Schweitzers Klassikwelt 58: Ansprüche an einen Opernführer

Schweitzers Klassikwelt 58: Ansprüche an einen Opernführer,  klassik-begeistert.de

von Lothar und Sylvia Schweitzer

Lesen Sie vor dem Besuch einer für Sie neuen Oper das Textbuch? Spontan kann ich das für meinen Teil nur beim „Parsifal“ bejahen. Das war sicher ein Zeichen von Respekt vor meiner ersten Wagner-Oper. Meiner Frau und mir fällt nach langem Nachdenken nur noch „Der Sandmann“ ein, Musik von Andrea Lorenzo Scartazzini, das Libretto von Thomas Jonigk, eine geniale moderne Variante vom Offenbachschen Olympia-Akt. In diesem Fall war eine genauere Vorbereitung von großem Nutzen. Ansonsten hätten wir das Gefühl den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen.

Eine befreundete Opernsängerin äußerte zwar Bedenken einer zu großen Ablenkung, aber die heute fast überall vorhandenen Übertitelungen oder Untertitelungen auf Tablets können zur Intensität des Verständnisses einiges beitragen. Auf diese Weise lernten wir, um ein Beispiel zu nennen,  die literarische Qualität von Luigi Illicas „Andrea Chénier“ kennen und schätzen.

(Illustration zu „… Untertitelungen auf Tablets …“, 2. Absatz) © Wiener Staatsoper

In den Programmheften, die oft das Volumen eines Buches erreichen,  finden wir in letzter Zeit häufig Inhaltsangaben, die auf die Sichtweise des Regisseurs zugeschnitten sind. Bei uns weniger geläufigen Musiktheaterstücken greifen wir gern altmodisch zur Vorbereitung auf die Opernführer zurück, mit denen wir jedoch nicht immer zufrieden sind. Das geht manchmal so weit, dass wir Freunden, die mit uns gemeinsam zum ersten Mal die eine oder andere Oper miterleben, per E-Mail eine selbst verfasste Einführung zusenden.

Wir wollen an Hand einiger Opern die Inhaltsangaben verschiedener Opernführer unter die Lupe nehmen. Beginnen wir mit Cileas „Adriana Lecouvreur“ am Beispiel eines Ausschnitts des zweiten Akts

Wir lesen in András Battas „Opera“: „Im Haus der Schauspielerin Duclos treffen sich die Fürstin und Maurizio, der Graf von Sachsen. Er ist der Fürstin wegen ihrer politischen Hilfe dankbar, weist aber ihre Liebe zurück. Der Fürst und seine Gäste kommen, um sich von Duclos’ Untreue zu überzeugen, finden bei dem Grafen Maurizio keine Dame.  Der Fürstin gelingt es mit Hilfe Adrianas durch eine Geheimtür die Villa zu verlassen.

Im Programmheft der Wiener Staatsoper steht abgedruckt: „In der Villa der Duclos erwartet die Fürstin den von ihr geliebten Maurizio, der sich von ihr politische Unterstützung erwartet. Die Fürstin begreift, dass Maurizio sie nicht liebt. Die beiden werden durch die Ankunft des Fürsten unterbrochen, der Fürstin gelingt die Flucht in ein Hinterzimmer. Dort treffen die Konkurrentinnen Fürstin und Adriana erstmals aufeinander, ohne aber die jeweils andere zu erkennen. Der Fürstin gelingt unerkannt die Flucht.“

Bei Rezensionen dürfen wir bei hinlänglich bekannten Opern auf eine den gegebenen Rahmen sprengende Inhaltsangabe verzichten. In unserem Fall hoben wir aber eine Szene mit dem  Zwischenspiel im 2. Akt heraus: „… während dessen Adriana mit sich kämpft ihr Maurizio gegebenes Versprechen zu halten die ihr rätselhafte, unbekannte Dame hinter der Tür im Nebenzimmer zu schützen.“ Mit diesem erläuternden Nebensatz beabsichtigten wir die besondere, knisternde Stimmung des Zwischenspiels mit  einzufangen resp. auf sie aufmerksam zu machen. Dieses Interludium gilt für uns in dieser Oper als Prüfstein für Orchester und Dirigenten.

