Ein absolutes Meisterwerk: John Neumeier erzählt Tennessee Williams’ „Glasmenagerie“ eindringlich, transzendierend und voller Wehmut

John Neumeier, Die Glasmenagerie,  Hamburgische Staatsoper, 31. Januar 2020

Foto: © Kiran West

Hamburgische Staatsoper, 31. Januar 2020

Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams’ „Die Glasmenagerie“

„Ein Ballett der Erinnerungen“

von Dr. Holger Voigt

Schon lange hatte sich der Intendant des Hamburg Balletts mit dem Gedanken getragen, Tennessee Williams’ „Glasmenagerie“ zu choreografieren. Dieses Werk des US-amerikanischen Schriftstellers prägte John Neumeiers Vita in ganz persönlichem Sinne. Der Regisseur der von ihm 1956 besuchten Vorstellung, Father John Walsh S.J., wurde ein enger Freund und Mentor des sich gerade erst entwickelnden Tänzers und späteren Choreografen und blieb es bis zu seinem Tode. Nun, mit 80 Jahren, realisierte John Neumeier diesen immer präsenten Wunsch, die innersten Welten der Protagonisten des Dramas in die Räume von Bewegungssprache hinein zu erweitern: Wo das Wort endet, beginnt der Tanz.

Die literarische Vorlage erzählt die Geschichte der Familie Wingfield, einer kleinbürgerlichen Familie der 1930er Jahre in der Stadt St. Louis im US-Bundesstaat Missouri. Die Familie ist schon nicht mehr vollzählig, wenn das Stück beginnt: Der Vater hat seine Frau Amanda (Patricia Friza) nebst Tochter und Sohn schon vor Jahren verlassen. Amanda muss den Lebensunterhalt selbst bestreiten, um ihre Kinder Laura Rose (Alina Cojocaru) und Tom (Félix Paquet) in diesen schweren Zeiten der Rezession durchzubringen. Sie verkauft deshalb Zeitschriftenmagazine auf der Straße, meldet ihre gehbehinderte und verträumte Tochter Laura in einem Schreibmaschinenkurs am Rubican’s Business College an, den diese aber nicht schafft und eigentlich auch gar nicht schaffen will.

Viel lieber verliert sie sich in ihre Traumwelten, die sich in ihrer Liebe für Glasfiguren, besonders der Figur des Einhorns (David Rodriguez) zeigt. Ihr Bruder Tom muss in der Continental Schuhfabrik arbeiten und hasst diesen Job. Er ist künstlerisch begabt und träumt von einer Karriere als Kunstmaler (in der literarischen Vorlage ist dieses ein Dichter). Tom hat einen guten Freund Jim O’Connor (Christopher Evans), der sportlich und gutaussehend ist und für den Laura schon früh zu schwärmen begonnen hat. Wann immer sie ins Kino geht, stellt sie sich die männlichen Filmstars als Jim vor und träumt, dass Jim ihre Liebe erwidern und sie zur Frau nehmen wird, was aber nie passieren wird, da Jim bereits mit einem Mädchen namens Betty (Priscilla Tselikova) verlobt ist. Ein Paar Laura und Jim schwebt auch ihrer Mutter Amanda vor, da sie ihre Tochter gut verheiratet wissen möchte. Amanda selbst hat aber eigene Träume, die indes eher in die Vergangenheit weisen, in der sie von zahlreichen Verehrern begehrt wurde.

© Kiran West

So sind alle Protagonisten in einer Wirklichkeit arretiert, die sie eigentlich nicht leben wollen. Sie alle suchen den Ausweg und finden ihn nicht, vielleicht bis auf Tom, der tatsächlich eine Karriere als Kunstmaler Tennessee macht (autobiografische Anlehnung an den Autor), aber darunter leidet, Mutter und Schwester verlassen zu haben. Hoffnungen, Wünsche und unerfüllbare Sehnsüchte angesichts einer perspektivlosen Realität füllen den zentralen Handlungsraum, der bei John Neumeier ein Küchentisch ist. Am Ende dämmert die Atmosphäre in ein Dunkel der Hoffnungslosigkeit dahin, als Laura beim Spiel mit den Glasfiguren die Kerzen anzündet, deren Licht allmählich mehr und mehr vergeht.

Aus dem choreografischen Vorsatz hat John Neumeier ein bewegendes, absolutes Meisterwerk geschaffen, das die Zuschauer sprachlos und begeistert zurücklässt, wie man es nur sehr selten erleben kann. Für diese Kreation übernahm der Ballettintendant zugleich auch das Bühnenbild (unterstützt von Heinrich Tröger), die Leitung der Lichtregie und die Kostümgestaltung. All dieses geriet ihm in wunderbarer, absolut perfekter Weise, die dem choreografischen Werk stets den psychologisch präsenten Inhalt auf den Leib schrieb.

