Sternstunde in der Staatsoper Hamburg mit Jules Massenets Oper Manon

Jules Massenet, Manon  Staatsoper Hamburg, 24. September 2022

Foto: Benjamin Bernheim und Elbenita Kajtazi (Foto RW)

Die nicht hoch genug einzuschätzende Leistung von Elbenita Kajtazi ist es, neben ihrer Stimmschönheit, ihrem wohlig weichen Tonansatz und ihrer dramatisch-schauspielerischen Kompetenz wahrhaftig im stimmlichen Ausdruck zu sein.

Staatsoper Hamburg, 24. September 2022

Elbenita Kajtazi und Benjamin Bernheim adeln Jules Massenets Oper Manon

von Dr. Ralf Wegner

Eine ältere Dame sagte mir beim Hinausgehen, das Stück und die Inszenierung sei ihr doch recht fremd; sie sei Mozartianerin und habe die Oper Manon auch zum ersten Mal gesehen. Von der Ferne hörte ich daneben die Äußerung, solch herausragende Aufführung habe er seit Jahren nicht mehr erlebt.


Wovon handelt Massenets Oper in der Inszenierung von David Bösch: Von einer dem Vergnügen nicht abgeneigten jungen Frau, die auf dem Weg ins Kloster in einem Gasthof unterkommt. Dort erscheint der Student Des Grieux unterwegs zu seinem Vater, dem Grafen Des Grieux. Er verliebt sich unsterblich in Manon, die seine Gefühle erwidert; beide reißen aus und leben in ärmlichen Verhältnissen in Paris. Mit der Aussicht auf ein vergoldetes, reicheres Leben verlässt sie Des Grieux, der sich aus Kummer in den Priesterstand flüchtet. Manon, mit dem reichen Gönner Brétigny auf großem Fuße lebend, erfährt von der bevorstehenden Priesterweihe ihres ehemaligen Geliebten. Sie sucht ihn in der Kirche auf und erreicht, dass er mit ihr flieht. Nachdem das Geld ausgegangen ist, erinnert sich Manon an ihren der Spielleidenschaft und dem Kokain verfallenen Cousin Lescaut, der sie und Des Grieux mit Kusshand am Spieltisch aufnimmt. Man spielt mit Manons freudiger Zustimmung russisches Roulette, bei dem allen, bis auf Manon, die Nerven durchgehen. Als die Polizei erscheint und der Mitspieler Guillot-Morfontaine die anderen des Betrugs bezichtigt, erschießt Manon diesen. Im letzten Akt entkommt Manon der Polizei, vergiftet sich aber, nachdem sie Des Grieux ihre unverbrüchliche Liebe versichert hat; auch Des Grieux nimmt sich das Leben.

Im Februar sah ich diese Inszenierung zum ersten Mal mit Pretty Yende als Manon. Sie betörte die Herzen der Zuschauer mit goldfarbenem Timbre und strahlender Höhe. Man nahm ihr das in ein übermächtiges Schicksal verstrickte Leben und Leiden ab. Die heutige Manon Elbenita Kajtazi war mehr als eine Schicksalsergebene. Sie bestimmte die Handlung und war sich dessen stets bewusst. Sie will die Bewunderung und den Reichtum, koste es, was es wolle. Die Liebe erfährt sie als Selbstliebe und setzt ihre Reize bewusst ein, auch um Des Grieux vom Priesterstand abzuhalten.

Wie Kajtazi im dritten Akt in St. Sulpice den bereits als Priester gekleideten Des Grieux zunächst mit leisem Werben und Erinnerung an die einstige Liebe umzustimmen versucht und, als er standhält, sie betont ihre körperlichen Reize einsetzt, denen Des Grieux nichts mehr entgegenzusetzen hat, ist bewunderungswürdig in Darstellung und Gesang. Des Grieux verfällt ihr erneut. Manon liebt nicht ihn, sondern ihre Liebe zu ihm. Einer Carmen gleich nimmt sie das Risiko ihres Handelns in Kauf, setzt sich im vierten Akt, fast wollüstig, die Pistole an die Stirn und erkennt erst am Schluss, dass ihre Liebe nur im Tod Erfüllung finden kann. Sie nimmt Gift und betrügt so selbstsüchtig am Ende auch noch den ihr verfallenen Des Grieux.

