Mit dem Erscheinen dieser Aufnahmen bereitet die DECCA nicht nur den immer noch zahlreichen Fans Jessye Normans ein kostbares Geschenk, es sind auch geradezu ikonische Höhepunkte einer leider verklungenen Karriere, die unbedingt bewahrt werden sollten.
Jessye Norman
The Unreleased Masters
DECCA 485 2984
von Peter Sommeregger
Die weltweit gefeierte Sängerin Jessye Norman starb nach längerer Krankheit im Jahr 2019. Ihre außergewöhnliche Stimme ist uns in vielen hervorragenden Aufnahmen erhalten, diese spiegeln die Vielfalt von Normans Repertoire, gleichzeitig auch die Stilsicherheit ihrer Interpretationen wieder.
Nach wie vor kursierten Gerüchte, es existierten noch bisher nicht veröffentlichte Aufnahmen der Künstlerin. Diese soeben erschienene Box mit drei CDs sind ein wahres Geschenk für alle Liebhaber ihrer Stimme.
CD 1
Man wusste, dass Jessye Norman unter Kurt Masur in Leipzig Szenen aus Wagners Tristan aufgenommen hatte. Auf dem Markt erschienen sind die Aufnahmen von 1998 erst jetzt. Was Norman daran gehindert hatte, einer Veröffentlichung zu Lebzeiten zuzustimmen, bleibt unklar. Die Isolde war zwar eine Grenzpartie für die Sängerin, auf der Bühne hat sie die Rolle nie gesungen. Zum Zeitpunkt der Einspielung war Jessye Norman bereits deutlich über 50 Jahre alt, die Leuchtkraft ihrer Stimme hatte sie sich aber erhalten, wenn auch die Grenzen ihres Soprans deutlich werden. Kurt Masur nimmt äußerst breite Tempi, die er allerdings sehr individuell variiert. Als eine sehr hell timbrierte Brangäne erleben wir Hanna Schwarz. Thomas Moser als Tristan verschmilzt im Liebesduett stimmlich perfekt mit Norman. Markant und facettenreich gestaltet Ian Bostridge den jungen Seemann.
CD 2
Richard Strauss’ schönheitstrunkene „Vier letzte Lieder“ waren in einer früheren Studioaufnahme unter Kurt Masur eine der erfolgreichsten Platten Jessye Normans. Hier erleben wir sie im Mitschnitt eines Konzertes der Berliner Philharmoniker von 1989 unter James Levine. Normans Phrasierungskunst wird hier in Verbindung mit dem luxuriösen Klang der Berliner Philharmoniker zum Ereignis. Der mitgeschnittene Auftritts- und Schlussapplaus ist Ausdruck der Verehrung, die die Sängerin zeitlebens genoss. Einziges Manko ist die unausgewogene Mischung des Orchesterklanges mit der Singstimme. Das mag der Grund für das Zurückhalten der Aufnahme gewesen sein.
Sehr viel geglückter ist dieses Verhältnis bei den Wesendonck-Liedern Richard Wagners, die in einem Konzert im Jahr 1992 erklangen, ebenfalls in der Berliner Philharmonie, ebenfalls unter James Levine. Jessye Norman verleiht den Gedichten Mathilde Wesendoncks, der verhinderten Geliebten Wagners, eine perfekte Auslotung der romantischen Gefühle, Diktion und Beweglichkeit der Stimme sind einzigartig, ihr samtenes Timbre passt perfekt für diese Musik.
CD 3
Erneut in allen stilistischen Sätteln versiert präsentiert sich die Sopranistin in einem Konzertmitschnitt aus der Boston Symphony Hall von 1994. Das Boston Symphony Orchestra spielt unter der Leitung seines damaligen Chefdirigenten Seiji Ozawa. Jessye Norman absolviert geradezu eine tour de force durch drei musikalische Jahrhunderte und Stile, die einmal mehr ihre Stilsicherheit und sängerische Eloquenz beweisen.
Beginnend mit Joseph Haydns „Scena di Berenice“, über Hector Berlioz’ Kantate „Cléopâtre“ bis zu Benjamin Brittens „Phaedra“ verleiht sie allen drei musikalischen Frauenporträts jeweils ein stimmiges Profil. Erneut ist man fasziniert von der absoluten Stilsicherheit und vokalen Wandelbarkeit dieser Stimme, die leider endgültig verstummt ist.
Mit dem Erscheinen dieser Aufnahmen bereitet die DECCA nicht nur den immer noch zahlreichen Fans Jessye Normans ein kostbares Geschenk, es sind auch geradezu ikonische Höhepunkte einer leider verklungenen Karriere, die unbedingt bewahrt werden sollten. Die Box enthält auch eine ganze Reihe schöner Porträtaufnahmen Normans, die einem die Künstlerin, die von den Verehrern den verdienten Beinamen „Königin von Saba“ erhalten hat, schmerzlich vermissen lassen. Und es bleibt die Hoffnung, es könnte vielleicht noch in dem einen oder anderen Archiv ein weiterer Schatz ans Licht kommen.
Peter Sommeregger, 4. März 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Interview mit Christa Ludwig zum 90. Geburtstag am 16. März 2018 klassik-begeistert.de
Sommereggers Klassikwelt 85: Christa Ludwig – die Königin ist tot klassik-begeistert.de
Liest sich wie Balsam! Dazu die Würdigung auf James Levine, wie er doch der Branche, dem Zuhörer fehlt!
Fred Keller