Kent Nagano befreit das Rheingold vom Kitsch

Wagner, Das Rheingold  Kölner Philharmonie, 18. August 2023

Kent Nagano © Antoine-Saito

Neu, frisch, modern und ohne Schnörkel, glänzt „Das Rheingold“ in der Kölner Philharmonie mit dem Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln. Das wissenschaftlich-künstlerische Projekt „Wagner-Lesearten“ bringt zu Tage, was Wagner uns heute noch zu sagen hat.


Kölner Philharmonie, 18. August 2023

Richard Wagner
Das Rheingold. Vorabend zu dem Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“

Simon Bailey (Bassbariton): Wotan
Dominik Köninger (Bariton): Donner
Mauro Peter (Tenor): Loge
Tansel Akzeybek (Tenor): Froh
Annika Schlicht (Mezzosopran): Fricka
Daniel Schmutzhard (Bariton): Alberich
Gerhild Romberger (Alt): Erda
Nadja Mchantaf (Sopran): Freia
Thomas Ebenstein (Tenor): Mime
Christian Immler (Bassbariton): Fasolt
Tilmann Rönnebeck (Bass): Fafner
Ania Vegry (Sopran): Woglinde
Ida Aldrian (Sopran): Wellgunde
Eva Vogel (Mezzosopran): Floßhilde

Dresdner Festspielorchester
Concerto Köln
Leitung: Kent Nagano


von Petra und Dr. Guido Grass

Kent Nagano ist ein gefragter Dirigent und hat sich insbesondere als Operndirigent einen Namen gemacht. Auch für die Interpretation der Musik des 20. Jahrhunderts, allen voran der Werke Olivier Messiaens, ist er bekannt.

Seit 2017 erarbeitet er zusammen mit dem Concerto Köln die Werke Richard Wagners. Hieraus erwuchs ein eigenes wissenschaftliches Forschungsprojekt, unter dem Titel „Wagner-Lesarten“. Forschungsziel ist Grundlagen für historisch-informierte Aufführung der Werke Wagners für die nächste Generation zu schaffen.

Dabei geht es nicht nur darum Wagner auf historischen Instrumenten (oder deren Nachbauten) zu spielen. Auch die Spiel-, Sprech- und Singweise bis hin zur Mimik sollen dem entsprechen, was das Publikum des 19. Jahrhunderts erlebte.

2021 brachte die COVID-19-Pandemie den Plan, den gesamten „Ring des Nibelungen“ aufzuführen, vorläufig zum Erliegen. Mit der diesjährigen Tournee über Köln, Ravello und Luzern wird der erste Teil des Wagner Zyklus „Das Rheingold“ wiederholt.

„Schwüles Gedünst schwebt in der Luft, lästig ist mir der trübe Druck“

singt Donner im vierten Bild des Rheingolds. Treffender kann man die Kölner Luft heute Abend auf unserem Weg in die Philharmonie nicht beschreiben. Wie gut, dass der Saal klimatisiert ist.

Gleich mit den ersten Klängen des Vorspiels wird klar, dass dies keine gewöhnliche Aufführung des Rheingolds werden wird. Die Musiker des Concerto Köln und des Dresdner Festspielorchesters spielen auf historischen Instrumenten oder entsprechenden Nachbauten.

Dunkel und rau brummen die Kontrabässe und die Fagotte. Hier kündigt sich die Urgewalt der Natur an und kein städtisches Rheinparkidyll. Selbst als die Streicher mit ihren Naturdarmseiten hinzu kommen, bleiben die Fluten des Rheins ungezähmt, faszinierend schön, aber auch gefährlich.

Ania Vegry, Ida Aldrian und Eva Vogel betreten in schlichtem Schwarz als Rheintöchter die Bühne. Jede von ihnen zeigt mit Mimik und Stimme ihren eigenen Charakter im Flirt mit Alberich. Am Ende lässt jede ihn aber gedemütigt abblitzen.

Daniel Schmutzhardt ist von Gestalt und mit seiner sympathischen Ausstrahlung keinesfalls ein fieser Zwerg. Doch sobald er zu singen beginnt, verwandelt er sich durch seine Körpersprache in den Fiesling: Keifende Bösartigkeit kommt aus seinem Mund. Seine Rolle ist jedoch komplex und verlangt auch ein zart schmelzendes „Auf wonnigen Höh’n“. Schmutzhardt singt die Klage gegen die Lichtalben so überzeugend, dass wir Mitleid empfinden. Er gehört auch selbst zu den Unterdrückten.

