Foto: C. Höhne (c)
Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela
Dirigent: Gustavo Dudamel
EuropaChorAkademie
Julianna di Giacomo Sopran
Tamara Mumford Mezzosopran
Joshua Guerrero Tenor
Soloman Howard Bass
Ludwig van Beethoven (1770 – 1827)
Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (1822-1824)
Elbphilharmonie, 23. März 2017
Von Sebastian Koik
Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie ist ein Triumphkonzert, der Sieg über ein widriges Schicksal. Mit der erstmaligen Einführung des Gesangs in einer Sinfonie stellt das Werk eine Zäsur in der Musikgeschichte dar. Auch sprengte die Sinfonie mit ihrer Länge deutlich die damals üblichen Dimensionen. Beethovens Genie kannte keine Grenzen. Er kannte keine Fesseln der Konvention. Am unharmonischen, unfriedlichen, unfreien Zustand der Welt leidend hat er musikalisch eigene Welten geschaffen.
Beethovens Musik ist nicht nur große Musik, sondern auch die musikalische Darstellung einer Utopie – der Utopie eines moralischen Staates, einer idealen menschlichen Gesellschaft in Freiheit und Gleichheit. Als Humanist lässt Beethoven im berühmten Finale seiner 9. Sinfonie die Menschen über die Finsternis siegen und zu Brüdern werden.
Auch knapp 200 Jahre nach der Uraufführung der 9. Sinfonie sind wir noch weit weg von einer idealen menschlichen Gesellschaft. Kriege, Gewalt und Ungleichheit sind nicht verschwunden. Beethovens Musik aber ist geblieben und hat nichts an ihrer Kraft verloren. Seine Musik verbindet Menschen. Junge Menschen aus Südamerika spielten sie am Donnerstagabend in der Elbphilharmonie in Hamburg.
Kaum irgendwo sind Gleichheit und Brüderlichkeit weiter verwirklicht als im Orchester. Was zählt ist die Kunst der musikalischen Darbietung. Und die schwankt an diesem Abend wie auch an den vier Abenden zuvor sehr weit zwischen begeisternder Weltklasse und müder Uninspiriertheit. So erklingt der erste Satz zu blass. Es fehlt an Spritzigkeit. Die Pauke und die Streicher sind etwas zu träge. Die Streicher spielen zu wenig schneidig, mit zu wenig Biss. Doch wie auch schon bei der 7. Und 8. Sinfonie: Bei den lauten Stellen ist das Orchester überzeugend! Hier vermögen die Musiker mitzureißen. Ansonsten berührt das Spiel der Musik Beethovens im ersten Satz kaum.
Dann wird es fulminant! Der zweite Satz ist ein Scherzo, auch wenn er nicht so überschrieben ist. Und kaum ein anderes Scherzo Beethovens besitzt ein derartiges Temperament. Der Beginn ist spektakulär: Die ganze Wucht des Orchesters blitzt kurz, massiv und energiereich auf, extrem effektvoll unterbrochen von Pausen.
Die mitreißende Wirkung der ersten acht Takte führte bei der Uraufführung zu einem Szenenapplaus. Das ist heute undenkbar und war auch früher keine übliche Reaktion des Publikums. Der Satz schreitet luftig-leicht, beschwingt und voller Lebensfreude voran – die Musik tänzelnd und an die Schönheit vergnügt zwitschernder Vögel und die Musik italienischer Komponisten erinnernd. Aber inmitten all dieser Leichtigkeit spielt sich auch sehr viel Dunkleres, Überraschendes und Geniales ab. Die unbeschwerte Fröhlichkeit zu Beginn des Satzes transformiert sich zu einer Fröhlichkeit, auf der ein geheimnisvoller Schatten lastet. Das Orchester glänzt in diesem Satz, spielt ganz wunderbar mit viel Esprit und Witz! Das macht Spaß, ist mitreißend.
Der einzige Makel eines ansonsten ganz wunderbar gespielten zweiten Satzes ist wie am Vorabend auch schon eine etwas zu träge Pauke, die oft einen Tick zu spät kommt. Das restliche Orchester vermag zu begeistern, zu berühren, lässt die Musik herrlich sprechen. Macht die Musik zu Musik, die einen berührt. Das ist richtig, richtig gut. Am Ende des Satzes bekam ich kurz eine Gänsehaut. In den Momenten der Stille vor dem nachfolgenden Satz war die Luft elektrisiert, voller Spannung.
Der dritte Satz beginnt mit herrlichen, cremig-weichen Streichern, mit viel Gefühl. Bei sehr delikaten langsam-leisen Stellen spielt das Orchester aber deutlich schwächer, spielt blutleer, uninspiriert. Eine kurze laute Stelle wirkt als Weckruf, wie die Betätigung eines Reset-Knopfes. Ein kleiner Neustart erfolgt, für eine Weile ist wieder Spannung da. Zum Ende hin spielt das Orchester leider wieder uninspiriert.
Im vierten Satz bringt das Orquesta Sinfónica Simón Bolívar de Venezuela einige Teile sehr gut, dazwischen aber oft schwach. Vieles klingt leblos, die Musik packt nicht, berührt nicht. Bei den lauten Stellen spielen die Musiker immer wieder begeistert und mitreißend. Und dann setzt der Gesang ein: Der Bass beginnt mit sehr schöner und kraftvoller, sonorer Stimme. Es macht Freude zuzuhören! Doch sobald das Tempo etwas schneller wird, wird der Sänger deutlich schwächer! Und sehr störend: Leider singt der Amerikaner Soloman Howard die Texte von Friedrich Schiller in sehr schlechtem Deutsch und extrem schlechter Textverständlichkeit.
Bei den anderen Solisten ist es nicht viel besser. Auch der Gesang aller Solostimmen zusammen klingt nicht wirklich schön, sehr gehetzt. Der Chor der Europachorakademie dagegen überzeugt voll! Er singt nicht nur sehr, sehr mächtig, sondern auch herrlich klangschön, ganz zauberhaft strahlend! Er ist in großer Besetzung da, wirkt aber noch größer und mächtiger als er zahlenmäßig ist.
Auch das Orchester spielt zwischenzeitlich sehr stark, leidenschaftlich und mit sehr schöner Spannung in der Musik. Die Pauke macht sich durch zu schüchternes und zu lasches Auftreten wieder negativ bemerkbar. Und in diesem vierten Satz muss auch der Dirigent Gustavo Dudamel kritisiert werden: Das Tempo, das er vorgibt, ist in vielen Passagen zu schnell und viel zu gehetzt. Damit haben das Orchester und besonders die vier Solisten größere bis sehr große Probleme und kommen so zumindest teilweise unverschuldet oft nicht gut herüber. An diesem Abend präsentiert sich Dudamel nicht als sängerfreundlicher Dirigent. Außer dem Paukisten stört auch das unpräzise Becken besonders.
Und dann ist es aus. Wegen des gehetzten Tempos und der schwachen Solopartien erklang der letzte Satz, das große Finale, sehr enttäuschend – und der Kritiker bleibt am Ende etwas uninspiriert zurück. Doch zwischenzeitlich war es großartig, mit einem so gut wie perfekten zweiten Satz als Höhepunkt des Konzerts, den guten lauteren Passagen des Orchesters und einem ganz wunderbaren Chor. Zum Abschluss der Aufführung aller neun Beethoven-Sinfonien innerhalb von fünf Tagen gibt es sehr, sehr lange Standing Ovations vom allergrößten Teil des Saals!
Sebastian Koik, 24. März 2017, für
klassik-begeistert.de