Requiem, Gabriel Fauré / Motetten und Choräle
Christianskirche, Hamburg-Ottensen
Das Schöne liegt so nah. Wer himmlische Klänge hören möchte, braucht dafür gar nicht zu den Bayreuther Festspielen oder zur Staatsoper in Hamburg, Berlin, München oder Wien zu fahren. Phantastischen Hörgenuss bietet auch der Chor um die Ecke – so in der Kirche Ottensen, wo der ChorAltona und die Capella Peregrina aus Hamburg sowie der Bülowchor Berlin gemeinsam Motetten, Choräle und ein Requiem zu Gehör brachten und damit gut 300 Zuhörer, die in die wunderschöne Christianskirche in Hamburg-Ottensen gekommen waren, in größte Verzückung und Begeisterung versetzten.
Was die 50 Sängerinnen und Sänger an diesem magischen Sonnabend stimmlich aufboten, was die drei Solosänger, allesamt Laiensänger, an stimmlicher Leidenschaft, Hingabe und Reife präsentierten, und was das Kleine Kantatenorchester Altona unter der Leitung von Ute Weitkämper und Johann Honnens boten, das war wirklich à la bonne heure. Das war höchster Klassikgenuss für eine Spende in den Geigenkasten der jüngsten Teilnehmerin, der Geigerin Anna Weitkämper, 13. Dankbar und beseelt gingen die Zuhörer nach dem Konzert wieder in die feucht-kühle Novembernacht.
„Unser Leben ist ein Schatten“: Eine Totenmesse der französischen Romantik und barocke Trauermusiken – und zu Beginn die dunkle Klagemotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ von Rudolf Mauersberger. Wann, wenn nicht im November, passt so ein schwerer Stoff besser? Das Licht wird spärlicher, die Bäume verlieren ihr Laub und kühler Regen wird zum Dauergast.
Der November ist der „Trauermonat“: Allerheiligen und Allerseelen am Monatsanfang und der Ewigkeitssonntag am Monatsende. Passend zu diesen Gedenktagen reihte sich das Konzert der Kirchenmusikalischen Vereinigung KlangRäume aus Hamburg-Altona in der „Klopstockkirche“, ein Barockbau von 1738. Gemeinsam mit dem Bülowchor aus Berlin präsentierten der ChorAltona, das Vokalensemble Capella Peregrina und das Kleine Kantatenorchester Altona ein Programm, das emotional bewegte.
Hauptwerk des Programms war das Requiem op. 48 des französischen Romantikers Gabriel Fauré (1845 – 1924), der selbst über sein Werk schrieb, es sei mehr ein Wiegenlied als ein Klagelied. Anders als sein Komponistenkollege Giuseppe Verdi verzichtet Fauré, ein Schüler Camille Saint-Saens, auf eine dramatische Vertonung des Tages des Zorns („Dies irae“). Auch die Posaunen, mit denen die Verstorbenen vor den „König der schrecklichen Gewalten“ gezwungen werden („Tuba mirum“ / „Rex tremendae“), fehlen in seiner Totenmesse.
Dafür waren immer wieder sanfte, wunderschöne, in die ewige Ruhe führende Klänge zu hören. So die warmen, tröstenden Töne der tiefen Streicher des Kleinen Kantatenorchesters mit fünf Violinen, drei Bratschen, drei Celli und einem Kontrabass. Besonders betörend waren die Momente, als die Harfe von Janina Gloger-Albrecht, als Instrument der Engel die Toten ins Paradies („In paradisum“) und der Solo-Sopran von Jana Volkert sie im „Pie Jesu“ zur ewigen Ruhe begleiteten. Passend dazu schwebte der barocke Taufengel der Christianskirche im Chorraum über den Ausführenden. Und auf dem Programmheft geleiteten Engel die Toten beim „Aufstieg in das himmlische Paradies“ im Bild von Hieronymus Bosch.
