Sofia Gubaidulina, Violinkonzert „In tempus praesens“ /
Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 3 Es-Dur „Eroica“;
Philharmonisches Staatsorchester Hamburg, Kent Nagano,
Gidon Kremer (Violine)
Laeiszhalle, Hamburg, 21. November 2016
Der Dirigent Kent Nagano, er wird heute 65 – Happy Birthday! –, hat eine hervorragende Kondition und gute Nerven. Was der US-Amerikaner aus Kalifornien mit japanischen Wurzeln zur Zeit an einer seiner Arbeitsstätten, der Freien und Hansestadt Hamburg, für ein Pensum abspult, ist beachtlich: 12. November: Salome, Richard Strauss. 13. November: Lohengrin: Richard Wagner. 16. November: Salome. 18. November: Lohengrin. 20. November, 11 Uhr: 3. Philharmonisches Konzert; 19.30 Uhr: Salome. 21. November: 3. Philharmonisches Konzert. 24. November: Lohengrin. 25. November: Salome. 27. November: Lohengrin.
Das sind 10 Dirigate binnen 16 Tagen an der Hamburgischen Staatsoper und in der Laeiszhalle. Das ist zehn Mal Dirigierkunst auf allerhöchstem Niveau mit einem Top-Orchester. Das ist à la bonne heure, Herr Nagano!
Leider wird diese herausragende psychische und physische Leistung nicht von allen Menschen gleichermaßen gewertschätzt.
Montag, 21. November, Laeiszhalle: Nagano dirigiert ein zeitgenössisches Violinkonzert von Sofia Gubaidulina, es spielt ein Jahrhundertgeiger: der Lette Gidon Kremer, 69, ein Meister unter den Meistern. Und in Reihe 2, Platz 14 und 15 sitzen zwei Japanerinnen, beide Anfang 20.
Kremer spielt: göttlich. Nagano dirigiert: wunderbar. Die Spannung ist groß in der mit 2025 Plätzen restlos ausverkauften Laeiszhalle. Und was machen diese beiden jungen Damen: Sie unterhalten sich! Und sie schreiben binnen 30 Minuten mindestens 30 whatsapps.
Wir sprechen hier nicht von günstigen Galerieplätzen ohne Sicht. Wir sprechen von Plätzen der teuersten Kategorie im Parkett, genau zwei Meter von Kent Nagano und von Gidon Kremer entfernt. Und Ausnahmemusiker haben phantastische Ohren, genau wie die Musiker auf der Bühne.
Bezeichnend für die meisten Klassik-Konzerte, in denen Zuhörer wie die beiden Japanerinnen sich respekt- und würdelos verhalten, war, dass die unmittelbar um sie Sitzenden schwiegen. War es ihnen peinlich ein kurzes Handzeichen zu geben? War es ihnen egal, was um sie herum passierte? Oder spürten sie nicht, dass hier gerade zwei Jahrhundertkünstler am Werke waren, die eine herausragende zeitgenössische Komposition zu Gehör brachten? Ausnahmemusiker, die das Recht auf absolute Ruhe haben, wenn sie ihrer Arbeit nachgehen.
Einem Herrn um die 45 wurde es dann aber nach den 30 Minuten Gubaidulina und der kurzen Zugabe von Gidon Kremer zu viel. Er stellte die beiden jungen Damen zur Rede, auf Englisch. „Warum seid ihr in die Musikhalle gekommen?“, fragte der Herr. Die beiden Japanerinnen schwiegen. Der Herr klärte sie auf, dass man „in einer Musikhalle Musik hört und nicht redet und mit dem Mobiltelefon spielt“. Die Antwort: „We did not know that!“
Die beiden Japanerinnen wussten also nicht, dass ihr Verhalten nicht den gesellschaftlichen Konventionen und der Hausordnung der Laeiszhalle entsprach. Das zeugt von erstaunlicher Dummheit. Ist aber nicht ganz von der Hand zu weisen: Die Veranstalter der ehrwürdigen Musikhalle, erbaut zwischen 1904 und 1908, verzichten leider vollkommen darauf, die Besucher vor Beginn der Konzerte auf angemessenes Verhalten hinzuweisen. „Dabei wäre das doch ganz einfach“, sagte der musikbegeisterte Herr. „Es erfolgt eine Ansage auf Deutsch, Englisch Spanisch und Japanisch: ‚Dies ist eine Konzerthalle. Wir bitten um absolute Ruhe. Technische Geräte sind auszuschalten. Das dauert in vier Sprachen 20 Sekunden.“
Das hätten die beiden Japanerinnen sicherlich verstanden. Zu ihren Gunsten sei auch noch erwähnt, dass klassik-begeistert.de schon schlimmere Fauxpas im Publikum erleben musste. So fiel in der Saison 2014/15 in der Laeiszhalle ein 40 Jahre alter Mann auf, der mit seiner sieben Jahre alten Tochter zwei Mal pro Woche die Konzerte in der Galerie verfolgte. Die Kleine hatte wenig Lust auf Klassik und lief während der Konzerte polternd durch die Gänge und spielte Flugzeug. Dabei schrie sie öfter, so dass sie in der ganzen Laeiszhalle zu hören war. Nur selten verließ der Vater vorzeitig mit dem Kind den Saal. Auch er rief oft lauthals nach der Tochter. Es war fürchterlich für alle – Zuhörer wie Musiker.
