Joshua Bell: Bühne frei für einen außergewöhnlichen Dramaturgen

Wiener Symphoniker
Joshua Bell, Violine
Lahav Shani, Dirigent
Wiener Konzerthaus, Großer Saal, 16. Oktober 2017
Sergej Prokofjew, Symphonie Nr. 1 D-Dur op. 25
«Symphonie classique»
Jean Sibelius, Konzert für Violine und Orchester d-Moll op. 47
Johann Sebastian Bach, Partita Nr. 3 E-Dur BWV 1006
für Violine solo (3. Satz: Gavotte en Rondeau) – Zugabe
Wolfgang Amadeus Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll K 550

von Jürgen Pathy (klassikpunk.de)

Das Wiener Konzerthaus war am Montagabend Schauplatz eines großartigen Dramas in 3 Sätzen: Joshua Bell erfüllte die in ihn gesetzten hohen Erwartungen zur Gänze – ein fulminanter Auftritt des US-amerikanischen Virtuosen.

Doch alles der Reihe nach. Den Anfang gestalteten der junge israelische Dirigent Lahav Shani und die Wiener Symphoniker mit der 1. Sinfonie von Sergej Prokofjew. Das Wiener Orchester und der in Tel Aviv geborene Kapellmeister konnten bereits gemeinsame Erfahrungen sammeln: im Januar 2016 dirigierte die Nachwuchshoffnung das Ensemble auf einer Europa-Tournee bei Konzerten in Frankfurt, Paris und München. Seit der Saison 2017/18 ist der Israeli Haupt-Gastdirigent des renommierten Wiener Sinfonieorchesters.

Beim Namen Sergej Prokofjew erschrecken viele Gemüter, weil sie dissonante Musik erwarten. Bei der 1. Sinfonie des Russen ist diese Befürchtung jedoch unbegründet – die D-Dur Sinfonie Opus 25 gleicht der unkomplizierteren und leichter durchschaubaren Tonsprache von Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn. In Anlehnung an die Wiener Klassiker bezeichnete der Absolvent des Sankt Petersburger Konservatoriums sie mit „Symphonie classique“.
„Bei meinem Spaziergang konzipierte ich ein Werk. Es war eine Sinfonie im Stil Joseph Haydns, denn ich wusste aus dem Kompositionsunterricht, dass Haydns Technik besonders klar ist“, schrieb der junge russische Komponist in sein Tagebuch.

Dieses heitere sinfonische Werk aus dem Jahr 1917 klingt wie eine Auflehnung gegen die bitteren Zeiten der Russischen Revolution. Die Musik, deren Witz und Esprit die Herzen der Hörer und Hörerinnen eroberte, zählt zu den beliebtesten Werken des Komponisten. Die Uraufführung fand am 21. April 1918 in Petrograd (Sankt Petersburg) statt. Kurze Zeit später kehrte der junge Komponist der russischen Tristesse den Rücken zu und übersiedelte nach Amerika.

Die Sinfonie besteht aus vier Sätzen und die durchschnittliche Aufführungsdauer beträgt 15 Minuten. Zu Beginn steht ein klassisches Allegro: die zarten Streicher-Melodien und die in Joseph Haydns witzigem Stil komponierten Staccato-Klänge des Fagotts wurden vom Orchester sehr erfrischend vorgetragen. Dem folgt ein träumerisches Larghetto mit paradiesisch-sanft fließender Musik. Den dritten Satz gestaltete Sergej Prokofjew als Gavotte, als höfischen Tanz, gefolgt von einem Finale: Molto Vivace im vierten Satz. Dirigent und Orchester wirkten vertraut und gut eingespielt und durften den gebührenden Applaus entgegennehmen – überschwänglicher Sonderapplaus für die Holzbläser.

Nach einer kurzen Pause erschien der Star und das Zugpferd des Abends auf der Bühne des vollbesetzten großen Saales des Wiener Konzerthauses: Joshua Bell. Eines sticht sofort ins Auge: der mittlerweile 49-Jährige schien optisch mindestens zehn bis fünfzehn Jahre jünger! Jungbrunnen Musik oder wurde anders nachgeholfen? Seit mittlerweile 35 Jahren begeistert der in Bloomington, Indiana, geborene Virtuose Konzertbesucher auf der ganzen Welt. Der mehrfach mit dem Grammy und dem ECHO Klassik ausgezeichnete Superstar versetzte an diesem Abend auch das Wiener Publikum in eine andere Dimension. Seit dem Jahr 2001 spielt der umjubelte Star auf der „Gibson ex Hubermann“-Stradivari (1713).

