Foto: Martha Argerich © Adriano Heitman
Konzerthaus Berlin, 20. Oktober 2019
Gidon Kremer, Martha Argerich, Rezital
von Kirsten Liese
Sich mit Mieczyslaw Weinberg zu beschäftigen, lohnt sich. Es ist inzwischen schon einige Jahre her, dass der polnische Komponist über die Ausgrabung seiner Auschwitz-Oper „Die Passagierin“ wieder mehr Beachtung fand.
Weinbergs Kammermusik gilt es dagegen noch zu entdecken, sie hat sich bislang in den Konzerthäusern weniger durchgesetzt. Dafür spielt ihn der vom Berliner Konzerthaus mit einer Hommage geehrte Geiger Gidon Kremer, der diese Konzertreihe selbst kuratiert hat, immer wieder.
Aus Weinbergs erster Sonate für Violine solo op.82 mag man die tiefe Verzweiflung des Komponisten heraushören, der ähnlich wie sein Zeitgenosse Schostakowitsch unter der stalinistischen Diktatur litt, zeitweise inhaftiert war und sein Überleben nur Stalins plötzlichem Tod verdankte. Mit dissonanten, ruppigen Doppelgriffen beginnt dieses Stück, das mit wilden Skalen im weiteren Verlauf sehr virtuos anmutet, bisweilen aber auch mit ganz, ganz leisem Wimmern Empfindungen wie Schmerz und Kapitulation ausstellt.
Aus dem zweiten Satz sticht ein markantes Zitat aus Prokofjews „Romeo und Julia“-Ballettsuite hervor, das immer wiederkehrt. Eigentlich ist der große Saal im Konzerthaus viel zu groß für eine derart intime Musik, aber natürlich wäre der kleinere viel zu klein für zwei so geniale Ausnahmemusiker wie Gidon Kremer und Martha Argerich. Beide bieten eine Intensität und Klangfülle auf, dass man sich an dem unadäquaten Raum nicht stört. Es ist Gidon Kremer, der die etwas zu lang geratene, spröde Solo-Komposition Weinbergs mit seinem Farbenreichtum und unbändigem Ausdruckswillen zum Ereignis macht. Ein schwächerer Interpret könnte sie vermutlich nicht so zur Wirkung bringen.
Als leichter zugänglich und rasant tolle Entdeckung entpuppte sich dagegen Weinbergs Sonate für Violine und Klavier op.53, überwiegend in der spätromantischen Tonsprache gehalten, durchwirkt von Momenten der Leidenschaft und martialisch-dramatischen Einschüben im gleichberechtigten Klavierpart. Da zeigt sich freilich die Klasse von Martha Argerich, immer noch eine „Löwin“ an den Tasten, wie man sie in ihren jungen Jahren nannte und anhaltend seit ihren letzten Berlin-Auftritten an der Seite von Barenboim in Hochform. Es war zu spüren, dass sie und Kremer ein eingespieltes Team sind, schon seit Jahrzehnten musizieren sie zusammen. Die viel gestellte Pianistenfrage „bin ich zu laut“ konnte hier getrost mit nein beantwortet werden. Es war vielmehr spürbar, wie die langen Weggefährten die von Trübsal, Schwermütigkeit, Depression, Rebellion und Sehnsucht bestimmte Musik gleich empfanden.
Dazu passte es, dass sie den Abend mit Prokofjews Violinsonate op. 94 eröffneten, in der es ähnlich burlesk, melancholisch und virtuos zugeht. Wie in den Stücken Weinbergs gaben die beiden Interpreten auch hier ganz besonders den leisen Tönen im Pianissimo Gewicht, denen sie geheimnisvoll nachlauschten.
Wiewohl sich die langjährigen Weggefährten schon lange nichts mehr beweisen müssen, war es doch ein Ereignis zu erleben, dass sie – er mittlerweile 72, sie 78 – unverändert ihrem großen Namen Ehre machen. Das ist in heutigen Zeiten nicht selbstverständlich, treiben sich doch im internationalen Musikgeschäft immer noch so manche Legenden herum, die ihren Zenit überschritten – und den Zeitpunkt ihres idealen Abschieds verpasst haben.
Von Kremer und Argerich scheint das Alter dagegen keinen Tribut zu fordern. Im Gegenteil, als junge Künstlerin litt die Argentinierin bisweilen so stark an Depressionen, dass sie Dutzende von Konzerten absagen musste. Im reiferen Alter ist sie nun so stark in Form wie vielleicht nie zuvor. Und immer wieder fragt man sich, woher nimmt diese Frau, die schon vor vielen Jahren eine schwere Lungenkrebsoperation hinter sich brachte, diese ungeheure Kraft?
Die Krönung war zweifellos Schuberts Violinsonate D 574. Vermisste man bis dahin noch ein bisschen das Schwelgerisch-Romantische, so kam man hier voll auf seine Kosten, aber das mitnichten mit ausladendem Streicher-Dauervibrato, das hier auch völlig fehl am Platze gewesen wäre. Das Schwere liegt bekanntlich im Einfachen, und die Größe von Kremer und Argerich lag nicht zuletzt darin, der Schlichtheit einiger Motive Rechnung zu tragen. Was für ein Abend!
Kirsten Liese, 22. Oktober 2019, für
klassik-begeistert.de