Foto: Claudia Höhne (c)
Elbphilharmonie, Hamburg, 17. November 2017
Prolog, Lesung aus Elfriede Jelineks Werk »Die Schutzbefohlenen« (2013/2015)
Hans Werner Henze, Das Floß der Medusa / Oratorio volgare e militare in due parti
Camilla Nylund Sopran
Peter Schöne Bariton
Peter Stein Sprecher
Peter Eötvös Dirigent
SWR Symphonieorchester, SWR Vokalensemble Stuttgart,
WDR Rundfunkchor
Freiburger Domsingknaben
von Leon Battran
Skandalträchtige Werke gibt es en masse. Im Bereich der musikalischen Avantgarde, die nicht von allen verstanden werden will, gehört die Abkehr von traditionellen Hörgewohnheiten buchstäblich zum guten Ton. Die Ablehnung des Werkes durch das Publikum kann häufig als Erfolg verbucht werden, das lehrt uns die Historie. Kein anderes Werk der Musikgeschichte schien jedoch von so viel Protest begleitet wie Hans Werner Henzes antiautoritäres Oratorium Das Floß der Medusa bei seiner geplanten Uraufführung.
Grund für den Aufruhr war jedoch nicht musikalisches Missvergnügen. Keine einzige Note wurde gespielt am 9. Dezember 1968 in der Halle B in Planten un Blomen in Hamburg. Das ohnehin schon brandpolitische Werk hatte Henze dem im Vorjahr ermordeten kubanischen Revolutionsführer Che Guevara gewidmet. Der politische Bogen war überspannt.
Linke Studenten montieren vor Konzertbeginn eine rote Fahne am Podium, es kommt zum Eklat. In einem brutalen Einsatz zerschlägt die Polizei die Proteste. Das Konzert muss abgebrochen werden, bevor es begonnen hat. Die richtig echte Uraufführung des Floßes der Medusa fand erst am 29. Januar 1971 im Wiener Musikverein statt. In Hamburg traute sich erst 2001 Ingo Metzmacher, das Werk wieder anzurühren.
Henzes Floß der Medusa basiert auf einer erschütternden historischen Begebenheit, dem Schiffbruch der französischen Fregatte Méduse im Jahr 1817. Mehr als 150 einfache Matrosen und Soldaten werden nach dem Auflaufen auf eine Sandbank auf ein kaum seetüchtiges Floß getrieben und dort elendig sich selbst überlassen, während der Gouverneur, der Kapitän und die Offiziere die sicheren Rettungsboote besteigen. Nur noch eine Hand voll Menschen wird später lebend von dem Floß geborgen werden können.
Peter Petersen, emeritierter Hamburger Musikwissenschaftsprofessor und Henze-Experte, hat 1968 den Skandal um die geplante Uraufführung live vor Ort miterlebt. Damals noch als junger Doktorand – der, wie er selbst sagt, von Henze eigentlich noch gar keine Ahnung hatte – verfolgte Petersen gemeinsam mit seiner Frau die gescheiterte Uraufführung aus Reihe 13.
„Das Floß der Medusa ist ein Kunstwerk, das im Schatten seiner Rezeption steht“, sagt Petersen. „Das Ästhetikum wurde angesichts des Politikums vollkommen vergessen.“
Auch in der jetzigen Zeit, fast 50 Jahre später, scheint dem Werk nach wie vor eine hohe politische Brisanz und traurige Aktualität innezuwohnen, wenn etliche Flöße voller verzweifelter Menschen in diesem Augenblick auf dem Mittelmeer treiben.
Die politische Dimension lässt sich daher kaum aus Henzes Komposition verbannen. Eine Lesung aus Elfriede Jelineks Drama Die Schutzbefohlenen soll ihrer Rechnung tragen. Ein Auszug ist dem Oratorium an diesem Abend vorangestellt, um den Stoff up to date zu bringen. Vor diesem Hintergrund akzeptiert man das intendierte Kauderwelsch der Jelinek, erträgt man die lustlosen Wortspiele.
