Foto: B. Rittershaus (c)
Elektra, Richard Strauss
Staatsoper im Schillertheater, Berlin, 23. Oktober 2016
Diese Premiere war überwältigend. Gigantisch gut. Energiegeladen. Beglückend. Stimmlich eine Glanznummer. Bravo! Danke! Wunderbar!
Diese „Elektra“ von Richard Strauss an der Staatsoper im Schillertheater in Berlin dürfte als Jahrhundert-Aufführung in die Annalen eingehen. Was die vier Hauptdarsteller auf der Bühne boten, war an Intensität, Hingabe und Leidenschaft nicht zu überbieten. Wer die großartige Musik Richard Strauss’ mag, sollte es nicht versäumen, eine der kommenden vier Aufführungen in dem Haus an der Bismarckstraße zu besuchen.
„Das war für lange Zeit das Beste, was ich in der Oper gesehen und gehört habe“, sagte die Berliner Opernenthusiastin Beate Friemel, 53, die im Jahr mehr als 100 Opernaufführungen live hört. „Für mich war das eine Jahrhundert-Elektra eines Jahrhundert-Regisseurs – von einem der letzten großen Regisseure, die mit all ihrer Kreativität und Bildgewalt dem Werk dienten und die Sänger so zu herausragenden Leistungen führten.“
Der Regisseur dieser Elektra ist der im Oktober 2013 verstorbene legendäre Franzose Patrice Chéreau. Seine gefeierten Inszenierungen von Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ zum 100-jährigen Bestehen der Bayreuther Festspiele (1976 – 1980) gelten als Meilenstein und „Jahrhundert“-Ring. Das Bühnenbild an der Staatsoper in Berlin von Richard Peduzzi, Chéreaus langjährigem Bühnenbildner, schafft mit seinen klaren Formen einen hervorragenden Rahmen, um die Personenführung des Regisseurs ohne Ablenkung durch modernen Schnickschnack sich entwickeln zu lassen.
Für die Berliner Premiere wurde die Inszenierung, deren erste szenische Proben bereits 2013 im Schiller Theater stattgefunden hatten, von Chéreaus langjährigen Regieassistenten Vincent Huguet und Peter McClintock neu einstudiert. Die Berliner Elektra ist eine Koproduktion mit dem Teatro alla Scala di Milano, dem Festival d’Aix-en-Provence, der Metropolitan Opera New York, der Finish National Opera Helsinki und dem Gran Teatre del Liceu Barcelona.
Herausragend an diesem besonderen Abend waren vor allem die vier Hauptprotagonisten auf der Bühne – allen voran Evelyn Herlitzius als Elektra. Selten hat eine Sängerin in der Staatsoper im Schiller Theater so einen frenetischen Beifall bekommen wie die aus Osnabrück stammende Sopranistin. Es war einfach phantastisch, wie klangschön und energiegeladen Evelyn Herlitzius im höheren Register sang – zum Schaudern schön.
„Was die Herlitzius mit ihrer Stimme macht, ist phänomenal – egal ob als Elektra oder als Isolde“, sagte die Berliner Opern-Enthusiastin Beate Friemel. „Ich liebe sie, obwohl sowohl ihre Brünhilde als auch ihre Isolde scharf geworden sind, seitdem sie so viel Elektra singt. Mit ihrer darstellerischen, stimmlichen, körperlich-tänzerischen Ausdruckskraft verleiht sie der Person der Elektra so viel menschliche Tiefe und trotz der ja sehr düsteren und bedrückenden Handlung so viel Schönheit. „Ich gehe überaus beglückt aus dieser Vorstellung heraus.“
Endlich war dies eine Elektra-Inszenierung, in der sich Elektra und ihr Bruder Orest (Michael Volle) in den Armen liegen. Und auch die Szene zwischen Elektra und Klytämnestra (Waltraud Meier) war an Intensität kaum zu überbieten. Das Publikum, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer, erlebte im Schiller Theater keinen mythischen Opernstoff, sondern ein Familien-Psychodrama, dem sich die Darsteller mit Haut und Haaren verschrieben.
Die zweite Lichtgestalt des Abends war Michael Volle als Orest, der trotz seines mächtigen und heldischen Baritons subtile und zärtliche Töne anzuschlagen vermochte. Seine volle Stimme erklang wunderbar geerdet im kleinen Schiller Theater. Volle hatte schon im November 2015 als Holländer in Richard Wagners „Der fliegende Holländer“ an der Staatsoper brilliert und im Juni 2016 als Wotan und Wanderer im „Ring des Nibelungen“. Auch als Polizeichef Scarpia in Giacomos Puccinis Tosca sang er prachtvoll und mit großer Stimmintensität. Wenn Volle singt, hört man deutlich seine Wagnerische Stimmqualität.
„Michael Volle ist immer ein Gewinn“, bilanzierte der Berliner Opernfreund Ulrich Harbott, 54, der seit 1987 als Bass im Philharmonischen Chor Berlin singt, einem der renommiertesten und traditionsreichsten Oratorienchöre Deutschlands. Der Berliner besucht im Jahr 80 Opernaufführungen. „Es ist unglaublich, wie Volle die Rollen aufwertet, wie er sie auslotet, wie er musikalisch und sprachlich artikuliert. Ein toller Orest. Eine wunderbare Regie-Idee war es, ihn nach dem Mord seiner Mutter Klytämnestra und deren Geliebten Aegisth einfach wieder gehen zu lassen.“
Ermuntert durch die grandiose und sich gänzlich verausgabende Evelyn Herlitzius zeigte auch die Sopranistin Adrianne Pieczonka als Elektras Schwester Chrysothemis eine phantastische Leistung. Sie bestach im höheren Register und sang sehr fraulich und reif. Ihr Zusammenspiel und die stimmliche Ausgewogenheit im Zusammenspiel mit der Herlitzius waren umwerfend und sehr überzeugend.