Unvergessen ist auch ein israelischer Zuschauer, der in der Saison 2015/16 während einer „Carmen“ von Georges Bizet in der Hamburgischen Staatsoper in der Loge im vierten Rang eine viertel Stunde mit der Heimat telefonierte. Schließlich kam ein dänischer Zuhörer aus der Nachbarloge herüber und klärte die Gattin des Telefonierenden auf: „This is an opera house, not a public bar!“ Nach der ersten Pause ward das Paar aus Israel nicht mehr gesehen.
Menschen wie die Japanerinnen, wie der Vater mit der Siebenjährigen und der Handy-Störer sind es, die vielen Klassik-Begeisterten (nicht nur in Hamburg) die Mußestunden in der Oper und im Konzerthaus immer wieder vermiesen und einen sehr schlechten Eindruck hinterlassen.
Wie ein sensibler Dirigent wie Kent Nagano mit dem Lärm der jungen Japanerinnen umgegangen ist, während er – wie immer höchst konzentriert und engagiert – seinen Klangkörper durch das schwere Notenmaterial schiffte, bleibt sein Geheimnis. Der US-Amerikaner dirigiert nicht nur in HH, er ist auch Gastdirigent in Los Angeles. Von 2006 bis 2013 leitete er als Generalmusikdirektor die Bayerische Staatsoper. Er ist auch Music Director des kanadischen Orchestre symphonique de Montréal, bei dem er den Vertrag bis zum Jahr 2020 verlängert hat. Seit 2015 ist er Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper und des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg. Wenn er nicht dirigiert, lebt er mit seiner Frau und seiner Tochter in Paris und San Francisco, seiner Heimat.
Das Konzert war übrigens, mit einem Wort gesprochen: phantastisch. Die Kompostition „In tempus praesens“ der russisch-tatarischen Komponistin Sofia Gubaidulina, 85, ist packend, magisch – ein Meisterwerk, das sicherlich immer mehr Anhänger gewinnen wird. Es ist reich an Farben und expressiven Momenten. Es erzeugt viele Bilder, Spannung wie Ruhe. Man denkt an Landschaften und Tiere. Eine tolle Ohrenreise!
Sofia Gubaidulina lebt seit 1992 in Appen im Kreis Pinneberg (Schleswig-Holstein) – einem 5000-Seelen-Ort vor den Toren Hamburgs. Sie fordert die Zuhörer zu Hingabe, Konzentration, Meditation, Aufmerksamkeit auf – bei den beiden Japanerinnen hat sie es leider nicht vermocht. Die Zuhörer erleben in diesem Werk eine unbegreifliche Spannung, die basiert auf der Offenbarung von Innerstem und gleichzeitig äußerster Expressivität. In 30 Minuten erleben die Zuhörer zurückhaltende, fast zerbrechliche Töne, lichte, melodiöse Gedanken, intime Bekenntnisse, tiefste Ängste und Bedrohungen. Der Solovioline, die immer wieder allein im Raum erklingt, steht ein gewaltiges, dunkel tönendes Orchester gegenüber.
Ludwig an Beethovens 3. Sinfonie, die „Eroica“, erklang unter Nagano und seinen Musikern schlank, vibratoarm und tänzerisch beschwingt. Man spürte, hörte und sah: Nagano liebt Beethoven. Ja, er atmet ihn sogar aus und summt dabei leise beim Dirigieren. Das ist in der ersten Reihe deutlich zu hören, stört aber in keinster Weise.
Das Meisterwerk „Eroica“ ist mehr als 200 Jahre alt: Es erklang das erste Mal am 7. April 1805 im Theater an der Wien, in dem der Komponist auch lebte. Bekannt geworden ist vor allem die angedachte Zueignung an Napoleon Bonaparte – gleichsam als musikalisches Bekenntnis zu den Idealen der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit!
Andreas Schmidt, 22. November 2016
klassik-begeistert.de
Zivilcourage ist eine Eigenschaft, die man in Deutschland ja sowieso mit der Lupe suchen muß. Aktuell scheint sie ganz auszusterben. Wie gut, daß es noch Ausnahmen gibt. Herzlichen Glückwunsch!
Das Konzert war in der Tat sehr schön. Ich hörte es am Sonntag morgen und entschied mich, auch am Montag zu kommen. Am Sonntag war er heller, ruhiger, harmonischer. So jedenfalls mein Eindruck. Am Sonntag stellte Gidon Kremer auch das wunderschöne leise Werk, das er als Zugabe spielte, (auf Deutsch 🙂 )vor.