Von Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“ gibt es eine Reihe verschiedener Fassungen. Für „Das große Handbuch der Oper“ von Heinz Wagner und für „Reclams Opernführer“, ein Büchlein in ähnlich bescheidenem Format wie die vom selben Verlag herausgebrachten Libretti und anderen kostbaren Texte der Weltliteratur, existiert kein Prolog. Im schon oben zitierten „Opera“ von András Batta wird sehr wohl der Prolog kursorisch  in einem Satz behandelt: „Die Göttinnen des Glücks (Schicksals), der Tugend und der Liebe streiten, wer von ihnen den größten Einfluss auf den Menschen hat.“

In Konkurrenz zu den Verlagen nutzen wir jetzt Wikipedia und erfahren: „Im Mittelpunkt steht die historische Figur des Nero. Ein antikisierendes Moment bleibt in den allegorischen Figuren des Prologs. Tugend, Glück und Liebe beweisen sich gegenseitig ihre Stärken. Letztlich beendet Amor den Disput. Er verspricht zu beweisen, dass das allein Bestimmende die Liebe ist.“ Also schon genauer.

Durch das Mitlesen des Textes während der Vorstellung umrissen wir in Folge den Inhalt des Prologs in unsrer Rezension bildhaft einprägsam: „Es entsteht ein Streit zunächst zwischen der Tugend und dem Glück, wer mehr Einfluss über die Menschen habe. Das Glück verspottet die Tugend: Du bist längst verarmt, eine Göttin ohne Tempel, ohne Gläubige und ohne Altäre, aus der Mode gekommen. Dabei übersehen beide die Macht der Göttin der Liebe.“ Der Einschub der direkten Rede soll deutlich spürbar an die Säkularisierungstendenzen der heutigen Zeit erinnern.

Bei näherer Befassung mit der Korngold-Oper „Die tote Stadt“ schlugen wir ebenfalls einige Opernführer auf. Oh Staunen, bei Reclam, Auflage 1969, Taschenbuchformat mit 700 Seiten Kleindruck, fehlt dieses Juwel der Opernliteratur! Bei „Opera“ und Heinz Wagners „Das große Handbuch der Oper“ gingen wir ins Detail. Im „Handbuch“ ist die Inhaltsangabe um ein Dreiviertel umfangreicher als bei „Opera“. Bei einer kürzeren Version muss man darauf verzichten von Auftritt zu Auftritt fortzuschreiten. Der Autor begnügt sich gedrängt zu schreiben: „Eines Tages tritt die Tänzerin Marietta in sein Leben… Äußerlich gleicht Marietta der jung verstorbenen Marie.“ Im „Handbuch der Oper“ wird ausgeführt: „Pauls Freund Frank kommt zu Besuch und Brigitta, die mit Paul seit Maries Tod allein in dem alten, düsteren Haus lebt, berichtet ihm, dass sie seit einigen Tagen Maries bisher verschlossenes Zimmer mit Blumen schmücken müsse. Paul erzählt seinem Freund, dass er in der Stadt eine Frau gesehen hat, die vollkommen seiner geliebten Verstorbenen gleiche. Er habe sie aufgefordert ihn zu besuchen.“ Auch bei Wikipedia fehlt uns die erste und zweite Szene des ersten Bilds. Dafür wird die letzte Szene des ersten Bilds, die warnende Erscheinung Maries an den Anfang der Oper gestellt (?).