Woher stammt diese Interpretation? Vielleicht steht sie irgendwo so oder ähnlich geschrieben, ich weiß es nicht. Die nicht hoch genug einzuschätzende Leistung von Elbenita Kajtazi ist es, neben ihrer Stimmschönheit, ihrem wohlig weichen Tonansatz und ihrer dramatisch-schauspielerischen Kompetenz wahrhaftig im stimmlichen Ausdruck zu sein. Das war mir schon bei ihrer Violetta aufgefallen, die mit Pretty Yende und Aida Garifullina ebenfalls stimmschöne und stimmstarke Konkurrentinnen hatte. Kajtazi singt wahrhaftig; sie ist wie wenige andere Sängerinnen in der Lage, dem Seelenzustand der von ihr dargestellten Person stimmlichen Ausdruck zu verleihen.

Darüber hinaus hatte sie, anders als Pretty Yende im Frühjahr, mit Benjamin Bernheim einen kongenialen Partner. Bernheim hat hier schon den Hoffmann gesungen, bei mir mit dieser Rolle aber noch nicht die ihm vorauslaufenden Vorschusslorbeeren rechtfertigen können. Als Des Grieux hat er gefühlt zehnmal so viel zu singen wie als Hoffmann. Bernheims Stimme ist schwer zu beschreiben. Sie klingt nicht einheitlich wie bei Pavarotti oder Calleja, die man im Radio sofort erkennt.

Anfangs klingt Bernheims Stimmorgan eher metallen mit der Befürchtung, zum Blechernen zu neigen. Er kann aber die Stimme öffnen und zeigt vor allem im Forte, mehr zur Mittellage als zu den hohen Tönen hin, eine opulente Farbschönheit, die in der Höhe einen durchaus heldischen Beiklang erfährt. Wunderschön gelingen ihm immer wieder die Übergänge von der Brust- in die Kopfstimme und die dort gehaltenen Piani. Sein Duett mit der verführerischen Manon im Altarraum von St. Sulpice, in dem er versucht zu widerstehen, ihrem Werben aber schließlich nachgibt, gehörte zu den Höhepunkten der Aufführung. Auch vom Äußeren her passte der schlanke, ohne arge Mimik auftretende  Bernheim zu der Rolle des sich in der Liebe verzehrenden Jünglings.

Florian Panzieri (Gardist 1), Daniel Kluge (Guillot-Morfontaine), Wilhelm Schwinghammer (Graf Des Grieux), Björn Bürger (Lescaut), Kady Evanyshyn (Rosette), Narea Son (Poussette), Ulrike Helzel (Javotte) (Fotos RW)

Auch die anderen Rollen waren passgenau und stimmlich herausragend besetzt. So wurde der 36-jährige Bariton Björn Bürger für die Gestaltung des Lescaut vom Publikum bejubelt, nur noch übertroffen vom Jubel für Bernheim und Kajtazi. Wilhelm Schwinghammer sang überzeugend den Grafen Des Grieux, ebenso Daniel Kluge den verschlagenen Guillot-Morfontaine. Alexej Bogdanchikov kam die undankbare Rolle des Aushälters Brétigny zu. Wahrscheinlich um weitere Sängerinnen zu beschäftigen, finden sich in Massenets Oper noch die Partien von Poussette, Javotte und Rosette. Narea Son, Ulrike Helzel und Kady Evanyshyn gaben ihnen Kontur und stimmlichen Ausdruck.

Auf die am Anfang genannten Zuschauereindrücke eingehend, beide hatten Recht. Das Stück an sich fördert vom Inhalt her nicht die empathische Teilnahme und hinterlässt musikalisch einen eher oberflächlichen Eindruck, zumindest verglichen mit Mozart.

Wenn aber so gesungen wird wie von Elbenita Kajtazi und Benjamin Bernheim, erreicht diese Oper allein über die gesangliche Darstellung eine seelische Tiefe und ein Verständnis für die Rollen, das weit über bloße Empathie hinausgeht. Ist es nicht so, dass wir für solche Abende immer wieder in die Oper gehen, um solche rar gesäten Sternstunden zu erleben?

Dr. Ralf Wegner, 25. September 2022, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Jules Massenet, Manon, Staatsoper Hamburg, 4. Februar 2022

Ungeliebte Opern 2: La Bohème von Giacomo Puccini klassik-begeistert.de 22. September 2022

Ungeliebte Opern 1: Carmen von George Bizet klassik-begeistert.de , 17. September 2022

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