wie der rasch stapfende Gang der kleinen Füße eines Kindes, das sich auf der Flucht für das Überleben entschieden hat.
Crescendi werden stets reduziert, bevor sie sich endgültig frei erheben können und so klingt immer wieder eine Klage aus Violine und den hohen Streichern. Die hochgeschraubte Spitze der Violine am Ende der Kadenzen wird durch finstere Striche der Celli beantwortet, gleichsam eingefangen und auf den Boden zurückgeholt. Johnson biegt seinen Körper bei den Solo-Passagen, geht dann in die Knie; die musikalische Spannung durchdringt seinen ganzen Leib.
Phasenweise klingt das Konzert wie die Musik zu einem nachdenklichen, eher düsteren osteuropäischen Kunstfilm. Ein drohender Grundton erinnert zuweilen an Schostakowitsch, eine nahe Gefahr ist dadurch ahnbar und verursacht Angstzittern und Unsicherheit. Ironische Stimmung entsteht durch den Walzer-Abschluss, bevor der kleine Vogel mit fast unhörbarem Laut entfliegt.
Axelrod lässt Johnson hier völlige Freiheit und sorgt mit aller gebotenen Sensibilität für ein delikat spielendes Orchester. Verdiente Bravo-Rufe für einen großartigen Solisten, herzlicher Applaus für ein wunderbar zu ihm passendes Orchester und selbstverständlich einen feinnervigen Dirigenten. Schade, dass man dieses Stück nicht öfter hört.
Die einzige Symphonie des Geburtstagskindes César Franck ist zwar keine Seltenheit auf den Spielplänen, aber sie verbreitet so viel Optimismus, Licht und Wärme, dass man sie gerade kurz vor der Wintersonnenwende nur zu gerne hört, zumal, wenn sie so einsatzfreudig und farbenfroh wiedergegeben wird wie von den Lübeckern unter Axelrod. Der erinnert mit den alternierenden Auf- und Ab-Bewegungen seiner Arme manchmal an einen K. u. K.-Kapellmeister in bester Mahlerscher Manier; sein Körpereinsatz zeigt, wie er völlig in der Musik aufgeht, sie zuweilen streichelt, ja schmeckt oder riecht, wenn er mit der Hand ganz nah an seinem Gesicht die Töne auszukosten scheint. Das springt auf das Orchester über und manche nicht ganz lupenreinen Einsätze sind völlig zu verschmerzen, weil alle sich mitreißen lassen von diesem liebenswerten, zugewandten Dirigat.
Nach einem getragenen Beginn nimmt der erste Satz schnell an Fahrt auf, die Celli treiben an und rasch entsteht das charakteristische, hellgelbe Strahlen dieser Musik, in der die einzelnen Themen innerhalb der Sätze so reizvoll aufgenommen, verwoben und variiert werden.
Zartestes Leuchten, von der warmen Färbung eher südfranzösisch, blüht zu Beginn des zweiten Satzes im Pizzicato der Violinen auf; das hinreißende Thema wird wieder im dritten Satz angesprochen und zur Vollendung gebracht. Der gerät zu einer feierlichen Fülle ohne jegliches Pathos, es ist ein Fest der Lebensfreude mit phantastischer Dynamik, in dem vor allem die Holz- und Blechbläser brillieren dürfen.
Leider war die „MuK“ an diesem Abend eher dürftig besucht; der Lübecker Eisregen dürfte einige Leute abgeschreckt haben. Das anwesende Publikum spendete allerdings begeisterten, langanhaltenden Beifall zu einem Konzert, das angetan war, sich seelisch auf hohem Niveau aufzuwärmen.
Dr. Andreas Ströbl, 20. Dezember 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Schleswig-Holstein Musik Festival, Martin Grubinger Musik-und Kongresshalle Lübeck, 7. Juli 2022
5. Symphoniekonzert in der Musik- und Kongresshalle Lübeck, 7. Februar 2022