8. Symphoniekonzert © Jan Philip Welchering
Arnold Schoenberg, Ein Überlebender aus Warschau. Für Sprecher und Orchester op. 46
Viktor Ullmann, Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke. Für Sprecher und Orchester
Johannes Brahms, Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68
Stefan Vladar, Dirigent
Klaus Maria Brandauer, Rezitation
Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck
Herren des Chores und Extrachores des Theaters Lübeck
Musik- und Kongresshalle, Lübeck, 2. Juni 2024
von Dr. Andreas Ströbl
„Das Stück geht unter die Haut und am Ende hat man das Gefühl, man hat keine mehr“ – so umriss GMD Stefan Vladar in der Einführung zum
8. Symphoniekonzert in Lübeck am 2. Juni 2024 in der Lübecker Musik- und Kongresshalle das nur siebenminütige Melodram „Ein Überlebender aus Warschau“ von Arnold Schoenberg.
Sieben Minuten traumatische Erinnerung, sieben Minuten blankes Entsetzen, sieben Minuten gnadenlose Unentrinnbarkeit. Als „schwer zugänglich“ wird dieses Werk, ein eindrückliches Mahnmal gegen die Unmenschlichkeit, beschrieben, aber das trifft nicht zu. Die ersten schreienden Dissonanzen und der unmittelbar beginnende Text werfen die Zuhörer sofort ins grausame Geschehen und in die nackte Angst. Die hat ein polnischer Jude erlebt, der beschreibt, wie nach der Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto die Menschen aus dem Schlaf gerissen, zusammengetrieben und mit Gewehrkolben geprügelt wurden, bevor sie sich selbst abzählen mussten – zum Abtransport in die Gaskammer.
So etwas kann und darf nicht harmonisiert oder weichgespült, das muss mit aller Drastik wiedergegeben werden. Dazu taugt die harte Instrumentierung Schönbergs in Zwölftontechnik, der den Bericht als erschütternde Aufforderung wahrnahm, diesen Menschen ein Denkmal zu setzen. Daher wird der Text gesprochen, dem Original folgend auf englisch, mit den eingeworfenen Befehlen der primitiven SS-Leute. Gesungen wird am Ende dagegen das „Sch’ma Jisrael“; ein Männerchor intoniert dieses zentrale Gebet des Judentums, das mitunter den Charakter eines Glaubensbekenntnisses hat und von gläubigen Juden auch im Moment des Sterbens gesprochen wird.
Schauspielerlegende Klaus Maria Brandauer ist dem Ruf Vladars gefolgt und gibt die schonungslosen Erinnerungen mit dem Gestus eines durch unbeschreibliches Leid gebeugten alten Mannes wieder. Die von ihm mit teils brüchiger Stimme geseufzten, gestöhnten, oft atemlos gesprochenen Worte treffen – wie von Vladar eingangs beschrieben – unmittelbar ins Mark. Brandauer wechselt nur geringfügig den Klang, um die brutale Vulgarität der SS-Befehle in die Erinnerung zu holen; der zackige Zynismus des selbstgefälligen Soldaten dringt allein schon durch die Wortwahl und Lautstärke der gebellten Befehle durch.
Viele im Publikum werden sich gefragt haben, was ihre Großväter damals taten. Ja, wo waren unsere geliebten Opas, als 1943 das Warschauer Ghetto ausradiert wurde? Der eine glaubte bis zum Kriegsende, dass „der Führer“ das noch irgendwie herumreißen würde, um dann in eine Serie von Nervenzusammenbrüchen zu fallen. Der andere hatte auf die Frage des Buben, wie das denn im Krieg gewesen sei, nur die Antwort übrig: „Entweder du oder der andere“. Der dritte wurde im „Volkssturm“ den anrückenden Russen vor das Gewehrfeuer getrieben. Der vierte weigerte sich, den Gashahn aufzudrehen und entkam nur durch Desertion der eigenen Hinrichtung. Und – sehr langer Gedankenstrich – in Potsdam trafen sich vor einem halben Jahr „führende“ Neofaschisten, um eine massenhafte Vertreibung „nichtvölkischer“ Elemente aus Deutschland zu planen. Vergleiche mit dem „Dritten Reich“ sind mit Vorsicht zu ziehen, aber eine Villa am Wannsee ist nicht weit vom Ort des Geschehens entfernt.