Mit dem Violinkonzert in d-Moll hat der finnische Komponist Jean Sibelius ein technisch ungeheuer schwieriges Werk verfasst: der Solist kommt selten zu Ruhe, die Orchestrierung ist hingegen beinahe zur Gänze als Begleitung konzipiert. Die Uraufführung dieses Meisterwerks, am 8. Februar 1904 in Helsinki, geriet zum Misserfolg, weil der Geiger diesen besonderen technischen Herausforderungen nicht gewachsen war; der Komponist selbst dirigierte. Dieses Schicksal war am Montagabend niemals zu befürchten – der US-Amerikaner entführte das Publikum auf eine atemberaubende Reise durch den Norden, durch die Wälder der Taiga, vorbei an tiefblau-schimmernden Seen, an düstere Orte aber auch zum farbenfroh glänzenden Nordlicht. Unter Joshua Bells Händen gedieh das Meisterwerk des 20. Jahrhunderts zu einem Drama, das Shakespeare und Goethe nicht aufwühlender hätten schildern können – spannend, aufregend, erschütternd und traurig zugleich. Stimmig begleitet vom Wiener Ensemble unter dem Taktstock des israelischen Newcomers.

Einziger Kritikpunkt: während der kurzen Pausen wandte der zum Instrumentalisten des Jahres 2010 gekürte Geiger dem Publikum regelmäßig den Rücken zu – ein etwas verstörender Anblick, der den grandiosen Auftritt jedoch keines Wegs schmälern konnte. Diese Darbietung war sensationell – Gänsehautmomente inklusive! Tosender, minutenlanger Applaus entlockte dem Weltstar eine Zugabe. In einer kurzen Ansprache erläuterte er, weshalb er sich für die Gavotte der Partita Nr. 3 von Johann Sebastian Bach entschieden habe: zuvor hatte das Publikum bereits eine Gavotte von Prokofjew gehört, deshalb empfände er eine weitere für schlüssig. Zu einer weiteren Kostprobe seines außergewöhnlichen Könnens ließ er sich nicht mehr hinreißen, verschwand rasch hinter der Bühne und entließ die Zuschauer in die Pause.

Nach der Pause stand mit der g-Moll Sinfonie von Wolfgang Amadeus Mozart ein musikhistorisch bedeutendes und bekanntes Werk auf dem Programm. Beinahe jeder kennt die Anfangsmelodie – sie stellt eine Besonderheit dar: es fehlt die für die Sonatenhauptsatzform typische Einleitung in Forte Allegro. Laut dem verstorbenen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt beginnt sie stattdessen „mit einem Gemurmel in g-Moll“. „Der letzte Satz beinhaltet Dinge, die in keiner einzigen Sinfonie von Mozart,  Joseph Haydn und sogar von Ludwig van Beethoven vorkommen“, fügte der ausgewiesene Mozart-Spezialist hinzu. Ein weiteres besonderes Merkmal des sinfonischen Werks: nur zwei von seinen insgesamt 41 Sinfonien hat Mozart in einer Moll-Tonart geschrieben.

Das Dirigat ließ im ersten Satz die nötige Dramatik vermissen, die schärfer akzentuierte Streicher hätten erzeugen können. Zu lahm und unspektakulär führte der 28 Jahre alte Dirigent den Klangkörper durch das Molto Allegro des Anfangssatzes. Der langsame zweite Satz gelang dem sichtbar eingespielten Ensemble und dem Taktgeber wiederum zauberhaft schön. Die wohltuenden Klänge verzauberten in Symbiose mit dem überwältigenden Jugendstil-Ambiente des Wiener Konzerthauses den Besucher in eine längst vergangene Zeit. Lahav Shani, der die Klangvorstellungen seiner Förderer Zubin Mehta und Daniel Barenboim weitertragen möchte, ließ den Geigern im dritten Satz teilweise freien Lauf – das zeugte vom großen Vertrauen in das grandiose Sinfonieorchester.

Wer sich von den fantastischen Klängen der Wiener Symphoniker verzaubern lassen möchte, dem bieten sich in naher Zukunft folgende Termine: ab 19. Oktober 2017, in „Wozzeck“ (Oper / Alban Berg) im Theater an der Wien;  am 24. Oktober 2017 mit der Symphonie Nr. 2 (Robert Schumann) und dem Konzert für Violine und Orchester (Johannes Brahms) im Wiener Konzerthaus: Solist Julian Rachlin.

Fazit des Abends: Auf den ersten Blick mag das Programm willkürlich erscheinen, bei genauerer Betrachtung erscheinen jedoch einige Schnittpunkte: die Sinfonie Nr. 1 von Sergej Prokofjew und die g-moll Sinfonie (KV 550) von Wolfgang Amadeus Mozart sprechen die gleiche Tonsprache der Wiener Klassik; Prokofjew (1891 – 1953) und Janne „Jean“ Sibelius (1865 – 1957) lebten in der gleichen Epoche; Mozart und der Russe Prokofjew fühlten sich beide von den Idealen der Freimaurerei angezogen und waren Mitglieder des Geheimbundes. In Summe ist es ein reizendes, wirkungsvolles Potpourri gewesen, mit einem hervorragenden Solisten, einem erstklassigen Orchester und einem jungen Dirigenten, der noch beweisen muss, ob er den Weg zum Olymp meistern wird.

Jürgen Pathy (klassikpunk.de), 19. Oktober 2017,
für klassik-begeistert.at

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert