Foto: 2019 in Essen © Sven Lorenz
Der Klavierabend in Wuppertal darf getrost als Sternstunde bezeichnet werden
Wuppertal, Historische Stadthalle, 27. Juni 2022
Klavier-Festival-Ruhr
Evgeny Kissin
Johann Sebastian Bach (1685-1750) – Toccata und Fuge in d-Moll, BWV 565 (Bearbeitung für Klavier von Carl Tausig)
Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) – Adagio in h-Moll, KV 540
Ludwig van Beethoven (1770-1827) – Klaviersonate Nr. 31 in As-Dur, op. 110
Frédéric Chopin (1810-1849) – Mazurken opp. 7/1, 24/1, 24/2, 30/1, 30/2, 33/3, 33/4; Andante spianato et Grande Polonaise Brillante in Es-Dur op. 22
von Brian Cooper
Dies wird wohl eine ziemlich persönliche Kritik, denn es geht um einen Pianisten, der in meinem musikalischen Leben eine ziemlich wichtige Rolle spielt. Niemandem bin ich so häufig nachgereist, und niemand hat mich am Klavier so oft so sehr bewegt, beeindruckt und begeistert wie Evgeny Kissin. („Klassik begeistert“ eben, der Kalauer sei erlaubt.) Neutralität gibt es hier also nicht, die Leserschaft sei gewarnt.
Gut in Erinnerung ist mir meine jugendliche Empörung ob der Aussage eines Bekannten, der zwar zu allem eine Meinung hat, was mit Musik zu tun hat, aber irgendwie nie im Konzertsaal zu sehen ist, und der den damals etwa 20jährigen Kissin herablassend als „begabten Jungen“ abtat.
Dieser begabte Junge hat im zarten Alter von 13 mal eben beide Chopin-Konzerte eingespielt, und ich wurde Zeuge, wie der Dirigent von damals, Dmitri Kitajenko, Jahrzehnte später beim Signieren des Booklets dieser RCA-Aufnahme glänzende Augen bekam.
Ich habe mal nachgeschaut und auf Anhieb ein Programmheft gefunden: Am 28. Februar 1998 gab Kissin in der National Concert Hall in Dublin einen Klavierabend (Eintrittspreis: 13 Pfund 50), der mit der h-Moll-Sonate von Liszt endete. Nach dem Konzert sprach meine Dubliner Freundin folgende Worte, die mir noch heute nachklingen: „I felt that I was in the presence of a genius.“
Dann gab es diesen unvergesslichen Abend des Genies im Pariser Théâtre des Champs-Elysées, der mit Schuberts letzter Sonate (D 960) begann (!). Schon mit den ersten Takten, in einem extrem langsamen Tempo vorgetragen (gut nachzuhören in der Aufnahme vom Juni 2003), brachte er das notorisch unruhige Pariser Publikum zum Schweigen, und siehe da, es wurde eine Sternstunde.
Dieses inflationär verwendete Wort, Sternstunde, darf auch getrost für den nunmehr siebten Auftritt des großen Pianisten beim Klavier-Festival Ruhr verwendet werden, diesmal in der wunderbaren Historischen Stadthalle auf dem Johannisberg. (Der achte Auftritt folgt übrigens noch in dieser Woche, am 1. Juli gemeinsam mit András Schiff in Essen.) Kissin, inzwischen 50 Jahre alt, eröffnete sein Rezital mit dem Orgelschlager schlechthin, der Toccata und Fuge BWV 565, allerdings in der Bearbeitung Carl Tausigs, die dann doch recht selten zu hören ist.
Es gibt diese Abende, wo man nach den ersten Takten einfach merkt, dass sie besonders sein werden. So wie hier. Der Steinway D klang schlichtweg fantastisch, und der akustisch herausragende Saal tat zudem das Übrige dazu.
Eine ganz andere Stimmung tat sich dann im Mozartschen Adagio KV 540 auf, das auch nicht gerade häufig im Konzertsaal zu hören ist. Wer meint, Mozart sei so leicht, so locker, so munter, oberflächlich und heiter, ja: so strunzlangweilig, und dieser Menschen gibt es erstaunlich viele, der höre bitte dieses Stück unter den Händen des Magiers Kissin. So tiefgründig kann Mozart klingen.