Das „Sch’ma Jisrael“ singen die Herren des Chores und Extrachores des Theaters Lübeck mit Würde, Stärke und aufrechter innerer Haltung. Es ist ein Zeichen des Lebens inmitten des Massenmordes.
Stille am Ende, im Gesicht Brandauers spiegelt sich die angstvolle Erinnerung des Überlebenden. Wie bei der Uraufführung 1948 wagt das Publikum zuerst kaum, zu applaudieren, dann erhebt sich begeisterter Beifall.
Viktor Ullmanns Rilke-Adaption „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ ist aufgrund der literarischen Vorlage schon im Libretto, aber vor allem musikalisch voller blühender, lyrischer Schönheit. Rainer Maria Rilke erzählt die Geschichte eines jungen Adeligen, der 1664 in den Krieg gegen die Türken zieht; er berichtet vom Soldatenleben, der Liebesnacht mit einer geheimnisvollen Gräfin und dem Tod des jungen Mannes, der die Fahne, aber nicht sein eigenes Leben retten kann.
Brandauer ist vom Vortrag des Eingangswerkes etwas angeschlagen, aber rettet sich beim angeblich „kaiserlich-hysterischen Regiment zu Roß“ in den Humor. Das ist völlig verzeihlich, ebenso wie das Überschlagen mehrerer Textseiten – Vladar reagiert augenblicklich und findet völlig geistesgegenwärtig, ohne wirklich hinsehen zu müssen, für den Rezitator sofort die richtige Textstelle. Brandauers Lesung ist ansonsten voller Wärme und Hingabe, wenngleich der Schauspieler immer wieder Einsätze improvisiert; glücklicherweise hat Vladar die Situation stets im Griff.
Das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck gibt all die Farbigkeit, Tonmalerei, flirrende Anspannung und Umbrüche von Ullmanns Musik differenziert und mit ebenso viel Wucht wie Zurückhaltung, um den Vortrag nicht zu übertönen, wieder – es ist ja gerade das Spannungsverhältnis aus dem frischen Lebenswillen der jungen Soldaten, die gegen den Feind ziehen, „um wiederzukehren“, wie es im Text heißt, und dem Ermüden des Mutes bis zum letzten verzweifelten Hochreißen der jugendlichen Kraft, um die Ehre zu retten und das Leben zu verlieren. „Wein? Oder Blut? – Wer kann’s unterscheiden?“ – im Dunkel der Kriegsnacht fließen Reben- und Lebenssaft ineinander.
Man könnte dieses wundervolle, vielschichtige Stück genießen, wenn man nicht eines wüsste: Viktor Ullmann, dieser begabte österreichische Komponist, Dirigent und Pianist schrieb einen Großteil seiner Werke im „Vorzeige-KZ“ Theresienstadt. So bitter es ist, aber es war eine fruchtbare Zeit für ihn, weil, wie er selbst betonte, der „Kulturwille [seinem] Lebenswillen adäquat war“. Wenige Monate nach der Komposition des „Cornets“ wurde Ullmann mit seiner Frau in Auschwitz ermordet.
Die Erste Symphonie von Johannes Brahms nach der Pause ist genau die richtige Musik zum Runterkommen. Diesen Repertoireschlager spielen die Lübecker mit wunderbarem Tempo – Vladar geht im Dirigat völlig auf und bläst der Symphonie frischen Ostseewind ein, erneut ein gelungenes Beispiel für die Verbindung des Hamburger Brahms mit seiner Wahlheimat Wien und dem donauwassergetauften GMD mit dem hanseatischen Orchester. Warmer, voller Blechklang, hochengagierte Streicher und ein Paukist, der die drohend wummernden Schläge dieses genial düsteren Orgelpunkt-Hämmerns zu Beginn des Werks wie eine Schicksalsuhr in den Saal sendet – an dieser Interpretation stimmt alles, denn sie widmet sich all den Facetten der Symphonie mit einer Leichtigkeit, die nicht ahnen lässt, wie sich Brahms daran abgemüht hat. Mit einer souveränen Verbindung aus machtvoller Entschiedenheit und einem Gespür für die Delikatesse der zarten Aspekte erklingt dieser Brahms, der die Kraft der Versöhnung durch die Musik aufs Schönste aufleben lässt.
Schließlich beendet die Matinee sehr langer, herzlicher Applaus, in dem auch das Bewusstsein mitschwingt, dass in der Musik die Stimmen derjenigen leben, die man einst zum Schweigen bringen wollte.
Dr. Andreas Ströbl, 3. Juni 2024, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at