Foto: Grafenegg, 17. August 2023, Paavo Järvi © HH
Wolkenturm, Grafenegg, 17. August 2023
Erkki-Sven Tüür: Incantation of Tempest
Ludwig van Beethoven: Konzert für Klavier und Orchester in c-moll op. 37
Pjotr Iljitsch Tschaikowski: Symphonie Nr. 1 in g-moll op. 13 „Winterträume“
Rudolf Buchbinder, Klavier
Estonian Festival Orchestra
Dirigent: Paavo Järvi
von Herbert Hiess
Beim Namen Järvi könnte man so kindische Bemerkungen wie Järvi-Clan, der Stamm der Järvis loslassen. Dahinter verbirgt sich wohl einmal eine Familienkonstellation, wo der Vater Neeme Järvi und seine beiden Söhne Paavo und Kristjan die Dirigentenlandschaft bereichern, wobei hier Paavo der weit umtriebigere ist.
Paavo Järvi gründete 2011 das Estonian Festival Orchestra, das vielleicht bis jetzt zu Unrecht eher unbeachtet blieb. Das Orchester wird mit estnischen Spitzenmusikern besetzt und hat aktuell ein Niveau, das fast seinesgleichen sucht – dazu aber später. Das Orchester spielt jährlich beim Festival in der Ostseestadt Pärnu und dann natürlich auch bei Tourneen.
In Grafenegg startete das Programm mit dem kurzen Orchesterwerk „Incantation of Tempest“, eine Komposition des estnischen Komponisten Tüür. Schon hier ließen die Musiker mit einer beeindruckenden Präzision aufhorchen. Mit wuchtigen Paukenschlägen und wilden Streicherrhythmen à la Strawinsky wurde dieses großartige Konzert eingeläutet.
Danach kam der musikalische Hausherr von Grafenegg Rudolf Buchbinder quasi zu Wort; mit dem 3. Klavierkonzert von Beethoven konnte der Pianist noch immer seine absolute Kompetenz bei dem deutsch-österreichischen Komponisten beweisen. Auch wenn der erste Satz vielleicht etwas zu schnell genommen wurde – Buchbinder ließ sich immer Zeit für Kantilenen und noblen Phrasen; beeindruckend nach wie vor sein exzellenter Anschlag.
Schon bei diesem Konzert ließen das traumhafte Orchester und Järvi aufhorchen. Eigentlich war das keine Begleitung, sondern eine bemerkenswerte symphonische Unterlage – es klang schon fast „historisch informiert“. Präzise Einsätze, großartige Phrasierungen und mehr als exzellente Musiker in allen Instrumentengruppen. Hier ließen die exzellente Paukistin, die mit präzisen und markanten Schlägen diese „historische Informiertheit“ unterstrich, und der grandiose Klarinettist aufhorchen. Sein Solo im zweiten Satz „Largo“ war schlichtweg umwerfend.
Buchbinder bedankte sich für den gerechtfertigten Applaus mit „Soirée de Vienne“ von Alfred Grünfeld, ein k. u. k. Komponist aus Tschechien um die Jahrhundertwende. Er verarbeitete fast auf „lisztige“ Weise Melodien der Operette „Die Fledermaus“ für dieses mitreißende Werk.
Nach der Pause erklang im Wolkenturm unpassend zum heißen Sommertag Tschaikowskis Symphonie Nr. 1 „Winterträume“; ein Werk, das Orchester und Dirigent vor die allergrößten Herausforderungen stellt. Für alle Instrumentengruppen virtuos ausgelegt, gewürzt mit schwierigsten Rhythmen, Fugati, Hemiolen usw. Doch das estnische Festivalorchester bewältigte diese mit allergrößter Leichtigkeit – selten noch hat man diese 1. Symphonie so großartig gehört.
Dazu noch die beeindruckenden Soli; herausragend das Oboensolo vom 2. Satz (Adagio Cantabile), an das man noch lange denken wird. Das Thema, das direkt von der Oper „Eugen Onegin“ stammen konnte, ließen Parvi und der Oboist wunderschön und träumerisch fließen, bis es dann von den samtweichen Bratschen übernommen wurde.
Nach dem bravourösen Finale bedankten sich die Musiker mit einem fast nie gespielten Werk und zwar dem „Vallflickans Dans“ aus dem Ballett „Der Bergkönig“ von Hugo Alfvén. Das natürlich mit der gewohnten Intensität.
Und bei der letzten Zugabe schließt sich auf berührende Weise der Kreis der Familie Järvi. Vor acht Jahren, also 2015 gab es ein Konzert mit Neeme Järvi in Grafenegg, wo als Zugabe ein Lieblingswerk des Dirigenten gespielt wurde und zwar das „Andante Festivo“ (für Streicher und Pauken) von Jean Sibelius (evolver.at || Grafenegger Festival 2015).
Und mit genau diesem Werk ließ sein Sohn Paavo dieses phantastische Konzert 2023 ausklingen. Mit einer enormen Intensität der Streicher und mit den abschließenden Paukenklängen wurde das Publikum entlassen.
Das Orchester ist eine absolute Empfehlung für alle Konzertveranstalter; man muss Buchbinder dankbar sein, dass er dieses Ensemble vielen Musikfreunden bekannt gemacht hat.
Herbert Hiess, 18. August 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Lieber Herr Hiess,
ich kann Ihnen nur beipflichten, dass das Estonian Festival Orchestra ein Orchester auf Weltklasseniveau ist. Es verdient zweifelsohne mehr beachtet zu werden. Eine kleine Korrektur sei mir jedoch erlaubt: Das Orchester rekrutiert sich nicht nur aus estnischen Spitzenmusikern. Diese stellen „lediglich“ knapp die Hälfte des Orchesters. Die zweitgrößte Gruppe kommt aus Deutschland, viele davon von der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen und HR Sinfonieorchester, aber viele andere weitere Musiker kommen aus der ganzen Welt.
Wer keine Gelegenheit hat, das Orchester live zu hören, mag sich mit der aktuellen CD trösten. Auch wer keinen besonderen Draht zur modernen Musik hat, wird daran seine Freude haben. Aber das ist ein anderes Thema. Vielleicht sollte ich zur CD doch mal eine Rezension schreiben…
Herzliche Grüße
Guido Grass