Höchste Zeit, sich als Musikliebhaber neu mit der eigenen CD-Sammlung und der Streaming-Playlist auseinanderzusetzen. Dabei begegnen einem nicht nur neue oder alte Lieblinge. Einige der „Klassiker“ kriegt man so oft zu hören, dass sie zu nerven beginnen. Andere haben völlig zu Unrecht den Ruf eines „Meisterwerks“. Es sind natürlich nicht minderwertige Werke, von denen man so übersättigt wird. Diese sarkastische und schonungslos ehrliche Anti-Serie ist jenen Werken gewidmet, die aus Sicht unseres Autors zu viel Beachtung erhalten.
von Daniel Janz
Auch das zwanzigste Jahrhundert hat Orchesterkompositionen zu bieten, die abseits von Film- und Fernsehmusik massentauglich wirksam wurden. Ein Kunststück, das nicht vielen Stücken und Künstlern gelang, folgen viele der Kompositionen ab 1920 doch dem Ideal des „Fortschritts“ und opfern dafür bis heute wirksame Mechanismen wie Wiedererkennbarkeit, Wiederholung oder melodische Eingängigkeit. Gibt es dann doch einmal Stücke, die sich auf traditionellere Wurzeln beziehen, stechen sie schnell als „Hits“ heraus. Einer ebenjener Hits ist ein Stück, dass sicher jeder Lesende hier schon einmal gehört hat: Das Adagio for Strings von Samuel Barber, laut BBC 2004 auch als das „traurigste Klassikstück der Welt“ bekannt.
Barbers Werk – obwohl es nur für Streicher gesetzt ist – erzeugt eine faszinierende Spannung. Im Sinne der Kammermusik würde man eigentlich eine an seiner spärlichen Instrumentation ermüdende Musik erwarten. Tatsächlich aber präsentiert Barber hier nicht nur einen vollen Streichersatz, sondern auch eine bis ins Mark ergreifende Melodie, die über einen riesigen Ambitus hin verteilt zum Ausdruck purer Dramatik wird.
Sein Werk ist also eines, das unangefochtene Ausdrucksstärke erreicht. Wohl auch deshalb ist es Barbers bekannteste Komposition inklusive einer reichen Aufführungspraxis und Geschichte. Und dies zeigt sich auch in der Publikumswirkung – selbst wer den Namen Barber noch nie gehört hat oder sich als Klassik-Abstinenzler outet, dürfte die Melodie kennen.
Möglich macht diesen Wiedererkennungswert nicht etwa eine besondere Eingängigkeit. Zwar sind Barbers Melodien klar konturiert und umrissen, aber es gibt eingängigere Melodien, wie beispielsweise Mozarts „Kleine Nachtmusik“, Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ oder Verdis „La donna è mobile“. Nein, der Wiedererkennungswert ist bei Barber vor allem auf die kreative Verwendung des Streichorchesters und seine motivische Arbeit zurückzuführen. Dazu kommt die Modernität dieses Werks.
Alle diese Aspekte sprechen dafür, in dieser Musik eine junge Erfolgsgeschichte vorliegen zu haben. Tatsächlich aber muss man fragen, ob dieser Erfolg der Komposition selbst nicht mittlerweile zum Verhängnis wird. Denn die Reichweite von Barbers Adagio geht über die Verbreitung im Konzertsaal und im Radio weit hinaus.
So hielt es bereits Einzug in die kulturelle Aufführungspraxis als Begräbnismusik und fand in diesem Kontext eine nahezu inflationäre Anwendung. Nicht anders kann man den Umstand beschreiben, dass zu dieser Musik bereits Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy, Albert Einstein, Prinzessin Grace von Monaco und sogar der Komponist selber zu Grabe getragen oder deren Tod bekannt gegeben wurde. Genau dieselbe den Tod beklagende Anwendung fand sie auch zum Terroranschlag am 11. September 2001, dem Terroranschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion in Paris 2015 und zu den Bombenattentaten in Brüssel 2016 – um nur einige Anlässe zu nennen. Sogar den Opfern der Corona-Pandemie wurde 2020 bereits mit diesem Stück gedacht:
Nun ist es kein Verbrechen, Todesopfern oder tragischen Ereignissen auch musikalisch zu gedenken. Im Gegenteil, Musik ist ein bewährtes Mittel der Trauerbewältigung und kann sogar eine therapeutische Verarbeitung ermöglichen. Wenn dieser Umstand an Barbers Adagio nun also kritisiert wird, dann soll das nicht das Andenken an die Opfer schmälern.
