Treffsichere Entscheidung: Christian Thielemann wird neuer Chefdirigent der Berliner Staatskapelle

Christian Thielemann wird neuer Chef der Berliner Oper  Berlin, 27. September 2023

Christian Thielemann © Matthias Creutziger

Staatsoper Unter den Linden, 27. September 2023

von Kirsten Liese

Wäre ich aktuell nicht auf dem Filmfestival in San Sebastián unterwegs, wäre ich heute natürlich dabei gewesen, als Berlins Kultursenator Joe Chialo um 12 Uhr den Nachfolger von Daniel Barenboim bekannt gegeben hat.

Es freut mich für ihn, dass er die einzige richtige Entscheidung getroffen – und Christian Thielemann zum neuen Generalmusikdirektor der Berliner Staatsoper gekürt hat. Einen anderen Dirigenten von Weltklasse, der das Erbe Barenboims gebührend an diesem Haus fortsetzen könnte, gibt es nicht. (Den genialen Riccardo Muti schließe ich an dieser Stelle aus, weil er kaum noch szenische Opernaufführungen dirigiert).

Niemand weiß das besser als Barenboim selbst, der im vergangenen Jahr, als er aus gesundheitlichen Gründen mehrere Konzerte und Aufführungen absagen musste, seinen ehemaligen Assistenten Thielemann als Einspringer angeworben hat. Ich habe das Barenboim weiland  hoch angerechnet, dass er sich die denkbar größte Konkurrenz geholt – und damit auch Vorsorge getroffen hat, dass sein Orchester, dass er 30 Jahre lang geprägt hat, einen würdigen Nachfolger findet – den besten.

Gut, dass die Einsicht nun auch bei den Verantwortlichen angekommen ist, denn zwischenzeitlich kursierten in der Presse immer wieder neue und andere Namen. Allen voran die Ukrainerin Oksana Lyniv schien sich Hoffnungen machen zu können, dies zumal, nachdem Chialo mehrfach in Interviews gesagt hatte, bei gleicher Exzellenz würde er eine Frau bevorzugen.

Nun, Lyniv mag in Bayreuth den  Fliegenden Holländer  achtbar dirigiert haben, aber zu behaupten, sie spiele in derselben Liga wie Christian Thielemann wäre vermessen. Eine einzelne überzeugende Einstudierung begründet noch keine Weltklasse. Außerdem braucht es an der Berliner Staatsoper nicht nur jemanden, der auf Oper versiert ist, sondern auch das große sinfonische Repertoire auf dem Kasten hat: Beethoven, Bruckner, Brahms, Schumann, Strauss. Niemand dirigiert die Werke dieser Komponisten besser als der Berliner.  Ein Gigant braucht einen anderen Giganten zum Nachfolger, da verbieten sich Experimente.

Noch dazu, wo das Timing nicht hätte perfekter sein können: Da Dresden die große Chance vertan hatte, mit Thielemann weiterzuarbeiten und er mithin aber September 2024 wieder frei ist, kann die neue Zusammenarbeit rasch aufgenommen werden, für Thielemann geht es dann nach Dresden nahtlos in Berlin weiter.

Auch die übrigen Namen auf einer Liste, die zwischenzeitlich in einigen Medien die Runde machte, darunter Daniele Rustioni, Franz Xavier-Roth  und der Komponist Jörg Widmann, konnte man nicht recht ernst nehmen. Ein Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, mit dem ich unlängst darüber sprach, schüttelte nur den Kopf.

Zum Glück versandete die Liste dann so schnell wieder wie sie plötzlich zum Vorschein gekommen war.

Mit Thielemanns Wahl steht auch eines nun klar – und auch darüber zeigen wir uns erleichtert: Dass die Wagner- und Strausspflege, die an der Berliner Staatsoper eine lange Tradition hat, Fortsetzung findet.

Tatsächlich regten sich immer mal Stimmen, die dazu aufrufen wollten, an der Berliner Staatsoper im Kontrastprogramm zur Deutschen Oper Berlin und aus Gründen der Akustik verstärkt auf Barockopern und frühe Klassik zu setzen. Aber das wäre kein gutes Signal an das Orchester gewesen, das nun einmal in der Tradition von Wagner, Strauss, Verdi und Mozart steht und die Alte Musik an den Barocktagen René Jacobs und seinen Spezialensembles überlässt.