Einen ebenso überwältigenden Auftritt boten der Bass Stefan Kreutz, 1. Vorsitzender des Vereins KlangRäume und passionierter Sänger im renommierten Symphonischen Chor Hamburg, so wie sein Vorstandskollege, der Tenor Jonathan Gable – beide sangen die Bariton-Arien. Beide erwärmten mit ihrem ergreifenden Gesang die Herzen der Zuhörer. Alle drei Solisten könnten ohne Probleme im Chor der Hamburgischen Staatsoper mitsingen. Sie sind Mitglieder der Capella Peregrina mit langjähriger Erfahrung im Ensemblegesang. Von ihrem Vortrag könnten sich, vor allem was die Devotion betrifft, sehr viele Sänger in professionellen Opernchören gerne eine Scheibe abschneiden.
Stefan Kreutz fand schöne Worte für die Totenmesse: „Wenn ich das Fauré-Requiem höre, bin ich sehr berührt und emotional bewegt. Ich denke an die Verstorbenen aus meiner Familie und fühle mich getröstet.“
In der ersten Hälfte des Konzerts stellten die Sänger dem Fauré-Requiem Motetten und Choräle gegenüber. Den Auftakt machte die Trauermotette „Wie liegt die Stadt so wüst“ des Dresdener Kreuzkirchen-Kantors Rudolf Mauersberger (1889 bis 1971), komponiert wenige Tage nach der Bombardierung der Stadt im Februar 1945. Die Trümmer Dresdens und das große Leid der Menschen vor Augen, vertonte er Texte aus den biblischen Klageliedern Jeremias: „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war. Alle ihre Tore stehen öde. Wie liegen die Steine des Heiligtums vorn auf allen Gassen zerstreut.“
Worte von bedrückender Aktualität, wenn man an das verzweifelte Leben der Menschen im syrischen Aleppo denkt. Der ChorAltona und der Bülowchor sangen die aufgebrachten und verzweifelten Töne des a-cappella Werkes mit Nachdruck und großer Intensität. Vor der Kirche saß ein 62 Jahre alter Mann ohne Wohnsitz auf einer Bank, lauschte den Klängen, die aus der Kirche kamen, und blickte dankbar in den Hamburger Himmel. „Ich sitze hier fast jeden Abend auf der Bank“, sagte der Hamburger, „das war wirklich wunderbar.“
In einer Collage aus Werken der Bach-Familie gedachten die Sänger in barocker Sprache sowohl der Vergänglichkeit („Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben“) und verbreiteten Hoffnung und Zuversicht („Drum fahr ich hin mit Freuden“). Während die beiden Chöre drei Choräle von Johann Sebastian Bach im Chorraum sangen, erklang von der Orgelempore das Vokalensemble Capella Peregrina. Die neun Sängerinnen und Sängern präsentierten die doppelchörige Motette „Halt, was du hast“ von Johann Michael Bach und die neunstimmige Motette „Unser Leben ist ein Schatten“ von Johann Bach – mit einem Fernchor, der im Treppenhaus der Kirche sang. Roter Faden dieser Collage war die Suite e-moll für Harfe von Johann Sebastian Bach. Durch die dichte Abfolge der Stücke entstand ein zusammenhängendes Werk, das über Leben und Vergänglichkeit reflektiert.
Zum Abschluss des ersten Programmteils wurde die ganze Kirche zum Klangraum, als sich alle Sänger in fünf vierstimmigen Chören im Kirchenschiff und auf den Emporen verteilten. „Immortal Bach“ des Norwegers Knut Nystedt ist eine bewegende Hommage an die unsterbliche Musik Johann Sebastian Bachs. Dessen Choralsatz „Komm, süßer Tod“ erklang in unterschiedlichen sehr langsamen Tempi – und so entstand ein raumfüllender Klangteppich, der wie Glocken schwebte und schließlich verklang.
Die gut 300 Zuhörer in der sehr gut besuchten Christianskirche hörten dem Programm sehr andächtig zu. Viele schlossen vor Rührung die Augen. Im Licht der flackernden Kerzen an den Kirchenbänken war volle Konzentration und Aufmerksamkeit zu spüren. Lange blieb es still nach dem Verklingen der letzten Töne, bevor die Zuhörer mit sehr großem Applaus den Ausführenden dankten.
