So geht Wagner: Wahrhaftigkeit des Ausdrucks

Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg,  Semperoper Dresden, 26. Januar 2020 (Premiere)

Thielemanns grandiose „Meistersinger“ feiern in Dresden Premiere. Die Sänger übertreffen sich gegenseitig.

Semperoper Dresden, 26. Januar 2020 (Premiere)
Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg
Foto: © Matthias Creutziger

Musikalische Leitung: Christian Thielemann
Inszenierung: Jens-Daniel Herzog
Bühnenbild: Mathis Neidhardt
Kostüme: Sibylle Gädeke
Hans Sachs: Georg Zeppenfeld
Veit Pogner: Vitalij Kowaljow
Walther von Stolzing: Klaus Florian Vogt
Sixtus Beckmesser: Adrian Eröd
Fritz Kothner: Oliver Zwarg
David: Sebastian Kohlhepp
Eva: Camilla Nylund
Magdalene: Christa Mayer
Sächsische Staatskapelle Dresden
Sächsischer Staatsopernchor Dresden

von Kirsten Liese

Das Jahr hat gerade erst begonnen, da erreicht es bereits seinen Zenit mit überwältigenden Meistersingern, die man jetzt schon als eines der größten Opernereignisse des Jahres feiern möchte.

Natürlich stand das nach der grandiosen Premiere dieser von Christian Thielemann geleiteten Produktion bei den Osterfestspielen Salzburg im vergangenen Frühjahr  kaum anders zu erwarten. Und doch –  oder lag das an meinem besonders exquisiten Platz im Zentrum des Parketts ? – schien es mir, als hätten sich alle Mitwirkenden zur Dresden-Premiere noch gesteigert. Aber so einen Eindruck bringt Begeisterung im Überschwang gerne mit sich: Dass jede Vorstellung immer noch mehr euphorisiert als die vorangegangene.

Noch dazu erscheint es normal, wenn sich Sänger, die in hoch anspruchsvollen Partien ihr Rollendebüt geben, von Aufführung zu Aufführung noch mehr mit ihren Figuren verwachsen und dabei immer noch besser werden. Das ließ sich ganz besonders an dem grandiosen Georg Zeppenfeld in der gewichtigen Partie des Hans Sachs ausmachen, der in Salzburg vor allem im dritten Akt zur Hochform auflief, mittlerweile aber von Anfang an seinen profunden großen Bassbariton in voller Kraft erstrahlen lässt und mit einer unüberbietbaren Textverständlichkeit singt.

Zeppenfeld ist auch als Sängerdarsteller überwältigend gut, mir ist aktuell kein anderer bekannt, der die Partie vergleichbar eindringlich und bewegend zu gestalten vermag. Dies besonders im Widerstreit der Gefühle im dritten Akt, hin- und hergerissen zwischen väterlicher Fürsorge für den Junker Stolzing und seiner Liebe zu Eva, auf die er verzichtet, um dem Glück der jungen Leute nicht im Wege zu stehen.

Bei alledem standen insbesondere Christian Thielemann und seine Sächsische Staatskapelle angesichts der sich zu diesem Zeitpunkt zuspitzenden Streitigkeiten um die Zukunft der Osterfestspiele unter neuer Intendanz und der damit einhergehenden besonders starken Präsenz der internationalen Presse in Salzburg unter besonders hohem Erfolgsdruck.

Jedenfalls kam es mir so vor, als tönte das wunderbare Vorspiel diesmal befreiter und noch eine Spur breiter und langsamer, was den Forte-Klängen im Tutti sehr zugute kommt.

Insbesondere der erste Akt sei wegen vieler Tempowechsel und komplizierter Übergänge schwierig zu dirigieren, sagte Christian Thielemann auf der anschließenden Premierenfeier, was sich angesichts der auf der Bühne sichtbar werdenden zahlreichen szenischen Wechsel und des hohen personellen Aufgebots nachvollziehen lässt. Eine solche Auskunft erwies sich insofern allerdings auch als interessant, als sich annehmen ließe, dass der lange dritte Akt mit seinen vielen musikalischen Höhepunkten kräftemäßig Orchester und Dirigent das Meiste abverlangen würde.