Bedeutungsschwer spricht Woglinde die Worte:

„Nur wer der Minne Macht entsagt…“

Dies ist eine der Besonderheiten der historisch-informierten Aufführung. Der Gesang wechselt zwischen lyrischem Wohlklang, Sprechgesang und expressiver, dramatischer Singstimme. Die Art des Singens wird dem Text und seinem Sinn untergeordnet – Sprachgesang im besten Sinne. Das Tempo ähnelt der normalen Sprechgeschwindigkeit.

Alle Sängerinnen und Sänger des heutigen Abends artikulieren überaus deutlich und nuancenreich. Die Textverständlichkeit, und darauf legte Wagner wert, ist hervorragend. Altbekannte Passagen kommen frisch und mit neuen Akzenten daher. Manchmal scheint dies der rund 70 Jahre jüngere „Dreigroschen-Oper“ näher als zeitgleich entstandenen romantischen Opern.

Die heutige konzertante Aufführung verzichtet auf Kulissen und Kostüme, einzig Wotan trägt eine Augenklappe und ist mit einem Speer bewaffnet. Doch an der schauspielerischen Leistung wird zu unserem großen Vergnügen nicht gespart: Eifersüchtige Blicke, rasende Wut, pures Entsetzen, körperlicher Verfall, staunende Glückseligkeit, um nur einige Gefühlsregungen zu nennen, werden von allen Sängern in Mimik und Gestik nicht nur während ihres Gesangparts dargestellt.

Ungewohnt warmer Klang der historischen Trompeten kündigt den Auftritt Wotans. Stimmgewaltig prägt Simon Bailey diese Rolle. Die schwierige Aufgabe der Verwandlung Alberichs unter dem Tarnhelm zu einer Kröte verlangt von Bailey große Schauspielkunst: Er wirft sich in voller Länge mit einem roten Taschentuch in der Hand auf den Boden, und wir glauben ihm, dass er Alberich als Kröte darin gefangen hat.

„[G]iert ihr Männer nach Macht!“schimpft Fricka. Der Ehekrach ist perfekt

Auch Annika Schlicht als Fricka ist heute Abend eine Idealbesetzung. Im strassbesetzten schwarzen Kleid stellt sie perfekt die ebenso leidgeplagte wie oberflächliche, eitle Ehefrau des ergrauten, bärtigen Wotans dar. „[G]iert ihr Männer nach Macht!“, spricht sie schlicht und energisch mit verächtlicher Stimme. Doch auch auf der anderen Seite des Ausdrucks überzeugt sie. Mit sicherer, klarer Höhe gestaltet sie vibratoarm auch die lyrischen Passagen.

Kent Nagano weiß, was er will

Vor dem Auftritt der Riesen lässt es Nagano im Orchester fortissimo knallen. Wuchtig und synchron künden die Schritte im Orchester deren Eintritt an. Indes achtet Kent Nagano stets darauf, dass das Orchester die Sänger nicht übertönt. Oft sehen wir, wie seine linke Hand zur Zurückhaltung mahnt. In der Kölner Philharmonie ist eben kein Orchestergraben, der dämpfen würde.

Nagano hält das Orchester, aber auch die Sänger am engen Zügel: Mit starkem Schlag zeigend hilft er vielfach bei den Einsätzen. Wie wichtig dies ist, zeigt sich bei der Idee, die Rheintöchter ihren letzten Auftritt von den oberen, nicht sichtbaren Zuschauerrängen singen zu lassen. Der erste Einsatz wackelt hörbar. Nagano reagiert auf die schwierige Situation, indem er sich beim nächsten Einsatz komplett zu den Sängerinnen umdreht und sie auf gleiche Wellenlänge bringt. Auffallend im Übrigen, wie er aufs Tempo drückt. Die angebliche Zielvorgabe Wagners, das Rheingold dürfe nicht länger als 2 Stunden dauern, erreicht er mit etwa 2 Stunden und 10 Minuten fast. Das ist zwar zügiger als gewohnt, wirkt aber nie gehetzt. Es passt sehr gut zum insgesamt durchsichtigerem Klangbild.

