Frauenklang 9: Läuft die Zeit für Sängerinnen auch heute so schnell ab?

Frauenklang 9: Läuft die Zeit für Sängerinnen auch heute so schnell ab?  klassik-begeistert.de

Buchbesprechung: Peter Sommeregger: „Wir Künstler sind andere Naturen. Das Leben der Sächsischen Hofopersängerin Margarethe Siems (1879-1952)“.

Ich habe aus mehreren Gründen zum Buch unseres Kollegen Peter Sommeregger gegriffen. Zuerst hat der Titel mein Interesse geweckt: „Wir Künstler sind andere Naturen.“ Zweitens, die Protagonistin – die Koloratursopranistin Margarethe Siems (1879-1952), zu derer Zeit man den Beruf einer Sängerin nicht mehr mit der Unterwelt assoziierte. Ich wollte herausfinden, wie die Sängerinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Debüt erlebten und welche familiären und gesellschaftlichen Bedingungen dafür förderlich waren. Schließlich – wie schrieb man damals Kritiken von Opernaufführungen, und welche Formulierungen verwendete man. Und die wichtigste Frage im Titel dieses Beitrags: Bestimmt das Alter der Frau nach wie vor die Nachfrage nach ihrer Bühnentätigkeit?

von Jolanta Łada-Zielke

Bereits im Vorwort äußert sich der Autor kritisch zu dem aktuellen Stand der Gesangspädagogik. „Warum zum Beispiel sind heute nur wenige SängerInnen in der Lage, einen schön gebildeten Triller zu singen, wie er (…) selbst bei Wagner vorgesehen ist?“, überlegt Peter Sommeregger. Dieses Buch kann sowohl für Gesangslehrer als auch für Gesangsstudenten eine faszinierende Lektüre sein. Man findet dort eine Beschreibung der von Manuel García entwickelten Gesangstechnik; er empfiehlt nämlich beim Singen eine bestimmte Körperhaltung, mit Füßen in der „zweiten Tanzposition“. Die Biografie von Margarethe Siems enthält ein gutes Stück der Entwicklungsgeschichte deutschen Gesangs. Einige aus dem Privatarchiv des Autors stammende Fotos ergänzen den Inhalt.

Die Heldin kam in Breslau zur Welt und glaubte – interessanterweise – „polnisches Blut“ in ihren Adern zu haben, wie sie in einem Brief schrieb. Bereits in der Kindheit zog sie die Musik an. Ihre Eltern ermöglichten ihr Klavier- und Geigenstunden. Ihren Gesangsunterricht begann sie im Alter von 20 Jahren bei Aglaja Orgeni (1841-1926) der ehemaligen Studentin von Paulina Viardot-García. Nach ihrem erfolgreichen Debüt als Königin in Meyerbeers „Hugenotten“ im Neuen Deutschen Theater in Prag 1902 verband sich Margarethe für sechs Jahre mit dieser Bühne.

Die Künstlerin verkörperte Mathilde in Rossinis „Wilhelm Tell“, die Königin der Nacht in Mozarts „Zauberflöte“, Donna Elvira in „Don Giovanni“, Waltraute, Helmwige, Freia, Woglinde und die Stimme des Waldvogels in Wagners „Ring des Nibelungen“, Violetta in Verdis „La Traviata“, Gilda in „Rigoletto“. Sie sang ebenfalls die Titelrolle in Donizettis „Lucia di Lammermoor“. Ihr Leben war jedoch keine Erfolgsgeschichte. Sie schaffte es nicht ins Ensemble der Hofoper Berlin, wahrscheinlich aus Mangel an „Vitamin B“, obwohl sie dort als Gast auftrat. Nach ihrem Engagement in der Hofoper Dresden (1908), teilte man ihr zunächst weniger ambitionierte Rollen zu. Die damalige Kritik lobte sie nicht sehr oft. Ihre bedeutendste Auszeichnung war die Ernennung zur Kammersängerin
im Jahr 1912.

In ihren ersten Berufsjahren sang Siems nicht nur als Solistin, sondern auch als Aushilfe in Chorpartien, beispielsweise im „Tannhäuser“, was damals üblich war. Immerhin trat sie später in dieser Oper als Elisabeth auf. Ich finde es spannend, dass sie als Koloratursopran auch Mezzosopran-Partien aufgeführt hat, wie die Venus in „Tannhäuser“ und Carmen. Was für eine Vielseitigkeit!