Dennoch bleibt das Floß der Medusa in erster Linie ein „Ästhetikum“, ein musikalisches Kunstwerk. „Henze ist ein sinnlich fühlender Komponist, der immer auf Klang aus ist“, sagt der Musikwissenschaftler Peter Petersen über den Komponisten, der von seinen Kollegen aus der Neuen Musik als Strauss-Epigone verschrien wurde.
Henzes Komposition ist jedoch alles andere als traditionell. Bei dieser Aufführung in der Elbphilharmonie begräbt die orchestrale Gewalt den Zuhörer noch mehr als sie überwältigt. Schaurig-geisterhaftes Stimmengewirr, spitze Schreie der Chöre mischen sich mit Krach und Geschepper aus dem Orchester: Lärm auf Weltniveau. Auch diverse Perkussionsinstrumente und ein Synthesizer sind darunter und sorgen für eine Geräuschkulisse, die an ein altes Hörspiel auf Kassette erinnert.
Auf der Bühne hat alles Aufstellung bezogen, was musikalisch Rang und Namen hat (vorzugsweise Peter): Opernregisseur Peter Stein übernimmt den Sprecher, der ungarische Residenzkünstler Peter Eötvös dirigiert das SWR Symphonieorchester, der Bariton Peter Schöne und die Sopranistin Camilla Nylund glänzen in den Solistenrollen. Das SWR Vokalensemble Stuttgart, der WDR Rundfunkchor, sowie die Freiburger Domsingknaben kommen hinter der Bühne im ersten Rang unter.
Das tödliche Grauen, das 154 Menschen real auf See widerfahren ist, scheint unermesslich. Henzes Komposition vermittelt zumindest eine Ahnung von dem Schrecken. Ist das nun hehre Kunst oder opulent besetzter und vornehm kostümierter Quatsch?
Der Vortrag der Solisten bewegt sich zwischen freiem Sprechen und melodiösem Gesang. Durchschlagend Peter Schöne als Seemann Jean-Charles: Im lebhaften Duktus eines tonal abgestuften Sprechgesangs formte der exzellente Bariton die Töne mit fesselnder Präzision. Camilla Nylund verleiht als La Mort dem Tod ein Gesicht und eine Stimme. Dabei rangiert die Sopranistin zwischen leisem Raunen und ekstatischem Ausrufen, behält trotz stellenweise extremer Lage die Kontrolle. Nur bei der Solostelle von Sopran und Bariton geht kurzzeitig die Harmonie zwischen den Stimmen verloren. Schade!
Zwischen den Parteien steht Peter Stein als Fährmann Charon. Als Sprecher immer angenehm, an ausgesuchten Stellen ahmt er jedoch den melodischen Gestus der Gesangssolisten nach. Warum? Das wirkt befremdlich und gekünstelt, nahezu albern.
Henzes hochkarätiges historisches Hörspiel zerrt an den Nerven, und so mancher verlässt vorzeitig den Saal. Nichtsdestoweniger finden einige disziplinierte Hörer und versierte Konzertgänger Gefallen daran, sich ein wenig zu quälen. Und letzten Endes ist diese Aufführung in der Elbphilharmonie – den erstklassigen Künstlern sei Dank – so herausragend, dass neben dem Versuch, eine humanitäre Katastrophe aufzuarbeiten, Henzes Werk auch künstlerisch-musikalisch zu seinem Recht gelangt und mit der Vergangenheit versöhnt wird.
Leon Battran, 18. November 2017, für
klassik-begeistert.de
Peter Stein „ahmt den melodischen Gestus der Gesangssolisten“ deswegen nach, weil Henze diese Teile des Sprechers rhythmisch definiert und auf Tonhöhen notiert hat. Im Gegensatz zu den frei rezitierten Passagen mag das zwar maniriert klingen, ist aber der Partitur geschuldet!
„Giaccho Stretchingfood“