Das Bühnenbild begeistert von der ersten Sekunde an. Bestechend der Einfall, den zentralen Raum mit transparenten Vorhangwänden auszugestalten, die dadurch sowohl Beengung als auch Durchlässigkeit aufzeigen. Frappierend die Idee, Tänzer des Innenraumes mit den Außentänzern über eine Projektion (Kiran West) zu spiegeln. Schon in früheren Werken war Neumeier immer wieder auf die Idee der Spiegelung gekommen, sogar bis hin zur virtuellen Spiegelung eines „Theaters im Theater“ oder „Bildes im Bild“.

© Kiran West

Die anderen Bühnenbereiche zeigen in wechselnder Abfolge die Außenwelten, beispielsweise den Kinosaal, in dem sich Laura ihren Fantasien hingibt, oder auch „Malvolio’s Magic Bar“, eine Schwulenbar, in der Tom Malvolio (Marc Jubete) kennen- und lieben lernt, was damals ein gesellschaftliches Tabu darstellte. Wie an die Protagonisten angeheftete Bindeglieder inszeniert Neumeier diese Außenwelten als lebenshistorische oder imaginierte Räume um den Zentralbereich herum. Er lässt in ihnen nicht nur Protagonisten, sondern auch deren virtuelle Duplikate zusammen auftreten. So bekommt selbst das von Laura so innig geliebte Einhorn einen eigenen Tänzer (David Rodriguez), und auch Tom wird als Tennessee (Edvin Revazov) choreografisch verdoppelt.

Von diesen geradezu genialen Einfällen gibt es eine nicht enden wollende Fülle zu beobachten, die immer wieder aufs Neue fasziniert und an der man sich gar nicht satt sehen kann.

Ein äußerst wichtiger Teil dieser emotional so anrührenden Kreation ist die zugrundeliegende, fast ätherisch klingende Musik von Charles Ives („The Unanswered Question“), Philip Glass („The Hours“) und Ned Rorem. Insbesondere die Filmmusik zu „The Hours“ von Philip Glass lässt in der ihr eigenen, geradezu narkotisch wirkenden, repetitiven Monotonie transzendierende Räume entstehen, in denen sich die Tanzbewegungen entwickeln und ausführen lassen. Sie verweisen auf eine das ganze Werk durchströmende affektive Ambivalenz, die sich nie mit klaren Brüchen auflöst, sondern immer neue visionäre Räume entstehen lässt – in bestem Sinne eine „virtuelle Realität“.

© Kiran West

Das dynamische An- und Abschwellen im Crescendo und Decrescendo gemahnt an Werden und Vergehen und bindet dabei Ebenen von Gegenwart und Vergangenheit mit Visionen unerfüllter Wünsche und Hoffnungen. Deren emotionale Substanz wird durch eigene Tänzer oder Tänzergruppen verkörpert, die sich aus den Raumbildern herausschälen und wieder verschwinden. Hinreißend, wie sich im Gefolge der Szene im Kinosaal Laura und Jim in der imaginierten Sehnsuchtserfüllung Lauras in einem wunderschönen, geradezu schwebenden Pas de deux verbinden, der die körperliche Behinderung Lauras visionär überwindet – überwältigend von Alina Cojocaru und Christopher Evans getanzt.

Das sich wie in einer Dauerschleife abspielende Musikmaterial von Philip Glass ähnelt zuweilen einer „unendlichen Melodie“ in Wagnerschem Sinn und erfasst die Zuschauer in geradezu narkotischer Dichte. Niemand kann sich der emotionalen Wirkung der Musik entziehen. Dabei nutzt Neumeier gerade diese Wirkungen, um sie choreografisch auf die Protagonisten zu projizieren: der monotone und deshalb ungeliebte Schreibmaschinenkurs, den Laura besuchen muss, obwohl sie doch lieber mit ihren Glasfiguren in ihrer Traumwelt leben möchte. Oder Tom, der eigentlich Kunstmaler sein möchte und sich stattdessen in der monotonen Arbeitswelt einer Schuhfabrik wiederfindet.

All diese Monotonien tragen musikalisch wie choreografisch Züge des Mathematischen, wobei Neumeier das Kunststück fertigbringt, diese Mathematik künstlerisch schön und originell aussehen zu lassen. Dabei fällt auf, dass er eine völlig neuartige Bewegungssprache entwickelt, die man in seinen Werken noch nie gesehen hat. Ihm gelingen überraschende und geniale, schön anzuschauende Bewegungsmuster, z.B. in der Szene am Küchentisch, in der sich die Familienmitglieder bei den Händen nehmen.

Die sich ständig wiederholende, nur durch Dynamik und Begleitmotive veränderliche Musik ist in ihrer Wirkung geradezu suggestiv und macht im Zusammenwirken mit den Tanzbewegungen fast schon süchtig. Sie beflügelt den Fluss des Geschehens, das im literarischen Werk selbst eigentlich eher statisch bleibt. So macht Neumeier aus vermeintlicher Statik Bewegung und erweitert somit das Drama um zusätzliche Dimensionen.

