Ist Don Giovanni Casanova? Ist Don Giovanni da Ponte? Oder ist Don Giovanni Mozart? Unser Autor sagt: etwas von alledem.
von Charles E. Ritterband
Anfang Woche hatte ich das Privileg im Londoner Royal Opera House an zwei aufeinander folgenden Abenden zwei völlig unterschiedliche Opern sehen zu dürfen: Mozarts „Don Giovanni“ – für manche die „Oper aller Opern“ – und Massenets „Werther“. Die beiden so verschiedenen Opern – die weltberühmte Barock-Oper und das (bis auf eine wunderschöne Arie) nicht ganz so bekannte Werk der Hochromantik – scheinen nichts gemeinsam zu haben.
Der lustige Bösewicht und der fade Gutmensch
Und doch, bei genauerem Hinsehen: Beide haben ziemlich viel mit der Biographie derer zu tun, die sie schufen und inspirierten. Beide handeln, auf höchst unterschiedliche Weise allerdings, von Liebe und Tod – und von jeweils einem männlichen Protagonisten. Bezeichnenderweise ein Bariton in der einen, ein Tenor in der anderen Oper. Der Bariton ist, wie immer, der Bösewicht, der Tenor der Gute, Arme. Aber, seien wir ehrlich: Unser Interesse (vielleicht auch unsere insgeheime Sympathie) gehört doch immer dem Teufel. Denn der ist allemal spannender als alle anderen, der ist zwar teuflisch, aber lustig. Die Guten mögen schön singen (wie Don Ottavio, der ja auch nie zum Zug kommt im „Don Giovanni“), aber die Bösewichte sind wesentlich unterhaltender.
Ein „ausschweifender junger Edelmann“ (wie es in der Beschreibung heißt) oder gar ein „Wüstling“ der eine, „ein junger, wirtschaftlich unabhängiger Mann“ der andere (wie ihn das Programmheft der Royal Opera charakterisiert). Der eine wird, wie es die barock-katholische Moral will, von der Hölle verschlungen – gerechte Strafe für seine diversen Untaten. Der andere bringt sich um, weil seine große Liebe so sehr in bürgerlichen Konventionen gefangen ist, dass sie ihrem Herz nicht folgen kann zu dem Mann, den sie doch eigentlich auch lieben würde.
Letztlich kommen beide nicht zum Zug: Der arme Werther, den wir alle nur bemitleiden, darf seine geliebte Charlotte erst ganz am Schluss zum ersten und letzten Mal küssen, wenn er schon im Sterben liegt. Und Don Giovanni, an der Royal Opera so großartig verkörpert von Erwin Schrott, von uns männlichen Zuschauern insgeheim bewundert und von den weiblichen Zuschauern voll geheuchelter Empörung angehimmelt, wird zwar von mindestens drei Frauen heiß begehrt, aber in seinem Hunger nach Eroberung, maskuliner Bestätigung und Sex kommt er gar nicht dazu, dass ihm so freimütig Dargebotene zu konsumieren.
Autobiographischer Background ?
Ist der erfundene Don Giovanni identisch mit dem real existierenden Casanova? Und wieviel Mozart steckt in dieser Kunstfigur? Dass Lorenzo da Ponte, Mozarts kongenial-genialer Librettist, den legendären Frauenverführer Giacomo Casanova persönlich kannte, ist keine romantische Erfindung, sondern eine historische Tatsache. Die beiden literarisch hochbegabten und als Verführer schöner Frauen wohlbekannten Männer hatten zweifellos einige gemeinsame Gesprächsthemen. Ob sie dabei Männerwitze austauschten, ist unbekannt – ungewiss ist überhaupt, ob sie, wie dies behauptet wird, Freunde waren. Zumal sich Casanova in einigen Briefen wiederholt wenig schmeichelhaft über da Ponte geäußert hatte. So gesehen wäre es fraglich, ob er an einem freundschaftlichen Treffen – oder gar an einem Arbeitstreffen in Bezug auf den Don-Giovanni-Text –wirklich interessiert war. Dass Casanova an der Darstellung seines musikalischen Ebenbildes als alternder, skrupelloser Wüstling (der noch dazu in dieser Oper sexuell gar nicht zum Zug kommt) große Freude hat, darf erst recht angezweifelt werden. Denn „Don Giovanni“ ist aus der Sicht des Titelhelden letztlich eine Oper des (immerhin triumphalen) Scheiterns.
Am 25. Oktober 1787 traf Casanova, vom Schloss Dux, 70 Kilometer nordwestlich von Prag kommend (wo er seit 1785 als ziemlich frustrierter Bibliothekar tätig war), in Prag ein. Nur vier Tage später fand im Prager Ständetheater die Uraufführung des „Don Giovanni“ statt. Das kann kein Zufall sein. Dass Casanova über die kulturellen Highlights im nahen Prag auf dem Laufenden war, wäre zu vermuten. Dass er – wohl auf einen Ehrenplatz – der Premiere beiwohnte, dürfen wir ebenfalls annehmen. Und dass ihm in der Handlung einiges ziemlich bekannt vorkam, ist durchaus wahrscheinlich. Ob der 62 Jahre alte Casanova allerdings Fakten oder gar Textstellen zum Don Giovanni beigesteuert hat, ist nicht überliefert.