Das Problem daran ist nur, dass eine inflationäre Verwendung ein- und desselben Musikstücks irgendwann auch eine Marginalisierung, wenn nicht sogar Banalisierung zur Folge hat. Wird ein Werk nur noch zu Anlässen ein- und desselben Kontexts aufgeführt, geht damit schnell eine Stigmatisierung und Eingrenzung des Interpretationsspielraums einher. So wird Barbers Adagio schon lange nicht mehr als eine herausragende Komposition für Streichorchester behandelt, die neben Trauer genauso gut Hoffnung, Transzendenz oder Verklärung ausdrücken könnte. Sondern es ist inzwischen „dieses eine Trauerstück, das man ständig überall hört, wenn wieder jemand gestorben ist“. Eine Beschränkung, die Barbers an und für sich wunderbaren Komposition nicht nur unangemessen ist, sondern auch mit der Zeit zur Abstumpfung gegenüber der Musik führt.
Beobachten kann man jene Tendenz durch das Aufgreifen in Film und Fernsehen. Auch hier hält Barbers Adagio als Lückenfüller für genau denselben Kontext her: Laut vielen Quellen bildet die Musik 1980 in „Der Elefantenmensch“ zum ersten Mal auf der Leinwand einen Übergang zwischen Leben und Tod, auch wenn dewiki.de und die Symphoniker Hamburg in „Der große Diktator“ (1940) die erste Verwendung angeben. In „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erklingt die Musik, als sich die Titelfigur der Traurigkeit ihrer Existenz bewusst wird. Weitere Verwendungen sind im Historiendrama um Sophie Scholl, im Fernsehdrama „Der scharlachrote Buchstabe“ und „Der Soldat James Ryan“. Legendär dürfte auch die Szene aus dem Anti-Kriegsfilm „Platoon“ sein, in der Willem Dafoe als Elias Grodin im Vietnamkrieg hinterrücks vor den Augen seiner hilflosen Kammeraden zu Barbers Musik niedergeschossen wird.
Den Kipppunkt zwischen emotionaler Dramatik und Abstumpfung dürfte das Werk schließlich Ende der 1990er-Jahre erreicht haben, als es Opfer einer ganzen Reihe an Dekontextualisierungen wurde. So mag man über die Versionen von „Puff Daddy“ oder William Orbit noch geteilter Meinung sein. Die geradezu satirischen Verwendungen in Serien, wie „Die Simpsons“, „American Dad“ oder auch „How I Met Your Mother“ beweisen indes den Bekanntheitsgrad dieser Komposition. Dass es dort überhaupt funktioniert, kann nur auf eine nahezu klischeehafte Festigung der Musik zum Ausdruck von Tragik und Dramatik zurückzuführen sein. Der Nachteil daran ist, dass die Musik irgendwann auch der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
Ist Barbers Werk damit zu einer Bagatelle verkommen, die jeder auswendig kennt und an die sich jeder gewöhnt hat, die dadurch aber auch Stück für Stück ihre Wirksamkeit einbüßt? Es ist weder die Schuld Barbers, noch die der Musik, dass sie quasi im Alleingang die Affekte von Tragik und Dramatik bedient. Viel eher sind hier Filmregisseure und -komponisten gefragt, gute Alternativen zu schaffen. Denn wenn der musikalische Ausdruck von Trauer weiterhin auf dieses eine Werk beschränkt bleibt, wird es seine Affektivität einbüßen. Anfänge dieser Tendenz erleben wir bereits heute, wie Coverversionen oder ihr erfolgreicher Einsatz als Satire zeigen. Die Gefahr, dass Barbers Adagio schon bald von breiten Teilen der Bevölkerung als banal oder langweilig empfunden wird, dürfte damit jedenfalls real sein.
Daniel Janz, 10. September 2021, für
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Daniel Janz, Jahrgang 1987, Autor, Musikkritiker und Komponist, studiert Musikwissenschaft im Master. Klassische Musik war schon früh wichtig für den Sohn eines Berliner Organisten und einer niederländischen Pianistin. Trotz Klavierunterricht inklusive Eigenkompositionen entschied er sich gegen eine Musikerkarriere und begann ein Studium der Nanotechnologie, später Chemie, bis es ihn schließlich zur Musikwissenschaft zog. Begleitet von privatem Kompositionsunterricht schrieb er 2020 seinen Bachelor über Heldenfiguren bei Richard Strauss. Seitdem forscht er zum Thema Musik und Emotionen und setzt sich als Studienganggutachter aktiv für Lehrangebot und -qualität ein. Seine erste Musikkritik verfasste er 2017 für Klassik-begeistert. Mit Fokus auf Köln kann er inzwischen auch auf musikjournalistische Arbeit in Österreich, Russland und den Niederlanden sowie Studienarbeiten und Orchesteraufenthalte in Belgien zurückblicken. Seinen Vorbildern Strauss und Mahler folgend fragt er am liebsten, wann Musik ihre angestrebte Wirkung und einen klaren Ausdruck erzielt.
Daniels Anti-Klassiker 27: Prokofjew – „Tanz der Ritter“ aus „Romeo und Julia“ (1936)