Jordi Savall und Le Concert des Nations eröffnen das Beethovenfest 2021.
World Conference Center Bonn, 20. August 2021, Saal New York
Jordi Savall (Photo by Barbara Rigon)
Ludwig van Beethoven
Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 mit dem Schlusschor über Friedrich Schillers Ode »An die Freude« (1822–24)
Sara Gouzy Sopran
Laila Salome Fischer Mezzosopran
Martin Platz Tenor
Manuel Walser Bariton
VOX BONA Kammerchor der Kreuzkirche Bonn
Karin Freist-Wissing Einstudierung
Le Concert des Nations
Jordi Savall Dirigent
von Christina Lena Monschau
In ein Konzert geht man selten ohne Erwartungen. So sehr wir uns auch davon freizumachen versuchen, werden wir doch immer zum Teil gelenkt sein von unserer Hörerfahrung. Unzählige Aufnahmen von Karajan, Bernstein, Rattle oder Barenboim prägten vom 20. Jahrhundert bis heute die allgemein verbreitete Auffassung der „besten“ Interpretationen klassischer Musik. Beethovens Neunte hat seit Furtwängler den hartnäckigen gewaltig dröhnenden, pathetisch getragenen Stempel des Monumentalen erlangt. Wie sehr wir uns damit möglicherweise von Beethoven entfernt haben, führte uns das Eröffnungskonzert des Beethovenfestes 2021 mit dem Concert des Nations auf Period Instruments unter Leitung Jordi Savalls vor Ohren.
Ich erinnere mich an einen Satz Kent Naganos zu Beginn eines Symposions im Jahre 2017. Er sprach in Bezug auf die historisch informierte Aufführung des Ring Richard Wagners davon, „Wagner von Wagner befreien“ zu wollen. In dem Sinne wird Beethoven von Beethoven befreit, indem sich historische Musikforschung und Aufführungspraxis die Hand geben: Dank der 2020 veröffentlichten wissenschaftlichen Gesamtausgabe der Werke Beethovens durfte das Publikum eine neue, wenngleich ursprüngliche Lesart dieser Sinfonie erleben. Obwohl die „historisch informierte Aufführungspraxis“ keine Neuheit ist, geriet sie immer wieder in den Schatten der Gassenhauer populärer Klassikinterpretationen. Umso wichtiger, dass hier bei einem der bekanntesten Musikfestivals der Rekonstruktion historischer Werke eine Bühne geboten wurde.
Nach einigen Begrüßungsworten, von denen nur jene Nike Wagners, der Direktorin des Beethovenfests, die Stimmung und den künstlerischen Anlass zu würdigen wissen, wird endlich der Saal verdunkelt. Feine Klänge, bestimmt, aber sanft, schweben durch das Orchester. Obwohl wir von Antonini, Gardiner oder Norrington auch schon raschere Tempi und differenziertere Hervorhebungen kennen, ist die hier erlebte Reduktion des Klangvolumen zugunsten einer Konzentration auf die fließend schnell erklingende minutiös ausgearbeitete Spielweise einmalig.
In den dezenten ruhigen Bewegungen des Maestros sieht und im Orchester hört man die intensive und abgestimmte jedes Detail formende Probenarbeit. Sie scheinen sich blind zu verstehen. Savall schlägt den Takt, nur an wenigen Stellen gibt seine Linke den Einsatz für das Anschwellen der Dynamik.
Selbst in den dramatischen Tutti-Teilen bildet er in seiner Zurücknahme ein beeindruckendes und im Einklang mit der Musik fast schon erhabenes Bild, wenn man an die sonst wild fuchtelnden männlichen Gestalten vor dem Dirigentenpult denkt, wie sie aus dem „Allegro ma non troppo, un poco maestoso“ (1. Satz) eine Demonstration ihrer musikalischen Potenz machen.
Die historischen Instrumente sorgen für besondere Klangfarben, die Spielweise für eine unvergleichliche Genauigkeit. Wie oft habe ich dieses berühmte Op.125 gehört, doch nie hörte ich so konzentriert heraus, welches Instrument was spielt. Es ist, als hätte ich Jahre lang weitsichtig verschwommen nur die kräftigen Akzente eines Bildes betrachtet und sähe es plötzlich erstmalig durch eine Brille gestochen scharf mit all seinen Nuancen und lebendigen Farben.
Diese Lebendigkeit liegt aber auch am Gestaltungswillen der Musiker – man merkt ihnen an, dass sie aus der historisch fundierten Aufführungspraxis kommen: Ihre Bewegungen sind unbefangen intuitiv. Bei den Motivwiederholungen der 1. und 2. Violinen ist es ein Genuss, die verspielte Freude der Musiker zu beobachten – sie verstehen und leben die Musik, spielen sich gewissermaßen die Bälle zu, die jedoch in anderer Färbung zurückkommen!
Der Fluss und der ökonomisch dramatische Umgang mit Dynamik, Rhythmus und Tempo sowie einem bei Savall sehr feinen Gespür dafür, wann einzelne Instrumente hervorgehoben und wann eine harmonische Einheit gebildet werden soll, macht sich auch am Ende des ersten Satzes bemerkbar. Wie Wellen, die sich sammeln und auftürmen um dann wieder seichter zu werden, verwandelt sich das Orchester in ein organisches Ganzes, welches uns unweigerlich mitreißen muss!
Im zweiten Satz etwa kann genauestens nachverfolgt werden, wie das Thema des Scherzos durch das Orchester wandert. Auch hier treibt Savall mit Leichtigkeit, Lebensenergie und einem Geruch von Freiheit die Steigerung bis zur Klimax des Satzes an, ohne das markante Motiv und dessen den gesamten Satz beherrschenden Rhythmus (natürlich bis auf das Trio) verschwimmen zu lassen.