Sie stand in einer besonderen Beziehung zu Richard Strauss. Kannte ihn persönlich und wirkte als Protagonistin in drei Uraufführungen seiner Opern mit. Sie glänzte als Chrysothemis in „Elektra“ und Zerbinetta in „Ariadne auf Naxos“, aber die Rolle ihres Lebens war die Marschallin im „Rosenkavalier“, dessen Uraufführung am 26. Januar 1911 stattfand.
1915, in schwerer Kriegszeit, sang Margarethe auf persönliche Einladung von Richard Strauss an einem ihm gewidmeten Konzertabend in der Berliner Hofoper. In seiner im Jahr 1919 entstandenen „Frau ohne Schatten“ tauchte sie leider nicht mehr auf.

Aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters, was damals bereits mit 40 Jahren galt, erhielt Siems immer weniger Rollen und musste anfangen Gesang zu unterrichten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Peter Sommeregger zitiert aus den Memoiren ihrer Schülerin Sigrid Onegin, die eine Gesangsstunde bei Margarethe Siems beschreibt. Beim Lesen dieses Fragments habe ich an meine Gesangslehrerin aus Krakau gedacht, die mit ähnlicher Freude auf meine Fortschritte reagiert hat.

Obwohl Margarethe Siems lesbisch war, gelang es ihr, die Nazizeit zu überstehen. Die Gefahr war ernst, weil die Nationalsozialisten Lesbierinnen viel schlimmer als Prostituierte behandelten. Allerdings ging die Sängerin erst nach dem Krieg eine Beziehung ein. Ihre Partnerin war die Witwe Gerda Weinholz, die nach ihrer Heirat auf ihre musikalische Karriere verzichtet hatte. „Wir Künstler sind andere Naturen“ ist ein Zitat aus Margarethes Brief an Gerda. Eine weitere wichtige Person (neben den Eltern) war für sie ihre Adoptivtochter Ingeborg.

Ich hatte die Möglichkeit, selbst herauszufinden, ob die Gesangskunst und -kultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirklich besser als jetzt waren. Peter stellte mir nämlich die Aufnahmen ausgewählter Stücke in der Aufführung von Margarethe Siems zur Verfügung. Zu ihrer Lebenszeit entstanden die ersten Schallplattenhersteller wie Truesound Transfers TT 4001, Deutsche Grammophon und Parlophone Record.

Beim Hören dieser Archivaufnahmen von Siems kann man sowohl ihre Stimme als auch die Gesangstechnik bewundern. Ihr Sopran verfügt über eine leicht verdunkelte Farbe, die stellenweise an Maria Callas erinnert. Siems singt sehr genau schnelle Koloraturpassagen und entwickelt lange Töne mit Präzision sowie Musikalität. Damals zeichnete man menschliche Stimmen ohne den Einsatz moderner Verbesserungen auf, daher klingt es umso plausibler. Es wäre gut, ein Doppelalbum mit diesen Aufnahmen zusammen mit dem Buch herauszubringen.

Jolanta Łada-Zielke, 1. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Peter Sommeregger: „Wir Künstler sind andere Naturen. Das Leben der Sächsischen Hofopersängerin Margarethe Siems (1879-1952).

2016 by Seifert Verlag GmbH, Wien

ISBN: 978-3-902924-64-3

Diese Publikation wurde unterstützt durch die Mariann Steegmann Foundation.

Jolanta Łada-Zielke, 50, kam in Krakau zur Welt, hat an der Jagiellonen-Universität Polnische Sprache und Literatur studiert und danach das Journalistik-Studium an der Päpstlichen Universität Krakau abgeschlossen. Gleichzeitig absolvierte sie ein Gesangsdiplom in der Musikoberschule Władysław Żeleński in Krakau. Als Journalistin war Jolanta zehn Jahre beim Akademischen Radiorundfunksender Krakau angestellt, arbeitete auch mit Radio RMF Classic, und Radio ART anlässlich der Bayreuther Festspiele zusammen. 2003 bekam sie ein Stipendium vom Goethe-Institut Krakau. Für ihre  journalistische Arbeit wurde sie 2007 mit der Jubiläumsmedaille von 25 Jahren der Päpstlichen Universität ausgezeichnet. 2009 ist sie der Liebe wegen nach Deutschland gezogen, zunächst nach München, seit 2013 lebt sie in Hamburg, wo sie als freiberufliche Journalistin tätig ist. Ihre Artikel erscheinen in der polnischen Musikfachzeitschrift „Ruch Muzyczny“, in der Theaterzeitung „Didaskalia“, in der kulturellen Zeitschrift für Polen in Bayern und Baden-Württemberg „Moje Miasto“ sowie auf dem Online-Portal „Culture Avenue“ in den USA.  Jolanta ist eine leidenschaftliche Chor-und Solo-Sängerin. Zu ihrem Repertoire gehören vor allem geistliche und künstlerische Lieder sowie Schlager aus den zwanziger und dreißiger Jahren. Sie ist seit 2019 Autorin für klassik-begeistert.de.

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