Tiefgründig ging es weiter, in einer der wohl schönsten Klaviersonaten Beethovens, der vorletzten. Und das schreibt einer, der sich ausdrücklich nicht zu den bedingungslosen Anhängern des Spätwerks zählt. Unter den Händen Kissins eröffneten sich Dimensionen, die Geschichten erzählten; der Furor im Allegro molto, diese Ungeduld, das Sich-selbst-ins-Wort-Fallen; und dann die Schlussfuge, die sicher zu Beethovens besten Fugen gehört: Das alles verschlug einem schier den Atem.
Man hätte bereits zur Pause gehen können, beseelt und verzaubert. Dann hätte man aber eine ganze Konzerthälfte Kissin-Kernrepertoire verpasst.
Wem Chopin zu zuckersüß oder salonhaft daherkommt, dem sei auch hier Evgeny Kissin ans Herz gelegt. Nicht nur die oben erwähnte Aufnahme der Klavierkonzerte, die neben jener Krystian Zimermans sicherlich Referenzcharakter hat, sondern auch und vor allem das reiche Solorepertoire. Kissin befasst sich schon sein gesamtes pianistisches Leben mit Chopin, und nicht nur die Sonaten, sondern auch Miniaturen wie längere Einzelwerke sind noch immer ein Fixpunkt seines künstlerischen Schaffens.
Sieben Mazurken aus vier verschiedenen Opusgruppen eröffneten also die zweite Konzerthälfte. Kissin befreite sie von allem unnötigen Parfum, und sie kamen – ob in Dur oder Moll gehalten – schwermütig daher, melancholisch, und im Falle von op. 24/2 gar ein wenig torkelnd. Wunderschön musiziert allemal.
Der Rausschmeißer war dann ein echter Kissin: Das Andante spianato op. 22 beginnt mit einer zarten Melodie in G-Dur, bevor es dann in der Grande Polonaise Brillante, martialisch nach Es-Dur modulierend, zur Sache geht. Die stupende Technik des Künstlers ließ einen beglückt mit dem üblichen – ein wenig hilflosen – „Wie macht er das?“ zurück. Standing ovations für einen großen Abend.
Zu guter Letzt noch ein Wort zum Team des Festivals. Ob es um eine Bestellung am Telefon geht, einen Gutschein, einen Kartentausch, was auch immer: Stets wird man freundlich und zuvorkommend behandelt. Das kann man nicht über alle Veranstalter sagen. Intendant Franz Xaver Ohnesorg hat wirklich großes Glück mit seinem Team.
Allerdings hätte er durchaus, als er vor Konzertbeginn mal wieder auf die Bühne kam, um sein verehrtes Publikum zu begrüßen und den Sponsoren zu danken, mit Nachdruck um das Ausschalten von Handys bitten können. Ein penetrant klingelndes Handy der Sorte „Irgendwo in den Untiefen meiner Handtasche“ während des Mozart-Werks hätte einfach nicht sein müssen. Da helfen leider auch keine Piktogramme am Saaleingang; die sieht eh keiner. Menschen brauchen offenbar eine klare Ansage.
Gestern wurde jedenfalls mein Sitzplatz für ein Kamerateam benötigt, und die Karte daher problemlos für eine andere – bessere – eingetauscht, was mich zum nächsten glücklichen Umstand bringt: Der Abend wurde aufgezeichnet und ist sowohl am kommenden Samstag bei mezzo.tv als auch am 23.10. im WDR-Fernsehen zu sehen und zu hören.
Sollten Sie einschalten, werden Sie hinterher möglicherweise an Worte von Marcel Reich-Ranicki denken, die er gern mal als so ziemlich größtes Kompliment aussprach, dessen er fähig war: „Ich habe mich nicht gelangweilt!“
Dr. Brian Cooper, 28. Juni 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Jewgenij Kissin, Mariss Jansons, Berliner Philharmoniker, Philharmonie Berlin, 17. Januar 2019
Igor Levit, Klavier Orchestre de Paris Konzerthaus Dortmund, 29. Mai 2022
Es war das schönste und beeindruckendste Konzerterlebnis meines langen Lebens. Ich war nach den vielen Zugaben kaum in der Lage nach Hause zu fahren, weil mein Blutdruck so in die Höhe ging. Ich fühlte mich auf einem anderen Musikstern!! Einschlafen konnte ich auch nicht, weil meine Gedanken das unglaubliche Konzert nachvollziehen wollten.
Marion Wißemann