Das überwältigende, einzigartige dieser Produktion zeigt sich freilich einmal mehr daran, wie liebevoll und minutiös sich alle, aber auch wirklich alle Beteiligten jedem noch so kleinen bedeutsamen Detail ihrer Stimme widmen. Alle verpflichten sich der Wahrhaftigkeit des Ausdrucks, sowohl das bis in die kleineste  Rolle des Nachtwächters (Alexander Kiechle) exquisit besetzte Sängerensemble als auch sämtliche Bläsersolisten, die dem hohen Anspruch einer Weltklasse Rechnung trugen:  Ob Oboe (Bernd Schober/Juan Pechuan Ramirez), Klarinette (Wolfram Große/Robert Oberaigner) oder Fagott (Joachim Hans/ Thomas Eberhardt) – jedes Instrument hat seinen Auftritt, sei es nun in Davids großer Szene Der Meister Tön‘ und Weisen oder in einer lyrischen Überleitung wie der zu Evas Besuch bei Sachs im zweiten Akt „Gut’n Abend Meister“.  Jochen Ubbelohde und Robert Langbein am Horn leiten makellos intonierend den wundervollen „Fliedermonolog“ ein, die hohen Streicher begleiten Walthers Preislied Morgendlich leuchtend im rosigen Schein  im denkbar zärtlichsten Ton,  die tiefen Streicher betören mit einem herrlich markigen Klang in der Einleitung zum dritten Akt und zu Sachs Wahn-Monolog.

Die ganze Partitur kommt mithin in einer außergewöhnlichen Transparenz zum Leuchten, Übergänge bereitet Thielemann spannungsreich vor, mal mit einem anschwellenden Crescendo zum Wach Auf-Chor, das einem schier den Atem verschlägt, mal mit kleinen Zäsuren vor bedeutsamen Stellen auch innerhalb einer großen Szene. Da wird es dann immer wieder ganz, ganz leise, so dass Georg Zeppenfeld im Fliedermonolog seine Verse Dem Vogel, der heut’ sang wie aus dem Nichts ansetzen kann oder ein magischer Duft in der Luft hängt, wenn Sachs als großer Souverän, nachdem er gerade auf sein Evchen verzichtet hat, über die selige „Morgentraum-Deutweise“ zu dem überirdisch schönen Quintett in Ges-Dur Selig wie die Sonne überleitet.

Klaus Florian Vogt, der sein Preislied aus einer ebensolchen Stille heraus anstimmt, beeindruckt einmal mehr mit seinem unverkennbaren hellen Timbre und lässt über die Größe seines Tenors staunen, die er unter so ausgeprägtem Einsatz seiner Kopfstimme erzielt. Und natürlich passt diese außergewöhnliche Stimme ideal zu der Figur des Außenseiters, der mit Sachs‘ Hilfe Aufnahme in den Zirkel der alten Traditionalisten finden soll, auf dass er die Frau seines Herzens heiraten darf.

Eben das fiel einem anlässlich dieser Dresden-Premiere erneut wie Schuppen von den Augen:

Wie sagenhaft aktuell und zeitlos Wagners Musikdrama gerade in der heutigen Zeit wirkt, wenn man einmal die unschöne Rezeptionsgeschichte im Dritten Reich, die in Dutzenden anderer Aufführungen schon ausgelotet und überbewertet wurde, beiseite lässt. Mit Wagners Geschichte um Konflikte zwischen den Generationen, Traditionalisten und Neuerern befinden wir uns doch mittendrin in der heutigen gespaltenen Gesellschaft, in der sich zunehmend die Jungen gegen die Generation ihrer Großeltern auflehnen – dies bisweilen irritierend uncharmant wie in dem unrühmlichen Lied von der Oma als „Umweltsau“, mit dem der WDR-Kinderchor kurz vor der Jahreswende an die Öffentlichkeit ging. Dazu passt dann sogar das verstörende Schlussbild in der Inszenierung von Jens-Daniel Herzog, in dem Eva und Stolzing der übrigen Gesellschaft eine Absage für ihre Ideale erteilen und das Weite suchen.  Auch wenn Wagners feierliche Musik die Utopie einer ausgesöhnten Gesellschaft feiert.

Aber war es dieses kleine Detail, das am Ende Buhrufer gegen das Regieteam auf den Plan brachte? Ich bin mir diesmal nicht sicher, ob diese Zuschauer  lieber eine Produktion gewollt hätten, die sich mit historischen Figuren an den Regie-Altmeistern Otto Schenk und August Everding orientiert oder ob sie einen weiteren politischen Kommentar vermissten, der sich an den Meistersingern als Nazi-Stück abarbeitet.

Nun bin ich vermutlich eine der letzten, die etwas gegen eine Inszenierung hätte, die auf alte große Vorbilder zurückgeht, gleichwohl hat mich Jens-Daniel Herzog mit seinem Versuch, die Geschichte mit heutigen Figuren zu erzählen, durchaus überzeugt.

Er verortet die Handlung in einem Theater mit Proszeniums-Logen zu beiden Seiten, die denen der Semperoper gleichen. Gemeint ist aber eigentlich das Staatstheater Nürnberg, dessen Zuschauerraum sehr ähnlich aussieht.

Die Konzeption Theater-auf-dem-Theater, der sich Regisseure gerne immer wieder bedienen, wirkt zugegeben ein wenig beliebig und wenig originell. Allerdings wird sie in dieser Produktion gar nicht so streng ausgelegt. Vielleicht muss man wie ich diese Produktion mindestens zwei Mal sehen, um festzustellen, dass ein Theater samt Bühne, Probenräumen, Garderoben und Werkstatt tatsächlich als  Ort eines Geschehens taugt, das sich intensiv mit der Kunst beschäftigt.