Die Riesen Fasolt und Fafner stellt man sich größer und dicker vor als Bariton Christian Immler und Bass Tilmann Rönnebeck. Doch „Oversize“-Kostüme brauchen die beiden nicht um groß zu wirken. Wortgewaltig droht Immler Wotan auf die Einhaltung des Vertrags, dass dieser Freia als Lohn für den Bau der Burg herausgebe.

Herrlich wie die zierliche Nadja Mchantaf auf ihren Stilettos hereintippelt, ganz die verschreckte, eingeschüchterte Göttin der Jugend. Ihr fließender Sopran passt gut zu dieser Rolle. Kein Wunder, dass vor allem Fasolt hin und weg von ihr ist. Mit gut grundiertem, vollem Bass gibt Tilmann Rönnebeck den etwas tumben Fafner.

„Endlich Loge!“

Wie anders es wirkt, wenn dieser Ruf nicht gesungen, sondern laut sprechend ausgerufen wird. Mauro Peter gestaltet die Rolle des Loge facettenreich. Selbstsichere List, Skrupel und Minderwertigkeitsgefühle, Ernst und Humor, all dies transportiert er ebenso mit seiner Stimme wie mit seiner Körpersprache – ein Spieltenor im allerbesten Sinne.

Die klare lyrische Tenorstimme Tansel Akzeybeks ist der reinste Luxus für die kleine Rolle des Gottes Froh.

Viel ist über die Kritik Wagners an den Auswüchsen der Industrialisierung und des Kapitalismus und wie sich dies im Ring des Nibelungen niederschlägt geschrieben worden. In mancher Inszenierung ist dies der Kerngedanke der Darstellung. Heute bedarf es keiner bildlichen Inszenierung, um diesen Aspekt des Rings hervorzuheben.

Nagano lässt die Ambosse der Zwerge im Prestissimo schlagen: Es stampft und klirrt in der Maschinenhalle. Widerwärtig wie Alberich die Nibelungen knechtet. Schmutzhard läuft über die Bühne und treibt mit seiner Stimme sein Schmiedeheer an. Ein industrieller Sklaventreiber, der in der Fabrikhalle mit Gewalt und Furcht die Arbeiter bis zum Letzten ausbeutet.

Ein lauter Schrei aus den Kehlen der Orchestermusiker

kündet von den Qualen der Arbeiter. (In der Partitur steht er nicht. Es wäre spannend zu erfahren, wo sich diese gelungene Freiheit der Interpretation herleitet.) Die historisch-informierte Aufführung verlangt von den Musikern noch mehr. Sie müssen lernen, wie man die alten Instrumente spielt. Insbesondere beim Blech ist es wichtig, dass diese besonders leise spielen können, um den Gesang nicht zuzudecken. Das Dresdner Festspielorchester und Concerto Köln haben offensichtlich ihre Hausaufgaben gemacht: Sauber intonieren die Hörner auch die leisen Stellen. Die Posaunen führen uns mit gruftigem Klang ins dunkle Nibelheim.

Dort bringt Thomas Ebenstein mit seiner beweglichen Stimme die beiden Seiten Mimes zum Vorschein: Er ist gleichzeitig der geknechtete und der gierige Bruder Alberichs.

Die Gier erfasst auch Wotan, da er den verfluchten Ring am Finger trägt. Gerhild Romberger bringt ihn als Erda von hoch oben auf dem seitlichen Balkon mit klarer Stimme zur Vernunft:

„Höre! Höre! Höre! Alles, was ist, endet!“

Ergreifend.

Der Monolog des Donners, gesungen vom runden hohem Bariton Dominik Köningers führt zum Höhepunkt des reinigenden Gewitters: Krachend geht der Hammer auf den großen Kasten nieder und ein Regenbogen erscheint über der vollendeten Burg. Im Spiel der historischen Violinen und Bratschen erscheint er uns in allen Spektralfarben.

Am Ende des „Vorabends“ würden wir gerne morgen die Fortsetzung hören. Doch wir müssen uns noch gedulden: Erst am Sonntag, 24. März 2024 geht es in der Kölner Philharmonie mit „Die Walküre“ weiter. Wir halten uns den Termin schon mal frei.

Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 20.August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Ehrung für Kent Nagano und Jörg Widmann, Pressemitteilung, Kommentar von klassik-begeistert.de, Hamburg, 27. April 2023

Richard Wagner, Lohengrin (konzertante Aufführung), Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Kent Nagano, Hamburgische Staatsoper, 16. Januar 2022

DVD-Rezension, Richard Wagner, Das Rheingold klassik-begeistert.de

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