Foto: © Wilfried Hösl
Franz Schreker – Die Gezeichneten
Bayerische Staatsoper, 4. Juli 2017
Musikalische Leitung – Ingo Metzmacher
Inszenierung – Krzysztof Warlikowski
Bühne und Kostüme – Małgorzata Szczęśniak
Choreographie – Claude Bardouil
Video – Denis Guéguin
Dramaturgie – Miron Hakenbeck
Herzog Antoniotto Adorno – Tomasz Konieczny
Graf Andrea Vitellozzo Tamare – Christopher Maltman
Lodovico Nardi – Alastair Miles
Carlotta Nardi – Catherine Naglestad
Alviano Salvago – John Daszak
Kinderchor der Bayerischen Staatsoper
Chor der Bayerischen Staatsoper
Bayerisches Staatsorchester
von Maria Steinhilber
Nach langer Zeit kommt Franz Schreker mit seinen „Die Gezeichneten“ zurück auf die Münchner Opernbühne. Der Österreicher Schreker (1878 – 1934) war selbst ein „Gezeichneter“. Er stammte aus einer jüdischen Familie. Die Nationalsozialisten diffamierten seine Werke als „entartet“. Sie gerieten nahezu in Vergessenheit. Ende der 1970er Jahre setzte eine Schreker-Renaissance ein, die bis heute anhält.
In den 1920er Jahren galt Franz Schreker als einer der bedeutendsten Opernkomponisten in Deutschland nach Richard Wagner; seine Opern erreichten zeitweise höhere Aufführungszahlen als diejenigen von Richard Strauss. Wie dieser ist Schreker ein Spätromantiker – zugleich weist seine musikalische Sprache expressionistische Elemente auf.
Kein Vorhang bedeckt die Bühne, sie ist voll bespiegelt. Ein prall gefülltes Opernhaus ist zu sehen, eine Bar und ein langer Konferenztisch, vor dem Alviano Salvago, gesungen von John Daszak, sich niederlässt. Sein Kopf ist bedeckt mit einem Tuch, denn er gilt als abstoßend hässlich, das Gesicht verunstaltet von riesigen Warzen und Beulen.
Die ersten zehn Takte bescheren ein außergewöhnliches Klangerlebnis. Das bezirzende Anschwellen vom Piano bis zum Forte ist unglaublich schön, das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Ingo Metzmacher spielt ganz präzise. Der neblig zerfließende Klang des Klarinetten-Solos verzaubert. Auf der Bühne erscheint ein roter Feuerball. In Morgenrot getaucht befindet man sich im Elysium. Die Bühnentechnik funktioniert auf den Punkt genau „on fleek“.
Rezitativartig beginnen die Sänger. John Daszaks Tenor artikuliert sauber. Aus diesem, von der Maske gezeichneten und verstümmelten Mann, fließen gigantisch schöne Klänge. Die Stimme ist leicht und tänzelt durch den Abend.
Christopher Maltman als Graf Andrea Vitellozzo Tamare betritt die Bühne und zieht die Aufmerksamkeit seiner Kollegen auf sich. Der Bariton überzeugt von Anfang an. Sein Schauspiel ist authentisch und seine Stimme fließt samtig weich.
Stimmlich ebenbürtig ist ihm Tomasz Konieczny als Herzog Adorno. Deutlich erkennbar ist, dass der Pole nicht nur Gesang sondern auch Schauspiel studiert hat. Geballte, intonatorisch exzellente Bariton-Power und gekonnte schauspielerische Moves setzt er ein. Zurecht ein Weltstar!
Die Melodien erinnern an Strauss und Debussy, sind voller Kostbarkeiten und Feinheiten. Kinosaal oder Opernsessel? Das Geschehen fesselt und lässt so schnell nicht wieder los.
Die amerikanische Sopranistin Catherine Naglestad singt Carlotta Nardi. Carlotta verliebt sich in Alviano Salvago. Trotz seiner Hässlichkeit will sie ihn malen, denn sie sieht als Malerin nicht das Äußerliche. „Am liebsten male ich Seelen“, singt sie.
Im Duett sind die beiden ein sagenhaftes Team. Es liegt ein Zauber in der Luft. Ist es die Musik, das Schauspiel oder die Bühne? Die Musik ist seelenhaft, jeder Akteur gibt ein Stück seiner Seele, und so entstehen tausend musikalische Farbpartikel, die eine Gänsehaut erzeugen.
Zurücklegen und die Augen schließen vor Begeisterung geht nicht, sonst verpasst man die Inszenierung von Krzysztof Warlikowski. An jeder Ecke warten Überraschungen, Konzentration ist gefordert. Ob muskelbepackte Boxer, eine vollschlanke Gogotänzerin, mit Glitzerstrips beklebte Tänzer, Sänger mit Rattenköpfen oder fragwürdiges Videomaterial: Alles ist dabei. Dennoch ist es nicht zu viel und erschlägt nicht. Über manches rätselt das Publikum in der Pause.
Graf Andrea Vitellozzo Tamare erinnert in seiner Kostümierung an Leonardo DiCaprio in „The Wolf of Wallstreet“. Ein mächtiger Mann. Die Stimme Christopher Maltmans schüchtert nicht ein. Sie wird immer größer. Sie glänzt und beweist, dass die menschliche Stimme Zeit braucht, um warm zu werden.
Nach der Pause wird die FSK 16 (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) bemerkbar. Eine Prostituierte liegt im Glaskasten – die gebettete Seele im transparenten Raum – Sigmund Freuds Psychoanalyse lässt grüßen. Die Genitalien der zehn Tänzer sind mit Glitzer bedeckt. Ihr Tippeln und Wackeln erinnern an Darbietungen im Pariser Moulin Rouge.
„Diese Nacht liebe ich und ihre Schatten“, singt Carlotta. Für die Bayerische Staatsoper verläuft dieser Abend schattenlos. Zumindest nahezu. Wenn es einen Kritikpunkt gibt: Es fehlen die Namen bei den Untertiteln.
Das einzig Schöne für den entstellten Alviano Salvago ist Carlotta. Sie gibt sich aber Graf Andrea Vitellozzo Tamare hin. Ihr unheilbringender Lebenstrieb endet nach einer Liebesnacht für die Herzschwache tödlich. In einem weißen Kleid stirbt sie in der Glasvitrine. Ihre lange rothaarige Perücke gleitet langsam zu Boden. Fiebrig flirren auch die Violinen. In den Wahnsinn getrieben irrt Alviano auf der Bühne umher: die Tragödie des hässlichen Mannes.
Ungewöhnlich verhalten ist der Applaus. Das Publikum selbst mutiert zu Gezeichneten. Draußen rätselt die Jugend über diese Inszenierung der Münchner Opernfestspiele 2017, schwärmt von den Sängern und genießt die laue Münchner Sommernacht.
Maria Steinhilber, 5. Juli 2017, für
klassik-begeistert.de