Der gemeinnützige Verein KlangRäume aus Altona (www.klangraeume.org) hat seit seiner Gründung im Juni 2010 bereits fast 180 Hörgelegenheiten in 31 verschiedenen Räumen, vor allem in Hamburg, unter der Leitung von Ute Weitkämper musikalisch gestaltet. Die musikbegeisterten Laien verlangen bei ihren Konzerten keinen Eintritt, um den Zugang zu Live-Aufführungen von klassischer Musik allen Interessierten zu ermöglichen. Zur Deckung der Kosten bittet der Verein um Spenden. Dem Hinweis „Das letzte Hemd hat keine Taschen“, passend zum Programm, kamen die Konzertbesucher am Ausgang der Christianskirche an diesem Abend gerne nach.
Besonders die beiden unbekannteren Werke, zwei wunderbare Raritäten, machten den besonderen Reiz des Abends aus. Das Werk für Chor a-cappella von Rudolf Mauersberger „Wie liegt die Stadt so wüst“ drückt die Verzweiflung angesichts der Kriegszerstörung Dresdens im Februar 1945 aus. Es ist ein Klagelied und Verzweiflungsschrei angesichts des Leids, des Elends und der Hoffnungslosigkeit. Mauersberger verwendet den jahrhundertealten biblischen Text der Klagelieder Jeremia, der leider immer wieder aktuell ist. Es überwiegen die dunklen und düsteren Töne – aber es klingt auch ein Bitten, Flehen und Sehnen nach Rettung und Erlösung durch. Nach Forte-Ausbrüchen des Chores verebbt das Stück am Ende im Pianissimo: „Herr, siehe an mein Elend.“
Der Bach-Choral „Komm süßer Tod“ von Knut Nystedt (1915 bis 2014) wurde von fünf vierstimmigen Chören im Kirchraum verteilt in unterschiedlichen Tempi gesungen. Dadurch bekommt das Werk eine klangliche Intensität, die dem Choraltext zusätzlichen Nachdruck verleiht. So wiederholen sich deutlich hörbar von den unterschiedlichen Chören gesungen die Worte „süßer“ oder am Ende „Friede“. Nach scharfen Dissonanzen und Reibungen, die wie moderne Cluster klingen, treffen sich am Ende jeder Choralzeile die fünf Chöre wieder im harmonischen Akkord. Besonders eindrucksvoll ist das Ende des Stückes, wenn sich sehr langsam alle Chöre bei dem Wort „Friede“ treffen, sich die Dissonanzen harmonisch auflösen und der Schlussakkord langsam ins Nichts verklingt:
„Komm, süßer Tod, komm, selge Ruh! Komm, führe mich in Friede.“
Andreas Schmidt, 10. November 2016
klassik-begeistert.de
Der Name des Blogs ist perfekt gewählt: Nicht nur der Autor lässt sich von unterschiedlichster Musik begeistern, sondern auch die Leserin wird angesteckt und ist gespannt, wieviel begeisternde Darbietungen von Laien sich „um die Ecke“ wohl noch entdecken lassen. Danke für diesen warmherzigen Beitrag, der sympathisch unvoreingenommene Ohren belegt!
Liebe Anja, vielen Dank für Ihre freundlichen Worte. Sie haben Recht: Man muss nicht Anna Netrebko hören, um im Konzertsaal die Erfüllung zu finden. Die Laien-Chöre und -Orchester in Deutschland singen und spielen auf einem sehr beachtlichen Niveau. Das Konzert in Hamburg-Ottensen war ein leuchtender Beweis dafür. Und vor allem gibt es in diesen Formationen eines, was ich bei gut ausgebildeten Superstars bisweilen vermissen: Hingabe und Begeisterung. Das ist eine Kombination, die sich auf jeden Zuhörer überträgt.