Savalls Stärke scheinen die schwerelosen und schnellen Stellen zu sein, in denen er sie so gestaltet, dass manches einen völlig neuen Eindruck macht. Insgesamt wirkt der instrumentale Part so weniger bedrückend und schwermütig, mehr freundlich, lebensbejahend. Insgesamt erscheint mir das wohl verbreitetste Meisterwerk Beethovens nun einer Dame gleich, der dicke Farbschichten im Gesicht runtergespachtelt, penetrantes Parfum abgewaschen sowie ihr üppiges Kostüm ausgezogen wurde, die sich in ihrer nackten Schönheit, in ihrer überwältigenden Echtheit und Natur, in ihrer Zartheit, Wildheit, Stärke, ihrem Schmerz, ihrer Freude unverfälscht und unmittelbar zu erkennen gibt.
Wir haben hier also nicht die wuchtig gewichtige Erscheinung vor uns, die manch einer wohl erwartet hat. Die Kontraste sind anders gesetzt und liegen nicht in der oberflächlichen Gewichtung des Klangvolumens der dramatischen Höhepunkte, auch nicht in der Massenwirkung. Sondern viel mehr im Detail, im Wesen des Werkes, dem Fließenden die unterschiedlichen Sätze verbindenden Stil Savalls – wenngleich er hier und da gefühlt zu schnell ist, sodass manches nahezu überflogen wird und SängerInnen Mühe haben mitzukommen.
Der dritte Satz besticht wieder mit einer mehr lieblich zarten, aber geerdeten Ruhe, in der selbst der Genuss am Zupfen der Saiten der Violinen sich von den Musikern auf das Publikum überträgt. Und auch das Spiel der Streicher wirkt teilweise transzendental, wie auf einer anderen Ebene schwebend.
Wir bemerken, wie abgestumpft wir vor dieser Interpretation gewesen sein mussten und lernen hier Details und einen neuen Klang durch das vibratose Spiel zu lieben.
Leider arbeitet die Akustik des World Conference Centers dermaßen gegen Instrumentalisten, Chor und Solisten, wodurch der Einsatz der Blechbläser zu Beginn des letzten Satzes an Effektivität verliert und die gestörte Klangbalance die kristallklaren Stimmen Sara Gouzys und Laila Salome Fischers sowie die strahlenden Stimmen Martin Platzs und Manuel Walsers zeitweise ungleich stark durchdringen lässt. Trotz dieser Widrigkeit entsteht ein harmonisches Miteinander, was durch die Anpassung der SolistInnen an den Stil Savalls gestützt wird – kein donnerndes Hervorheben, eher zurückgenommenes Vibrato. Instrumental wie sanglich wird durch die Konzentration auf präzise Artikulation und Sinn für den Gehalt der Noten und Worte eine unbeschreibliche Klarheit und Verständlichkeit, selbst in der gewaltigen Einheit zum Ende hin, beibehalten.
Ein besonders gelungenes Beispiel für die überzeugende Ausdruckskraft verinnerlichten Textverständnisses ist der erste vokale Einsatz. Selten wird das Wort „freudenvollere“ so charakteristisch und sympathisch echt gesungen, wie es Manuel Walser hier präsentiert.
Besonders bemerkenswert ist der wechselnde Fokus der Ausdrucksweise im Chor innerhalb des für gewöhnlich über das Publikum hernieder schmetternden Endes, welches hier an Facetten gewinnt, die achtsam aufhorchen lassen: Das „Seid umschlungen Millionen“ des VOX BONA Kammerchors (Einstudierung Karin Freist-Wissing) zunächst stark durch hervorgehobene Männerstimmen artikuliert, dann aber rauschend allumfassend wiederholt, sodass eine fast erhebende schwerelose Stimmung uns beseelt, bis schließlich wieder die Musik aus ihrer höheren Sphäre kommend fasslicher wird und wir tatsächlich von ihr „umschlungen“ werden.
Am Ende ist alles Still. Auffallend lange sitzen wir so „umschlungen“ da bis ein „Bravo!“ hinter mir und damit langanhaltender Applaus hervorbricht.
Christina Lena Monschau, 21. August 2021, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Die Rezensentin:
Christina Lena Monschau (*1991) studierte zunächst Kunst, wechselte dann aus stärkerem Interesse an Korrelationen zwischen unterschiedlichen Künsten zur Kunstgeschichte und Musikwissenschaft. Ihr Forschungsschwerpunkt umfasst interdisziplinäre Fragestellungen und die Musik des 19. Jahrhunderts. 2020 publizierte sie ihre erste Monografie „Mimik in Wagners Musikdramen“. Aktuell widmet sie sich an der a.r.t.e.s. Graduate School der Universität zu Köln ihrer Dissertation zur Expressivität in Wagners Ring-Zyklus („Musik durch Auge und Ohr. Zur Expressivität im Wechselspiel der Künste in Wagners ´Ring des Nibelungen´“).
Savalls Beethoven I -V: Atemlose Bewunderung. Die Fünfte noch einmal „zum ersten Mal zu hören“: Savall macht’s möglich. Umso begieriger verfolgte ich das Werden des großen Schlusspunkts eines großen Projekts, schließlich zutiefst enttäuscht durch die last moment-Absagen von Hamburg, Breslau, Krakau – wie gefährdet war das Projekt ???
Und nun: AUFATMEN!!! Und toi toi toi für alle weiteren Aufführungen!!
Wie war’s?
Christina Lena Monschau spricht mir aus der Seele.
DANK !
Rotraut Mildschuh