Hinzu kommt, dass Donald Runnicles mit dem Orchester der Deutschen Oper Berlin in der letzten Zeit so schlecht gearbeitet hatte, dass dort nur noch zweit-bis drittklassige Wagneraufführungen im Angebot standen. Was hilft es, wenn die Akustik in dem Haus an der Bismarckstraße für große Repertoire die bessere ist, wenn dort aber das Niveau nicht mithalten kann? Das freilich ist eine Tragödie der ganz eigenen Art. Hätte damals nicht der Berliner Senat die Deutsche Oper hinter der Berliner Staatsoper zur Nummer Zwei erklärt und finanziell schlechter gestellt, weshalb auch einzelne Musiker abwanderten, wäre Thielemann 2004 gar nicht erst gegangen.

Jedenfalls kann aktuell niemand das spätromantische Repertoire besser bedienen als der einstige Karajan-Zögling, der darüber hinaus in Salzburg vor wenigen Jahren ein so fulminantes Requiem von Mozart dirigierte, dass ich mich schon jetzt auf seine Da Ponte Zyklen freue, die er an der Berliner Staatsoper sicherlich auch einmal dirigieren wird.

Vom Orchester war ohnehin zu hören, dass es sich einstimmig für den genialen Wagner-, Strauss- und Brucknerdirigenten Thielemann ausgesprochen hatte. Mehrfach ließen sich von Dirigent und Orchester untereinander emphatische Liebeserklärungen vernehmen, insbesondere nach einer umjubelten Asien-Tournee, die Thielemann trotz übervollem Terminkalender im Herbst vergangenen Jahres auch noch kurzfristig stemmte. Das Orchester hat in der Wahl ohnehin den wichtigsten Part. Schließlich sind es die Musikerinnen und Musiker, die mit dem Dirigenten unmittelbar zusammenarbeiten. Zwischen ihnen muss die Chemie stimmen. Sie müssen sich angespornt und gefordert fühlen. Ohne das geht es nicht in der Musik.

Historisch betrachtet ist Thielemann übrigens nicht der Erste, der von Dresden nach Berlin wechselt, auch sein Vorvorgänger an der Lindenoper, Otmar Suitner, ging nach einem allerdings kürzeren Intermezzo bei der Sächsischen Staatskapelle an die Berliner Staatsoper, an der er viele Jahre erfolgreich wirkte – mit eben denselben Göttern, allen voran Wagner und Mozart.

Dass in Berlin nun nach fast 20 Jahren wieder der größte Berliner Leuchtturm im eigenen Lande erstrahlen darf, kommt als Extra-Freude obendrauf.

Es ist ein großartiger Tag für Christian Thielemann, Daniel Barenboim, Berlin und die Berliner!

Kirsten Liese, 27. September 2023 für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

5 Gedanken zu „Christian Thielemann wird neuer Chef der Berliner Oper
Berlin, 27. September 2023“

  1. Der lange Arm Barenboims hat durchgesetzt, was der lebenslang eingesetzte Hausgott wollte.
    Die Quittung bekommt das Opernpublikum…
    Thielemann hat sein Kernrepertoire, aber ein Haus wie das Unter den Linden braucht mehr als Strauss und Wagner und da schwächelt Thielemann gewaltig. Für den Großteil der Opern-Literatur immer andere Dirigenten holen zu müssen, ist eine kostspielige Angelegenheit und obendrein Etikettenschwindel.
    Wie sehr Ch.Th. die Niederungen der Leitungsfunktion mochte und ausführte, kann in Dresden und diversen früheren Arbeitsplätzen nachgefragt werden. Nicht ohne Grund sind die jeweiligen Abgänge charakteristisch…

    Waltraud Becker

  2. …und dass Christian Thielemann für einen vollkommen aus der Zeit gefallenen autoritären Führungsstil steht, der dem Geniekult huldigt und offenbar alles andere als ein Teamplayer zu sein scheint, fällt offenbar nicht ins Gewicht bei der Entscheidung? Bisher endeten seine Tätigkeiten in Chef-Positionen immer irgendwie unglücklich und zerknirscht, für ihn wie für die Orchester. Zumindest öffentlich spricht jetzt niemand davon, wie das dieses Mal verhindert werden soll. Man wird sehen, wie das Ganze gelingt und wie lange es hält.
    Oper ist Team-Arbeit. Auf hochkarätige musikalische Abende darf man hoffen. Aber wäre es nicht bedenkenswert gewesen, Thielemann zu einem ständigen Gast-Dirigenten zu machen und die Chefposition einer teamfähigen, frischeren Person anzuvertrauen? Der geniale Carlos Kleiber war auch ein gefeierter und begehrter Gastdirigent – und glücklich damit, sich nicht zusätzlich mit dem GMD-Verwaltungsalltag herumschlagen zu müssen. Das war eine wunderbare und kluge Lösung – für ihn, wie für die Orchester und Theater. Warum denkt man bei solchen Besetzungen nicht kreativ/konstruktiv und setzt auf den Glanz des Namens ohne den Alltag mitzudenken, der früher kommt als man ahnt?