Gewiss, es mag  irritieren, dass Sachs wechselweise als Regisseur einer Aufführung – und dann wieder als Hobby-Schuster die Rollen wechselt. Aber den gesellschaftlichen Konflikten und emotionalen Befindlichkeiten, um die es in der Hauptsache geht, gibt Herzog auf berührende Weise Raum. Das betrifft  die Momente, in denen es um die innige, komplizierte Beziehung zwischen Sachs und Evchen geht wie auch die in ihrer ganzen Tragikomik sehr gelungene Szene der Begegnung von Beckmesser und Sachs im zweiten Akt. Mit Fliederbüschen in einem pittoresken Szenenbild (Bühne: Mathis Neidhardt) und einem in schönstem Azurblau schillernden Vorhang dahinter (raffinierte Lichtwechsel: Fabio Antoci) erfährt die Inszenierung in ihren schönsten Momenten auch Poesie, die sich Christian Thielemann ausdrücklich für seine Produktion gewünscht hat.

Ein großer Trumpf ist freilich auch der trefflich aufgelegte Adrian Eröd, der den Stadtschreiber Beckmesser in seiner ganzen Tragikomik facettenreich auslotet, sich köstlich wichtigtuerisch aufplustert, in seiner einfältigen Tölpelhaftigkeit blamiert und gleichwohl doch nicht gänzlich aus der Gemeinschaft verstoßen wird.

Mit Vitalij Kowaljow, dem grandiosen Wotan in Thielemanns Salzburger  Walküre, war zudem ein grandioser Spitzensänger in der kleineren Partie des Veit Pogner an Bord eines wahren Luxusensembles. Sebastian Kohlhepp präsentierte sich als ein in allen Registern seines Tenors agiler David, Camilla Nylund (Eva) und Christa Mayer (Magdalene) gaben den beiden Frauenfiguren eine starke Präsenz.

Der vorzügliche Gesamteindruck dieser musikalisch mit stehenden Ovationen gefeierten Premiere  lässt sich vielleicht mit der Neupräsentation eines Gemäldes nach seiner Restauration beschreiben: Nachdem es über die Jahrzehnte stark abgedunkelt und verkrustet war, erstrahlt es endlich wieder farbenprächtig in neuem Glanz.

Christian Thielemann und Jens Daniel Herzog haben das zusammen bewirkt. Ihre tolle Gemeinschaftsproduktion erlebt hoffentlich noch viele Vorstellungen.

Kirsten Liese, 27. Januar 2020, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

6 Gedanken zu „Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg,
Semperoper Dresden, 26. Januar 2020 (Premiere)“

  1. Schon lange keine Kritik mehr gelesen, die sich am Anfang und so ausführlich mit dem musikalischen Teil der Aufführung beschäftigt. Wohltuend. Vielen Dank.

    Thomas Uhlmann

  2. Liebe Leserinnen und Leser,

    vielen Dank für Ihr großes Interesse an meiner Rezension und Ihrer so begeisterten Resonanz!!!
    Das erfreut natürlich – gerade auch bei einem mit viel Herzblut geschriebenen Text!
    Beste Grüße, Ihre Kirsten Liese

  3. Dieser Rezension kann ich mit zwei kleinen Einschränkungen voll zustimmen. Ich habe am Do., 30.01., eine grandiose Aufführung der Meistersinger erlebt, was die Musik anbelangt. Deshalb möchte ich den Kommentar von Thomas Uhlmann ausdrücklich unterstreichen.

    Die Leistung des Staatsopernchores und seines Chordirektors waren ebenfalls überragend, was in dieser Rezension leider nicht herausgestellt wird – noch nicht einmal der Name des Chordirektors wird im Vorspann erwähnt. Am Schluss der Aufführung hätte ich ihm gerne besonders applaudiert. Das war leider nicht möglich, da er nicht auf der Bühne zu sehen war.

    Der „Versuch, die Geschichte mit heutigen Figuren zu erzählen“, hat mich nicht überzeugt. Zu stark war für mich der Widerspruch zwischen der alten Sprache Richard Wagners in den Meistersingern und den heutigen Figuren.

    Rudolf Reisinger

  4. Anzumerken ist , daß die Inszenierung nicht schlüssig war. Auch sind einige Anspielungen auf die personelle Situation in Salzburg eingebaut. Wo hat man schon einen Sachs im Frack gesehen? Und noch zu alledem, als Bühnenbild, die Bühne der Semperoper zu Dresden! Da steckt sehr viel Symbolik dahinter. Auch der Sachs, Georg Zeppenfeld, hat sich gegenüber der Salzburger Aufführung angenehm verbessert, er ist schon ein besonderer Sachs, als Bass, hier als bassbariton.

    Olaf Barthier

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