Jacques Offenbach, Die schöne Helena
Komische Oper Berlin, 14. Oktober 2017
Stefan Soltesz, Dirigent
David Cavelius, Chorleitung
Barrie Kosky, Inszenierung
Rufus Didwiszus, Bühne,
Buki Shiff, Kostüme
Nicole Chevalier, Helena
Tansel Akzeybek, Paris
Peter Renz, Menelaus
Stefan Sevenich, Kalchas
Maria Fiselier, Orest
von Yehya Alazem
Barrie Kosky ist ein Genie! Der Regisseur, der im Sommer das Publikum und die ganze Opernwelt mit seiner Inszenierung von Richard Wagners „Die Meistersänger von Nürnberg“ in Bayreuth im Sturm genommen hatte, schafft, was niemand anders schaffen kann. Er hat ein unglaubliches Fingerspitzengefühl für Bühnenkunst. Der Australier, der die Komische Oper Berlin seit der Spielzeit 2012/2013 als Intendant und Chefregisseur leitet, hat in den letzten Jahren für eine Operettentradition im Haus gesorgt.
Seine Inszenierung der „schönen Helena“ von Jacques Offenbach ist ein „All-in-One“-Erlebnis. Alles, was der Mensch braucht, findet man da. Eine Inszenierung, die allen passt – ungeachtet von Alter, Geschlecht, Herkunft oder Religion. Manchmal macht sie Sinn, und manchmal ist sie total unsinnig – am Ende macht sie zufrieden.
Wie Kosky selbst sagt, ist diese Operette eine Mischung voller Erotik und Unsinn, die sich dem Surrealismus naht. Das mythische Thema eignet sich jedoch für jede Zeit.
Die schöne Helena ist mit ihrem alten, im Rollstuhl sitzenden Ehemann unzufrieden. Der schöne Prinz Paris, der Helenas Interesse geweckt hat, indem er die richtige Antwort auf jede Frage in einem Wettkampf hatte, gewinnt das Herz der schönen Frau am Ende.
Wir sind weder im alten Griechenland, wo die Geschichte eigentlich spielt, noch in Paris, wo alles in dieser Inszenierung zu sein scheint. Wir sind einfach in der Komischen Oper in Berlin. Die Zeit ist einfach jetzt.
Musikalisch kann der Abend jedoch verwirrend sein. Die Partitur von Offenbach wird oft zur Seite gelegt, und wir hören in den gesprochenen Dialogen musikalische Zitate von vielen anderen Komponisten – die 6. Symphonie von Gustav Mahler, die 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven, die Ouvertüre der „La Forza del Destino“ von Giuseppe Verdi, das Leitmotiv des Agamemnons aus Richard Strauss’ „Elektra“ und last not least: vieles von Richard Wagner.
Hier markiert Kosky den Antisemitismus, dem Jacques Offenbach seinerzeit ausgesetzt war, ohne zu meinen, dass die Musik Wagners antisemitisch sei. Aus einem alten Grammophon hören wir musikalische Abschnitte aus dem „Tannhäuser“, aus der Schlussszene der Brünnhilde und Siegfrieds Trauermarsch in der „Götterdämmerung“ sowie Sentas Ballade aus dem „Fliegenden Holländer“. Als Kontrast hören wir das hebräische Volkslied „Hava Nagila“.
Im dritten Akt nutzt der Australier auch französische Chansons (begleitet von einem Ziehharmonikaspieler an der Seite): Helena singt das durch Édith Piaf berühmte Lied „Non, je ne regrette rien“, Menelaus singt das Lied von Jacques Brel „Ne me quitte pas“. Die französische Phrase „Ne me quitte pas“, auf Deutsch „Nein, verlass mich nicht“, wird auch die letzte Phrase der Inszenierung, wenn Menelaus seine hübsche Geliebte mit seinem jungen Prinz Paris erblickt.
Die musikalischen und dramatischen Leistungen ließen nichts zu wünschen übrig. Alle Rollen, von den Haupt- bis zu den kleinsten Nebenrollen, waren perfekt durchgedacht und besetzt.
Peter Renz verkörperte den alten, traurigen und hoffnungslosen Menelaus mit Bravour. Er hat eine Tenorbuffo-Stimme, die für diese Rolle geeignet ist. Dramatisch war er ebenso souverän.
Die junge niederländische Mezzosopranistin Maria Fiselier stellte einen glaubwürdigen Orest dar. Ihre Stimme ist hell und liegt ziemlich hoch für eine Mezzosopranistin, verlor aber ihr Gewicht nicht und hielt die ganze Zeit den Charme durch.
Stefan Sevenich stand als Kalchas im Zentrum dieser Inszenierung. Er war der Motor der Handlung. Vokal war er voll überzeugend – auch, was er als dramatische, lustige und sogar akrobatische Leistung ablieferte, war umwerfend. Er war mit so vielen Kissen gefüllt, dass er wie ein Ball aussah, ließ sich aber von seinem Aussehen nicht daran hindern, auf der Bühne Ballett zu tanzen und Rollschuh zu fahren. Wie er die Wagnerarien für Sopranlage, wie die Ballade der Senta oder die Hallenarie der Elisabeth imitierte, war einfach fantastisch.
Tansel Akzeybek, deutscher Tenor türkischer Abstammung, der schon den jungen Seemann in „Tristan und Isolde“ in Bayreuth gesungen hat, stellte einen hervorragenden Prinz Paris dar. Egal ob er als Cowboy, Kardinal oder Prinz mit weißem Dinnerjacket auftauchte, bezauberte er das Publikum. Sein Tenor ist ein wenig dünn, hat aber einen schönen lyrischen Glanz. Im tiefen Register klang er manchmal zu angestrengt, bei den langen Tönen und den charmanten Passagen im höheren Register brillierte er.
Der Star des Abends war die amerikanische Sopranistin Nicole Chevalier. Was für eine Weltklasse-Leistung! Sie ist hübsch, elegant und charmant. Eine bessere Traumbesetzung für die schöne Helena konnte man kaum finden. Sie strahlte als hellster Stern und entzückte den ganzen Abend das Publikum mit ihrem wunderbaren Aussehen, ihrer Ausstrahlung, Sensualität und Gestaltungskraft. Sowohl dramatisch als auch musikalisch war sie phänomenal. Ihr Sopran ist glockenklar, präzis und verliert nie seine Eleganz. Sie singt nicht nur schön, sondern auch ausdrucksstark und textverständlich. Sie stellte keine Helena dar; sie WAR die schöne Helena.
Das Orchester und der Chor der Komischen Oper unter Stefan Soltesz brachten die Freude und die Energie aus der Partitur Offenbachs hervor. Das Orchesterspiel war die ganze Oper hindurch kompakt und homogen . Überzeugend auch, wie die Musiker den Anfang der 5. Symphonie Beethovens und der 6. Symphonie Mahlers spielten.
Nach dem Ende der Vorstellung war das ganze Publikum in Ekstase. Was hatten die Leute an diesem Abend nicht erhalten? Nichts! Es gab Musik, Theater, Komödie und Tanz, und alles war auf absolut höchstem Niveau.
Yehya Alazem, 15. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de
Foto: Komische Oper Berlin