Fest, konzentriert, stimmlich sicher, auch im Ausdruck der Unsicherheit gerade heraus singt Pavol Breslik. So wie ein bodenständiger Bauersmann eben ist, der das Herz am rechten Fleck hat und Hirn dazu. Ein bleibender Eindruck.
Bayerische Staatsoper, München, Live-Stream am 8. Februar 2021
Rezension des Videostreams: Montagsstück XIII – Leoš Janáček: Zápisník zmizelého – Tagebuch eines Verschollenen, JW V/12
Foto: Pavol Breslik / facebook.com (c)
Tenor Pavol Breslik
Mezzosopran Daria Proszek
von Frank Heublein
Dieses Tagebuch eines Verschollenen besteht aus 22 kleinen Gedichten, die Leoš Janáček 1917-1919 vertonte. Die Vertonung hat einen starken persönlichen Aspekt. Er verliebte sich im Alter von 62 in die 26 Jahre junge Kamila Stösslová. Bei dem in einer Zeitung veröffentlichten Text und seiner Vertonung, so schreibt er in einem Brief, dachte er stets an sie.
Jan, ein Bauerssohn, trifft eine Zigeunerin. Er singt „blieb mir so im Kopf zurück / wohl Nacht und Tag lang“. Gedankenvoll und gleichzeitig gedankenverloren sitzt Tenor Pavol Breslik als Jan an einem Tisch, ein unauffälliges Grünzeug auf der Tischdecke stehend. Denn die junge Frau verfolgt ihn in seinen Gedanken, Jan tigert hin und her.
Die szenische Einrichtung von Friederike Blum zeigt nicht in den Publikumsraum, sondern in die Bühnentiefe hinein. So kann die Weite des Publikumsraums für Effekte genutzt werden. In der Mittelloge werden „Glühwürmchentänze“ entfacht, wenn Jan das Gedicht „Wie der Glühwürmchen Spiel“ singt. Ein effektvoller gelungener Einfall.
Robert Pechanec am Klavier begleitet Jan bei seinen Empfindungen. Mal zärtlich, mal dramatisch, mal innerlich fast jubilierend. Immer unstet, hin- und hergerissen, ein wahres Wechselbad der Gefühle. Mit stillen Pausen durchsetzt.
Während des Pflügens passt die junge Zigeunerin Seffka Jan ab. Er singt „Steht die schwarze Seffka, / steht sie am Erlenrand, / ihre dunklen Augen / glühn wie Funkenbrand.“ Lockruf des Weibes. Doch zugleich und der Furcht sich und sein gewohntes Leben zu verlieren.
Seffka kommt singend zu Wort in „Sei willkommen, Jan“. So lockend verführerisch ist die Stimme von Mezzosopranistin Daria Proszek. Von ihr sehe meist nur den Haarschopf, kann nur in seltenen Momenten ihr Profil im schalen Halbdunkel erhaschen, eher erahnen als erkennen. Geschickt lenkt so die Regie meine Neugier auf dieses Wesen, das Jans Gedanken und Gefühle bestimmt.
Von weit oben aus der seitlichen Bühnenseite heraus besingen drei Frauenstimmen mit hochfeiner transparenter Stimme – des Schicksals? –, Jans Verfallen an Seffka: „Und das düstre Lied süß ins Herz ihm schwoll“.
Pavol Breslik als Jan spielt das „schwellende Herz“ auf dem erhöhtem Podium, indem er sein Gesicht in einen aufgestellten Blumenstrauß vergräbt. Er zerzaust und fleddert den Strauß in seiner emotionalen Gespaltenheit. Seffka verführt Jan im Gesang „Zog von der Brust sie sacht, / zog sie ihr Hemdlein weg, / Und all sein warmes Blut stürzt’ ihm / zu Kopf vor Schreck.“ Aha! Sie verbringen die Nacht miteinander.
Nur in diesem kurzen aber handlungswichtigen Ausschnitt treten die weiblichen Stimmen auf. Von nun an fokussiert sich die Komposition wieder voll auf den Bauerssohn Jan. Das Unvergessliche dieser Nacht zeigt sich auch in der Klavierbegleitung, die changiert zwischen zärtlich weichen hellen die Erinnerung festhaltenden Klängen und einer düster dramatisch dunklen treibenden musikalischen Gegenbewegung, die Jan singend ausdrückt im verzweifelten „Ach, was ich verloren, / wer kann’s mir wiedergeben?“ Verzweiflung bricht sich Bahn bei Jan. Er wickelt sich ins Tischtuch ein.
Die seelische Marterung, sich in der Familie nicht offenbaren zu dürfen „Aber das Schwerste ist, / ob ich zu Mittag dann, ob ich der Mutter zuhaus / ins Gesicht schaun kann!“.