© Kiran West

Neumeier nennt das Ballett im Untertitel ein „Ballett der Erinnerungen“. Das ist sicher zutreffend, jedoch geht es tatsächlich weit darüber hinaus. Die Protagonisten leben in ihrer beengten Welt der 1930er Jahre in den USA, in der Zeit der „Great Depression“. Sie müssen damit zufrieden sein, was sie haben, aber ihre Visionen, Träume und antero- wie retrograde Projektionen bestimmen das Leben. Allen emotionalen Ebenen verleiht Neumeier Ausdruck, Form und Bewegung, alle Protagonisten finden immer wieder zusammen und kehren schlussendlich zum Zentrum des Williamsschen Mikrokosmos zurück: Dem zentralen Küchentisch. Hier schließt sich alles zusammen und vergeht mit dem Löschen der Kerzenlichter Lauras.

Das Philharmonische Staatsorchester Hamburg unter der Leitung von Luciano Di Martino spielte begeisternd subtil und sensibel und schuf damit den atmosphärischen Klangraum dieses faszinierenden Werkes.

Über die Tänzer fallen mir nur Superlative ein. Allen voran natürlich Alina Cojocaru als verträumte Laura Rose Wingfield, deren Rollengestaltung alle emotionalen Register in höchster Intensität und Ausdifferenzierung durchlief. Unvergesslich anrührend das betörende Schlussbild, in welchem sie umgeben von den verlöschenden Kerzenlichtern inmitten ihrer geliebten Glasfiguren in das Dunkel entgleitet.

Patricia Friza als Amanda Wingfield repräsentierte mit großartiger Rollengestaltung sowohl die sorgende Mutter als auch die ihrer Vergangenheit hinterherlaufende verlassene Ehefrau.

Edvin Revazov als Tennessee tanzte brilliant und ausdrucksstark die Rolle des zum Kunstmaler gewordenen Tom Wingfield, der von Félix Paquet sensibel und in allen Situation glaubwürdig dargestellt wurde.

Sein Freund Jim O’Connor, dargestellt durch Christopher Evans, war die ideale Besetzung eines familiär Außenstehenden, der die in ihn gesetzten Hoffnungen und die auf ihn projizierten Sehnsüchte nicht einlösen konnte und damit die Hoffnunglosigkeit innerhalb der in einer beengten Welt lebenden Familie verstärkte.

Diese Ballett-Kreation von John Neumeier ist ein absolutes Meisterwerk, sicherlich eines seiner bedeutendsten Werke überhaupt. Hier soll nun aber auch ganz nachdrücklich darauf hingewiesen werden, dass sich die Anerkennung ohne Abstriche an das ganze Team aus Ballettmeistern, Choregrafen, Skript-Assistenten u.a. richtet – allen gebührt Dank und höchste Anerkennung! Und dieser Dank geht natürlich auch und besonders an die TänzerInnen des Hamburg Balletts, deren eigene kreative Gestaltungskraft stets die Entwicklung eines neuen Werkes erst ermöglicht und damit ganz wesentlich prägt.

Für John Neumeier dürfte es wohl immer schwierig sein, den richtigen Zeitpunkt zum „Abnabeln“ zu finden – also den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem das Werk Aufführungsreife erlangt hat. Und wir alle wissen, dass das Werk damit noch lange nicht fertig ist, wie so viele Werke eigentlich nie richtig fertig werden. Was nichts Weiteres bedeutet, als dass das eigentliche Kunstwerk der kreative Entstehungsprozess ist. Solange die Arbeit im Ballettsaal Derartiges hervorzubringen vermag, solange kann sich das Publikum stets aufs Neue auf das Hamburger Ballett freuen. John Neumeiers „Glasmenagerie“ ist so intensiv, dicht und reichhaltig, dass man dieses Werk mehrere Male ansehen sollte, ja eigentlich muss. Hoffentlich hören dieses die Programmgestalter und setzen es baldmöglichst wieder auf den Spielplan.

Für die grandiosen Leistungen von TänzerInnen und Orchester gab es verdienten, tosenden Applaus. Zahlreiche Blumensträuße erreichten unter großen Beifallsstürmen ihre AdressatInnen.

Dr. Holger Voigt, 03. Februar 2020, für
klassik-begeistert.de

Ballett von John Neumeier nach Tennessee Williams

„Die Glasmenagerie“

Ein Ballett der Erinnerungen

31. Januar 2020

Musik: Charles Ives, Philip Glass, Ned Rorem

Choreografie, Bühnenbild, Licht, Kostüme: John Neumeier

Mitarbei Bühnenbild: Heinrich Tröger

Filme: Kiran West

Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Musikalische Leitung: Luciano Di Martino

Besetzung

Laura Rose Wingfield: Alina Cojocaru

Amanda Wingfield: Patricia Friza

Tom Wingfield: Félix Paquet

Jim O’Connor: Christopher Evans

Tennessee: Edvin Revazov

Das Einhorn: David Rodriguez

Malvolio: Marc Jubete

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