Jean Muller, Klavier
Klangmanufaktur, 17. Oktober 2017
Klaviersonate Nr. 24 in Fis-Dur op. 78 „A Thérèse“
Klaviersonate Nr. 19 in g-moll op. 49/1
Klaviersonate Nr. 20 in G-Dur op. 49/2
Klaviersonate Nr. 29 in B-Dur op. 106 „Hammerklavier“
von Sebastian Koik
Vier Klaviersonaten von Beethoven stehen auf dem Programm. Es beginnt in der ersten Hälfte mit der Klaviersonate Nr. 24 und den beiden Sonaten Nr. 19 und 20. Jean Muller spielt dramatisch, mit viel Tiefe und Esprit. Jean Mullers musikalische Gestaltung im Andante der Klaviersonate Nr. 19 ist einfach wundervoll, sein Timing perfekt und wunderschön. Etwas schwächer und weniger raffiniert gestaltet er den schnellen zweiten Satz. Dieser wirkt – auf sehr hohem Niveau – leicht zu steif und nicht spritzig genug. Die Sonate Nr. 20 vermag verwöhnte Ohren nicht so ganz zu begeistern. Aber das war ohnehin nur das Aufwärmprogramm!
Nach der Pause kommt das große Stück des Abends: Die Klaviersonate Nr. 29 in B-Dur op. 106 „Hammerklavier“. Ein gewaltiges Klavierstück! Es ist eine technisch und musikalisch unheimlich schwer zu spielende Sonate. Die Komposition war eine enorme Herausforderung für Ludwig van Beethoven selbst. Er rang nicht nur mit dem Stück, sondern rang in dem Stück mit sich selbst. Ganze zwei Jahre arbeitete und kämpfte Beethoven mit dem Stück und machte in der Zeit so gut wie nichts anderes.
„Verzweiflungen, Fluchtpläne, Todesängste, aber auch klares Bewusstsein der eigenen Meisterschaft, künstlerische Selbstsicherheit und grandioser Selbstbehauptungswille gingen in die Hammerklaviersonate ein“, schrieb die Kritiker-Legende Joachim Kaiser.
Am Ende war der Knoten geplatzt. Beethoven hatte mit der Hammerklavier-Sonate nicht nur eines der allergrößten Werke der gesamten Klavierliteratur geschaffen, sondern schuf danach einige weitere seiner größten Werke überhaupt. Ein Durchbruch. Alfred Brendel, einer der größten Pianisten sagte: „Nach Umfang und Anlage geht die Hammerklaviersonate weit über alles hinaus, was auf dem Gebiet der Sonatenkomposition jemals gewagt und bewältigt wurde.“
Es ist ohne Frage ein besonderes Werk. Die Große Sonate für das Hammerklavier galt lange Zeit als unspielbar und wurde erst Jahrzehnte nach Beethovens Tod von Franz Liszt zum ersten Mal öffentlich aufgeführt.
Bei großen Solisten ist oft zu beobachten, dass sie in den schwierigsten und komplexesten Werken am meisten glänzen. Sie brauchen die Herausforderung! Sie müssen selbst zu einhundert Prozent vom Stück begeistert sein und dafür brennen. Stücke, die sich technisch und musikalisch Richtung Unspielbarkeit bewegen, sind ihnen gerade gut genug. Das ist der Lebensraum, in dem sie zur vollen Blüte gelangen, hier wird ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert und hier müssen sie sich mit ihrer Existenz hineinwerfen, um angesichts der gewaltigen Komposition zu bestehen.
Was heute in der Klangmanufaktur in der zweiten und längeren Konzerthälfte passiert, ist ein großes musikalisches Fest!: Der wunderbare Jean Muller spielt die Hammerklavier-Sonate nicht – er zelebriert sie. Er spielt nicht Note für Note einer auswendig gelernten Partitur „runter“, sondern erschafft etwas Großes, Schönes, Wahres. Er schafft es in das Stück einzutauchen und im Fluss mit der Musik zu agieren. Es gibt keine Trennung zwischen der Komposition und dem Pianisten.
Muller packt einen mit dem ersten Ton und lässt einen nicht mehr los, spielt leidenschaftlich, kraftvoll, spritzig und attackiert zackig. Er musiziert enorm musikalisch, herrlich dramatisch, intensiv und tief. Es bleibt überhaupt nichts zu wünschen übrig. Der luxemburgische Pianist spielt sehr mutig und reich, berührt mit seiner Kunst und hält eine wunderbare musikalische Spannung – einmal wunderbar aggressiv und dann wieder fein zärtlich. Mullers Anschlag ist knackig-präzise.
Was für ein Stück!
Was für ein großartiger Interpret!
Diese Hammerklavier-Sonate so zu erleben ist die pure Freude! Im dritten Satz stecken sehr viel Schmerz, Hoffnungslosigkeit und ein passives Abfinden damit. Es scheint, als befände sich das ganze Universum in der Sonate. Teilweise klingt die Musik so sehr expressiv, dass man sie eher im 20. oder gar 21. Jahrhundert verorten würde. Die 200 Jahre alte Musik hat nicht die geringste Spur Rost angesetzt, ist immer noch taufrisch und voller Kraft.
Die Hammerklaviersonate ist in geistiger und technischer Hinsicht Beethovens schwierigstes Klavierwerk. Muller spielt sich mit diesem großen Stück in den Musikhimmel – und nimmt alle Zuhörer mit. Selten hat man so ein aufmerksames, gefesseltes Publikum erlebt. Leidenschaftlich, mitreißend, energiereich nimmt die Musik die Zuhörer mit auf eine Reise. Im langsamen Teil musiziert Muller voller Spannung und in schnelleren Passagen setzt er die Wildheit der Musik mitreißend und lebendig um. So wie Muller das hier macht, ist Musik ein großes Abenteuer.
Noch einmal Joachim Kaiser: „Die Hammerklaviersonate macht auch anspruchsvoll. Von ihr berührt, wird man ungeduldig gegenüber vielem Mittelmäßigen und Mäßigen, das sich wer weiß wie aufspielt und doch nichts anderes ist als eine höhere Form der Belästigung.“ Es ist schwierig und wundervoll, anspruchsvoll zu sein. Alle Zuhörer, die dieses sensationelle Konzert mit vollendeter Musik und einem brillanten Interpreten erleben durften, sind in Gefahr Mittelmäßigkeit weniger zu akzeptieren als bisher – und dürfen sich auf große Musik und kongeniale Musiker konzentrieren, wie zum Beispiel Beethoven, Bach und Muller.
Als Zugabe spielt Jean Muller die Aria aus den Goldberg Variationen von Johann Sebastian Bach, um sich selbst zu beruhigen, wie er sagt. Auch die zelebriert er wundervoll und mit viel Tiefe. Er drückt ganz wunderbar dieses Überweltliche, Himmlische, Tröstende und Heilende der Musik aus. Er trifft herrlich den Bach’schen Ton und führt die Zuhörer noch einmal für kurze Zeit in den Klaviermusik-Himmel.
Sebastian Koik, 18. Oktober 2017, für
klassik-begeistert.de