Welch tiefer aufwühlender Widerspruch. Er erliegt dem Reiz der Seffka, trifft sich allabendlich mit ihr „Streifst du ein Blättlein um, / kostest du Himmelslust.“ Und „denn alle Ewigkeit / will ich nichts als lieben.“ Zugleich tief verzweifelt, hadernd voll Schmerz „Wenn es die Schwester wüßt, / wer so gut stehlen kann, / spräch sie kein Wort mehr, / schaute mich nie mehr an.“
Jan klaut Kleidung für seine Seffka, um dem drohenden Versuch des Vaters zu entgehen, ihn gegen seinen Willen standesgemäß zu verkuppeln. Auch hier spiegelt Pavol Breslik eindringlich die furchtbar widersprüchlichen Gefühle „Vater, dem Tag’ fluch ich, / der Euch den Irrtum nimmt, / daß ich die Braut nehme, / die Ihr mir zubestimmt.“ und „Vater, so muß auch ich, / muß mein Schicksal tragen!“
Er verabschiedet sich von Familie und Heimat. Für immer: „Könnt’ ich nur einmal noch / könnt’ euch küssen und abbitten. / Doch kein Weg führt zurück / meinen traurigen Schritten!“
Sehenden Auges stürzt er sich ins Abenteuer. Jetzt stürmt Pavol Breslik von der Bühne über den Orchestergraben hinweg, übersteigt viele Stuhlreihen dem Licht der Mittelloge entgegen: „Was bestimmt, trag ich nun, / trag es in Not und Harm, / Seffka steht, wartet schon / und mein Sohn ihr im Arm!“.
Eindringlich singt und spielt Tenor Pavol Breslik Jans Zerrissen-Sein, seinen Zweifel, seine Liebe, sein Hadern, das Widersetzen, dass der Vater über sein Leben entscheidet. Und endlich: seinen Entschluss, Familie und Heimat für immer zu verlassen: für seine Liebe, das selbst gewählte Leben. Im finalen Bild der Flucht spüre ich die kolossale Wucht in meinem Bauch, die durch Ambivalenz, Risiko und Unbedingtheit von Liebe, Handeln und Entschluss erzeugt wird.
Stimmlich sicher, fest, konzentriert, auch im Ausdruck der Unsicherheit gerade heraus, singt Pavol Breslik. So wie ein bodenständiger Bauersmann eben ist, der das Herz am rechten Fleck hat und Hirn dazu. Ein bleibender Eindruck.
Im Laufe des Abends verschmilzt Pechanecs Spiel mit der Handlung, der Aktion auf der Bühne. Pianist und Flügel verstecken sich so in der Handlung. Sie verlieren die physische Präsenz zugunsten der Verstärkung der musikalischen, stelle ich am Ende des Abends in mich hineinnachhörend überrascht fest.
Programm
Leoš Janáček: Zápisník zmizelého – Tagebuch eines Verschollenen, JW V/12
I. „Potkal jsem cigánku“ – „Ich traf eine junge Zigeunerin“
II. „Ta černá cigánka“ – „Ist sie noch immer da“
III. „Svatojánské mušky“ – „Wie der Glühwürmchen Spiel“
IV. „Už mladé vlaštůvky“ – „Zwitschern im Nest schon die Schwalben“
V. „Těžko sa mi oře“ – „Heut’ ist’s schwer zu pflügen“
VI. „Hajsi, vy sivi volci“ – „Heisa! Ihr grauen Ochsen“
VII. „Ztratil jsem kolíček“ – „Wo ist das Pflöcklein hin“
VIII. „Nehled’te, volečci“ – „Seht nicht, ihr Öchselein“
IX. „Vítaj, Janíčku“ – „Sei willkommen, Jan“
X. „Bože, dálny, nesmrtelný“ – „Gott dort oben, sag, warum nur“
XI. „Táhne vůňa k lesu“ – „Von der Heidin Wangen Zauberduft“
XII. „Tmavá olšinka“ – „Dunkler Erlenwald“
XIII. (ohne Text)
XIV. „Slunéčko se zdvihá“ – „Sonn’ ist aufgegangen“
XV. „Moji siví volci“ – „Meine grauen Ochsen“
XVI. „Co jsem to udělal“ – „Was hab’ ich da getan“
XVII. „Co komu súzeno“ – „Flieh, wenn das Schicksal ruft“
XVIII. „Nedbám já včil o nic“ – „Nichts mehr, nichts mehr denk ich“
XIX. „Letí straka letí“ – „Wie die Elster wegfliegt“
XX. „Mám já panenku“ – „Hab ein Jüngferlein“
XXI. „Můj drahý tatíčku“ – „Vater, dem Tag’ fluch ich“
XXII. „S Bohem, rodný kraju“ – „Leb denn wohl, Heimatland“
Szenische Einrichtung Friederike Blum
Tenor Pavol Breslik
Mezzosopran Daria Proszek
Drei Frauenstimmen Sarah Gilford, Mirjam Mesak, Yajie Zhang
Pianist Robert Pechanec
Die deutschen Texte zitiere ich nach der ersten Übertragung ins Deutsche von Max Brod.
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