Foto © Guy FERRANDIS
In den großen Sinfonieorchestern der Welt haben sich Musikerinnen längst ihren Platz erobert. Eine Karriere als Dirigentin ist aber immer noch etwas Besonderes. Das Kino hat sich diesem Thema in den vergangenen Jahren mehrfach gewidmet. Der Film „Die Dirigentin“ (2018) schilderte den schwierigen Werdegang der niederländischen Amerikanerin Antonia Brico, die als erste Frau der Welt ein großes Sinfonieorchester leitete, in dem preisgekrönten Drama „Tàr“ (2022) erzählt Todd Field von einer fiktiven Stardirigentin, die sich nach Machtmissbrauchs-Vorwürfen aus der Öffentlichkeit zurückzieht.
von Kirsten Liese
Die französische Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar erzählt nun die wahre Geschichte von Zahia Ziouani und ihrer Zwillingsschwester, der Cellistin Fettouma.
In Pantin, einem Vorort von Paris, nimmt die Geschichte 1985 ihren Anfang.
Ein Konzert unter dem berühmten Dirigenten Sergiu Celibidache mit Ravels Boléro, das Zahia im Alter von sieben Jahren mit ihrem musikbegeisterten Vater im Fernsehen schaut, weckt ihre Leidenschaft für das Dirigieren. Der Rumäne wird in ihrem späterem Leben noch eine wichtige Rolle spielen.
Zunächst einmal aber können die Schwestern Zahia (Oulaya Amamra) und Fettouma (Lina El Arabi) als Siebzehnjährige dank ihrer großen Begabungen und unterstützt von den Eltern, aus ihrer Schule in der Vorstadt an das renommierte Pariser Musiklyzeum „Racine“ wechseln. Dort stoßen sie allerdings als Migrantinnen aus einem Arbeiterviertel auf große Widerstände. Ihre Mitschüler, die aus wohlhabenden Familien stammen, mobben vor allem Zahia, als sie die Chance erhält, sich als Dirigentin auszuprobieren.
„Dirigieren ist kein Beruf für Frauen“: Das wird Zahia fortan häufiger zu hören bekommen, auch von Sergiu Celibidache (Niels Arestrup) beim ersten persönlichen Kennenlernen im Unterricht an ihrer Schule.
Die Energie der jungen Frau, die sich auf das Orchester überträgt, ihre Musikalität und Liebe zur Musik, lassen den strengen Maestro indes nicht ungerührt. Und so nimmt er Zahia unter seine Fittiche. Fortan darf sie an seinem privaten Dirigierunterricht teilnehmen, den er stets allen Schülern kostenlos gewährt.
Spätestens in diesen Szenen offenbart sich der hohe künstlerische Anspruch des Films, der sich durch eine profunde musikalische Expertise auszeichnet, was in Spielfilmen selten der Fall ist. Sie verdankt sich der Vorbildung der Regisseurin, die selbst als Tochter eines Dirigenten aufwuchs. Zudem wirkten die heute über 40-jährigen Schwestern Zahia und Fettouma am Film mit, sie haben auch die Darstellerinnen, die sie verkörpern, für den Film gecoacht. Nahezu alle Mitwirkenden spielen überdies ein Instrument.
Auch die schwierige Besetzung des Ausnahmekünstlers Celibidache erscheint gelungen. Dessen markante Stimme hätte vermutlich kein noch so berühmter Schauspieler imitieren können, weshalb es auch sinnvoll erscheint, dass Niels Arestrup diesen heiklen Versuch gar nicht erst unternommen hat. Seitens Erscheinung und Charakter kommt der Darsteller dem Original aber sehr nahe.
Gelegentliche cholerische, unberechenbare Ausbrüche, für die der geniale Brucknerdirigent berüchtigt war, erlebt Zahia ebenso wie seine Güte, die sich darin ausdrückte, wie er Talente, die ihn überzeugten, förderte.
Mit sorgsam ausgewählten Werken von Ravel, Prokofjew, Haydn und Saint-Saëns gibt die Regisseurin auch der Musik viel Raum.
Bei einem Wettbewerb bremst die misogyne Jury Zahia nach der ersten Runde aus. Aber immerhin gelingt es ihr nach einigen Rückschlägen, ein eigenes Orchester zu gründen, das unterprivilegierten Jugendlichen mit Migrationshintergrund Zugang zur klassischen Musik ermöglicht. Auch dafür braucht es harte Überzeugungsarbeit – im Gespräch mit dem Bürgermeister des Pariser Vororts Stains.
„Divertimento – Ein Orchester für alle“ ist ein mitreißender Film, dessen große Leidenschaft für die Musik sich unweigerlich auf das Publikum überträgt. Das unterscheidet ihn wohltuend von dem preisgekrönten Drama „Tàr“ um den Fall einer dekonstruktiven, unrepräsentativen Stardirigentin. Die von ihm ausgehende positive Energie weist zudem auf den Erfolg heutiger Dirigentinnen voraus. Persönlichkeiten wie Simone Young, Maren Alsop, Joana Mallwitz, Oksana Lyniv oder Mirga Gražinytė-Tyla stehen dafür beispielhaft. Auch wenn im Abspann zu lesen ist, dass immer noch lediglich sechs Prozent aller Dirigenten Frauen sind.
Kirsten Liese, 14. Juni 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at