Hat Casanova autobiografische Spuren in der Oper über seinen Bruder in Geist und Tat hinterlassen? Wir wissen es nicht. Dass da Ponte in der Vita des realen Casanova Don-Juan Inspiration suchte, ja manche Anleihen machte, erscheint gar nicht so abwegig. Dass die beiden vor der Uraufführung zusammenkamen, wie oft behauptet wird, ist auszuschließen. Denn Lorenzo da Ponte war unmittelbar vor der Uraufführung der Oper, zu der er immerhin den Text beigesteuert hatte, gar nicht in Prag: Er musste einige Tage vor der Uraufführung nach Wien zurückkehren, um dort die Aufführung einer anderen, mit seinem Libretto versehenen Oper vorzubereiten. Es handelte sich um die Oper von Mozarts Rivalen Salieri, „Axur, Re d’Ormus“.
Bleibt noch die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung zwischen Mozart und Casanova anlässlich der Don-Giovanni-Uraufführung in Prag. Darum ranken sich die Legenden – aber die Chronisten schweigen und verlässliche Quellen fehlen.
Ist Don Giovanni Casanova? Ist Don Giovanni da Ponte? Oder ist Don Giovanni Mozart? Ich behaupte: etwas von alledem. Bei Casanova ist die Sache ziemlich offensichtlich und da Pontes berüchtigtes Liebesleben steht jenem des fiktiven nicht um vieles nach. Und Mozart? Kein Freund von Traurigkeit, heißt es. Dass er Affären mit Schülerinnen und Sängerinnen hatte, wird mit gutem Grund berichtet. Wolferl hatte seine Affären und Seitensprünge – genauso wie seine geliebte Konstanze.
Ist also das berühmte „Viva la Libertà!“ des prototypischen „Libertin“ Don Giovanni letztlich der revolutionäre Schlachtruf Mozarts? Das Revolutionäre an den drei Da Ponte-Opern ist unverkennbar. Der Graf im „Figaro“ ist ein gewissenloser (und dümmlicher) Wüstling, nachdem er doch bei Rossini noch eine sympathische Identifikationsfigur war; die beiden Schwestern in der „Cosi“ sind gelangweilte, verwöhnte Aristo-Tussen und ihre Liebhaber prinzipienlose Playboys – und der gute Don Giovanni will ebenso wenig wie sein Kollege Graf Almaviva auf das althergebrachte „Ius Primae Noctis“ verzichten – auf das Recht, in der Hochzeitsnacht die Bräute der Leibeigenen oder anderswie Untergebenen zu entjungfern.
Mozart, stinkfrech, respektlos und mutig, hielt seinem zahlenden aristokratischen Publikum einen Spiegel vor Augen. Seine Einstellung machte er hinlänglich deutlich in einem mit dem 20. Juni 1781 (sechs Jahre vor dem „Don Giovanni“ und fünf vor dem „Figaro“!) datierten Brief deutlich: „…obwohl ich kein Graf bin, habe ich möglicherweise mehr Ehrgefühl in mir als viele Grafen.“ Das lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig. Sowohl der Don Giovanni als auch der Figaro bringen augenscheinlich Mozarts kritische Haltung gegenüber der Aristokratie zum Ausdruck. „Libertà“ könnte vielleicht nicht nur als Aufruf zu sexueller Freizügigkeit gedeutet werden – sondern auch als Aufruf zur Befreiung von der Vorherrschaft der prinzipienlosen Aristokratie. Ziemlich revolutionär also.
Aber finden wir im „Don Giovanni“ nicht noch weitere persönliche, autobiographische Elemente? Ich denke da an den Comtur, der gleich zu Anfang des Stücks mehr aus Versehen als aus Mordlust den Todesstoß durch Don Giovanni erhält – und der dann im letzten Akt als schon stimmlich übermächtige Gestalt aus dem Jenseits wiederkehrt, Rache und Strafe übt. Ist das nicht Mozarts Vater Leopold, der als forderndes, strafendes „Über-Ich“ stets präsent war im Leben des jungen Genies und der just im Jahr 1787 starb – im Jahr also der Uraufführung des „Don Giovanni“? Ist der Mord oder Totschlag am Comtur nicht der geheime Todeswunsch Wolfgangs gegenüber dem eigenen Vater – oder die unbewusste, schuldhafte Selbstbeschuldigung, den Vater getötet zu haben?
Im „Werther“ liegt der Fall noch klarer: Dessen unerfüllte große Liebe heißt in der Oper Charlotte – und jene Goethes, dessen literarischen Schöpfers, war eine gewisse Charlotte Buff. Für sie hegte Goethe eine geradezu verzweifelte Liebe, und in seinem Roman „Die Leiden des jungen Werthers“ heißt sie Lotte.
Dr. Charles E. Ritterband, Wien, 22. September 2019
Ritterbands Klassikwelt (c) erscheint jeden Sonntag auf klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
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Der Publizist und Journalist Dr. Charles E. Ritterband, 66, geboren in Zürich / Schweiz, ist Verfasser mehrerer Bestseller („Dem Österreichischen auf der Spur, „Österreich – Stillstand im Dreivierteltakt“ sowie „Grant und Grandezza“) und hat als Auslandskorrespondent 37 Jahre aus London, Washington, Buenos Aires, Jerusalem und Wien für die renommierte Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet. Er studierte Germanistik, Geschichte, Philosophie und Staatswissenschaften an den Universitäten Zürich und Harvard sowie am Institut d’études politiques de Paris und an der Hochschule St. Gallen. Seit Kindesbeinen schlägt Charles’ Herz für die Oper, für klassische Konzerte und für das Theater. Schon als Siebenjähriger nahm ihn seine Wiener Oma mit in die Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“. Die Melodien hat er monatelang nachgesungen und das Stück in einem kleinen improvisierten Theater in Omas Esszimmer nachgespielt. Charles lebt im 4. Bezirk in Wien, auf der Isle of Wight und in Bellinzona, Tessin.