Das „Handbuch“ gibt Raum nahezu sinnlicher Wahrnehmbarkeit: „Die Tür geht auf, die junge Frau kommt herein.“ „Opera“ ist da sprunghafter. Auf Pauls ausgesprochene Einladung folgt sofort: „Mit einem Lied (berühmt geworden als „Mariettas Lied“) umschmeichelt sie ihn.“ Das „Handbuch“ verschweigt nicht, auch im Gegensatz zu Wikipedia, dass Paul sentimental mit einstimmt, da ihn dieses Lied mit seiner Frau verbindet. Dafür bringt von den drei Inhaltsangaben nur Wikipedia die Vorgeschichte, dass Paul Marietta die Laute seiner verstorbenen Frau gibt, damit Marietta ihr noch ähnlicher sieht.

Das sonst sehr verlässliche „Handbuch“ fügt beim Besuch Mariettas die (frühere) Warnung Franks ein, in einer Lebenden die Tote finden zu wollen, als wäre er noch zugegen. Der Abgang Mariettas erhält folgende Nuancen. „Opera“ erwähnt allgemein Mariettas Erkenntnis, dass Paul auf seine Tote fixiert bleibt. Nach dem „Handbuch“ wird Marietta einfach von ihren Freunden abgeholt. Dass man von draußen eine lustige Theatergruppe hört, die sie zur Probe für Meyerbeers „Robert der Teufel“  abholt, wird mit „lachend eilt sie davon“ zu einem Torso. Die versehentliche Enthüllung eines Bilds von Marie mit der auffallenden Ähnlichkeit ist für Marietta bei Wikipedia der Anlass „das Gedenkzimmer zu verlassen.“ Eine Theaterprobe bleibt außen hin.

Nach der Erscheinung seiner toten Frau und unmittelbar danach die Mariettas lesen wir bei „Opera“: „Ihn überfällt eine Vision.“ Das „Handbuch“ schreibt, anschaulich beginnend: „Paul sinkt auf den Stuhl und sieht in tiefen Schlaf gefallen, visionär die Zukunft.“ Im Internet endet der 1. Akt (Im Original ist von Bildern und nicht von Akten die Rede) bereits mit dem Abgang Mariettas. Erst nach der vermeintlichen Tötung Mariettas ist von einem Traum die Rede, für den auch der Ausdruck Vision verwendet wird.

In allen drei Unterlagen wird der an sich eindrucksvolle Zug der Beghinen mit der Haushälterin Brigitta als Novizin am Anfang des zweiten Bilds für nebensächlich erachtet und nur das „Handbuch“ bringt die zweite Szene, in der überraschend Frank als Nebenbuhler Mariettas aufscheint. In „Opera“ lesen wir, dass Marietta im zweiten Bild inmitten ihrer Verehrer von der Opernvorstellung nach Hause kommt. Etwas schlampig recherchiert. Nach dem Libretto hat sie gemeinsam mit einem Kollegen die Theaterprobe geschwänzt, was immer sie auch unternommen haben.

Was bewegt den heimlichen Beobachter Paul hervor zu stürzen? Ehrenrettung für „Opera“: Dass die Theatergruppe Helenas Totenerweckung aus Meyerbeers Oper parodiert wird als Anlass genannt und ist richtig. Bei Wikipedia genügt allein schon die Szene ohne Absicht einer Persiflage. Im „Handbuch“ ist es Pierrots berühmte, Marietta gewidmete Serenade „Mein Sehnen, mein Wähnen“, die im Textbuch vor der nachgeholten (parodierten) Probe erfolgt.

Für die lange Auseinandersetzung zwischen dem Witwer und der Tänzerin müsste sich die Inhaltsangabe zu einer Nacherzählung ausweiten, deswegen erfahren wir in ein bzw. zwei Sätzen vom Streit und von seiner Lösung, nämlich in Pauls Haus zu gehen.

Der dritte Teil der Oper wird von den vorliegenden Texten in größerer Harmonie erzählt. Vielleicht sollte die Handlung mehr mit Einbeziehung von Originalzitaten erzählt werden. Wenn zum Beispiel die unter den Fenstern vorbeiziehende Prozession den Witwer sichtlich erschüttert und Marietta halb ironisch, halb mit neu erwachtem Interesse singen lässt: „Ja wer dich liebt, muss teilen mit Toten und mit Heiligen.“ Das „Handbuch“, wiederum mehr ins Detail gehend, endet mit dem Schlussgedanken, den Paul vor sich hin singt, Marie wird ihm in lichteren Höhen begegnen.