    Frank Hilbrich

  3. Die Ausführungen der geschätzten Kollegin verdienen bei allem Respekt auch kräftigen Widerspruch! Niemand möchte ernsthaft in Frage stellen, dass Christian Thielemann ein äußerst fähiger und erfolgreicher Dirigent ist. An vielen Stellen des internationalen Musikbetriebes wäre er absolut der richtige Mann. Dass er es für das Amt des Generalmusikdirektors der Berliner Staatsoper ist, wage nicht nur ich zu bezweifeln. Er wird an dem Haus die gleichen Defizite pflegen, wie es Daniel Barenboim in seinen überlangen dreißig Jahren getan hat.
    „Außerdem braucht es an der Berliner Staatsoper nicht nur jemanden, der auf Oper versiert ist, sondern auch das große sinfonische Repertoire auf dem Kasten hat: Beethoven, Bruckner, Brahms, Schumann, Strauss.“ Mitnichten! Bereits Barenboim hat dem Haus wichtige Resourcen dadurch entzogen, dass er die Staatsapelle zum Konzertorchester drillte, und mit symphonischem Repertoire ausgedehnte Tourneen unternahm. Gemeinsam haben Barenboim und Thielemann ihr übergroßes Ego, alte weiße Männer eben (und das sage ich, obwohl ich selbst einer bin). Die GMD-Position verlangt einen weltläufigen Teamplayer, der das Haus nicht als Podium für persönliche Huldigungen nutzt, einen empathischen Künstler der zu einem Miteinander der verschiedenen Gewerke am Haus fähig ist.
    Es hat seine Gründe, dass Christian Thielemann bisher praktisch jedes Engagement vorzeitig und zumeist im Unfrieden verlassen hat. Dresden hat mit der Nicht-Verlängerung seines Vertrags keine Chance vertan, sondern einen Befreiungsschlag gewagt. Der geradezu panische Exodus führender Mitarbeiter in Dresden im Vorfeld der Entscheidung sprach für sich.
    Die Politik hat wieder einmal „repräsentativ“ entschieden, die „Berliner Republik“ schmückt sich eben gern mit großen Namen. Das Orchester, das zeitweilig in den späten Jahren Barenboims unter ihm auch litt, wollte erneut einen prominenten Dirigenten, weil es davon direkt profitiert. An ein relativ enges Repertoire ist es ja von Barenboim schon gewohnt.
    Nicht von ungefähr hat das Feuilleton eher zwiespältig auf Barenboims Verpflichtung reagiert. Die nächsten zwei, drei Jahre werden zeigen, wie gut oder schlecht die Entscheidung für ihn war.

    Peter Sommeregger

    1. Für mich ist es ein begrüßenswerter, normaler Vorgang, wenn ein grandioser Dirigent (Thielemanns herausragende musikalische Qualitäten wird ja ernstlich niemand anzweifeln!) die Spitze an einem bedeutsamen Opernhaus einnimmt.
      Ich möchte das große sinfonische Repertoire ebenso wenig missen wie das Opern-Kernrepertoire von Wagner, Strauss, Mozart, Verdi und Puccini. Für das Randrepertoire sorgt schon Kirill Petrenko nebenan bei den Berliner Philharmonikern… Mehr davon braucht es nicht.
      Aus dem „Kampfmodus“ wolle er sich in den „Zusammenarbeitsmodus“ begeben, so wird Thielemann auf der Pressekonferenz zitiert. Damit hat er bereits souverän auf alle außermusikalischen Bedenken gegen seine Person reagiert.
      Im Übrigen ist die Opernkritik in den Feuilletons und Fachmagazinen sehr männlich dominiert. Bevor also „alte weiße Männer“ an einem Künstler aus außermusikalischen Gründen Anstoß nehmen, sollten sie selbst einmal Platz machen, damit mehr Frauen ihre Stimme erheben können, die Opernkritik diverser wird. Der weibliche Blick ist doch oftmals ein anderer. Das zeigt sich beispielsweise an der angehenden Staatsopern-Intendantin Elisabeth Sobotka, die souverän im Sinne des Orchesters ihre Entscheidung getroffen hat.
      Kirsten Liese

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