Die Figur der Klytämnestra, Elektras Mutter, ist in dieser Inszenierung ganz auf die Mezzosopranistin Waltraud Meier zugeschnitten: keine kreischende Hysterikerin, sondern eine grausam stille, zweifelnde Frau – eine, die Nähe sucht und nicht findet. Meier sang sehr nobel und angenehm im Klang. Aber eigentlich ist die Klytämnestra weder nobel noch angenehm; sie ist eine mordlüsterne Hysterikerin. Es bleibt fraglich, ob Chéreau sie anders sehen wollte oder ob es ein Entgegenkommen seinerseits war, weil Waltraud Meier die lauten, schrillen Töne der Klytämnestra nicht mehr produzieren kann. Unterm Strich blieb es eine hervorragende Leistung, nur ein wenig fein und leise. Könnte die Meier auch noch anders?
Mit Ovationen bedacht wurden auch die „großen Alten“, die diese Vorstellung zu etwas ganz Besonderem machten. Die US-amerikanische Sopranistin Cheryl Studer, die am Montag 61 geworden ist und seit 2003 eine Professur für Gesang an der Hochschule für Musik Würzburg inne hat, sang eine Aufseherin und Vertraute, deren junge Stimme trotz langer Abwesenheit von der großen Bühne noch an die Schönheit der jungen Elisabeth in Richard Wagners „Tannhäuser“ erinnert.
Der österreichische Bariton Franz Mazura als Pfleger des Orest hatte mit seinen 92 Jahren gewisse Probleme bei der Bewältigung der Treppe; seine Stimme hat naturgemäß auch kräftemäßig nachgelassen, was aber als Pfleger des Orest schon wieder passend zur Rolle ist. Mazura gab den legendären Gunther in Chéreaus Bayreuther „Jahrhundert-Ring“.
Und schließlich der neuseeländische Bass Donald McIntyre, 82, als alter Diener – Chéreaus gefeierter Wotan im Bayreuther „Jahrhundert-Ring“: auch er war noch gut bei Stimme und spielfreudig.
Den hervorragenden Solistenstimmen entsprach die packende Musik der Staatskapelle Berlin unter Maestro Daniel Barenboim. Auch dafür gab es tobenden Applaus – das kleine Schiller Theater schien für einen Augenblick zu wackeln, so groß war der Dank an die mehr als 100 Musiker.
Der Klassik-Begeisterte Ulrich Harbott hat die „Elektra“ das erste Mal 1979 mit Birgit Nilsson in der Titelpartie gesehen. Er war besonders vom Dirigat Barenboims angetan: „Der Maestro hat ganz anders dirigiert, als ich es eigentlich mag“, sagte der Berliner. „Ich bin eher Freund von Verzögerungen à la Christian Thielemann, der oft Zehntelsekunden inne hält. Bei Barenboim klang es oft ein wenig gehetzt, nach vorne drängend. Es hatte etwas Dampfwalzenartiges, aber letztlich war das eine unglaubliche Lesart: Es gab kaum einen Moment der Ruhe, außer dort, wo es die Partitur vorschreibt. Und diese ruhigen, leisen Momente waren von einem überwältigenden Farbenreichtum, vor allem bei den Holzbläsern. Das war ganz großes Kino.“
Niemand hat die wunderbare Musik der „Elektra“, die 1909 in Dresden uraufgeführt wurde, so eindringlich beschrieben wie der Wiener Musikschriftsteller Julius Korngold, der Vater des Komponisten Erich Wolfgang Korngold („Die Tote Stadt“): „Wie aus einem Hexenkessel steigen aus dem Elektra-Orchester nachtschwarze, zähnefletschende, blutrünstige, stöhnende, heulende, wut- und angstverzerrte Klänge, und wie ein Zauberspiegel zeigt es auch feierlich fremdartige, berauschende Gesichte. Diese Malkraft kennt in ihrer Virtuosität keine Grenzen mehr. Glitschen im Blute, dessen Fließen und Dampfen, katzenartiges Fauchen, klatschende Peitschenhiebe, Knarren rostiger Angeln, Stöhnen und Trampeln der Opfertiere, Schleifen und Schlürfen, das Scharren nach dem Beile, sausende Todeshiebe und röchelnde Schreie – das alles wird mit erschreckender Deutlichkeit nachgezeichnet.“
Zur Handlung (dpa): Der österreichische Librettist Hugo von Hofmannsthal verfasste die Tragödie nach einem Drama des griechischen Dichters Sophokles. Elektra wartet auf ihren Bruder Orest. Er soll den Tod des Vaters Agamemnon rächen, der nach seiner Rückkehr aus dem Trojanischen Krieg von seiner Frau Klytämnestra und ihrem Geliebten Aegisth erschlagen wurde.
Wie besessen zetert Elektra gegen Klytämnestra, sehnt sich nach ihrem toten Vater, versucht ihre zweifelnde Schwester Chrysothemis zum Muttermord auf ihre Seite zu ziehen – vergeblich. Am Ende wird es der zurückkehrende und totgeglaubte Bruder Orest richten. Er ermordet seine Mutter und deren Geliebten Aegisth (stimmlich überzeugend: Stephan Rügamer). Auch Elektra erliegt dem Wahnsinn.
Weitere Vorführungen (jeweils 19.30 Uhr)
Mittwoch, 26. Oktober 2016
Samstag, 29. Oktober 2016
Dienstag, 1. November 2016
Freitag, 4. November 2016
Andreas Schmidt, 24. Oktober 2016
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