Agneta Eichenholz als Ellen Orford, Theater an der Wien © Monika Rittershaus

Was nur ein Programmheft vermag, eine rechtzeitige Verfügbarkeit und Muße zur Vorbereitung vorausgesetzt, ist eine Einführung aus der Sicht der beteiligten InterpretInnen. Wir lernen in Brittens „Peter Grimes“ in Ellen Orford eine Frau kennen, die versucht trotz aller Skepsis Verständnis für den Außenseiter aufzubringen. Und so erzählt davon die Interpretin der Ellen Orford, Agneta Eichenholz: „Für Ellen existiert „home“ nur in ihren Träumen. Sie lebt von diesem Traum von Liebe.“

Ein besonderes Abenteuer kann es werden, wenn wir den Inhalt einer Oper mittels ihrer Entstehung über biografische Notizen des Komponisten kennen lernen. Wir erfahren bei Hans Werner Henzes Musikdrama „Das verratene Meer“, dass vor der Komposition einer Szene manchmal der Entwurf eines Aquarells steht. In der ersten Szene beobachtet Noboru heimlich seine Mutter beim Zubettgehen.

Hans Werner Henze, 1. Szene aus Das verratene Meer, Aquarell auf Papier , Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Hans Werner Henze

Das Programmheft beginnt mit dem Kapitel „Handlung“. In drei Sätzen wird die zweite Szene umrissen: „Fusako besichtigt mit ihrem für die Seefahrt begeisterten Sohn Noburu ein großes Frachtschiff. Von ihrem Führer, dem zweiten Offizier, sind Mutter und Sohn gleichermaßen angetan. Fusako lädt den Offizier zu einem Restaurantbesuch ein.“ Von Hans Werner Henze erfahren wir im selben Programmheft über die zweite Szene: „Spielte mir die zweite am Klavier vor. Fand es weichlich, fraulich, pariserisch auch, violett krank, tonal… wie sonst könnte ich die Gefühlswelt von Madame Fusako musikalisch bezeichnen und darstellen? Wichtig war mir, dass Fusako den Hörern ans Herz geht.“

Lothar und Sylvia Schweitzer, 22. März 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Schweitzers Klassikwelt (c) erscheint jeden zweiten Dienstag.

Lothar und Sylvia Schweitzer

Lothar Schweitzer ist Apotheker im Ruhestand. Gemeinsam mit seiner Frau Sylvia schreibt er seit 2019 für klassik-begeistert.de: „Wir wohnen im 18. Wiener Gemeindebezirk  im ehemaligen Vorort Weinhaus. Sylvia ist am 12. September 1946 und ich am 9. April 1943 geboren. Sylvia hörte schon als Kind mit Freude ihrem sehr musikalischen Vater beim Klavierspiel zu und besuchte mit ihren Eltern die nahe gelegene Volksoper. Im Zuge ihrer Schauspielausbildung statierte sie in der Wiener Staatsoper und erhielt auch Gesangsunterricht (Mezzosopran). Aus familiären Rücksichten konnte sie leider einen ihr angebotenen Fixvertrag am Volkstheater nicht annehmen und übernahm später das Musikinstrumentengeschäft ihres Vaters. Ich war von Beruf Apotheker und wurde durch Crossover zum Opernnarren. Als nur für Schlager Interessierter bekam ich zu Weihnachten 1957 endlich einen Plattenspieler und auch eine Single meines Lieblingsliedes „Granada“ mit einem mir nichts sagenden Interpreten. Die Stimme fesselte mich. Am ersten Werktag nach den Feiertagen besuchte ich schon am Vormittag ein Schallplattengeschäft, um von dem Sänger Mario Lanza mehr zu hören, und kehrte mit einer LP mit Opernarien nach Hause zurück.“

 

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