Der fliegende Holländer 2023 © W. Hoesl
Die Inszenierung des fliegenden Holländers ist seit 2006 im Repertoire der Bayerischen Staatsoper. Trotzdem ist die Vorstellung an einem gewöhnlichen Donnerstag nahezu ausverkauft. Dies liegt sicher auch an der Regie, die die Handlung stimmig modernisiert. Unter der Leitung von Lothar Koenigs ist das Bayerische Staatsorchester mit Freude bei der Sache. Gesungen wird auf hohem Niveau. Dies gilt für die Solisten ebenso wie für den Chor. Eric Cutler als Erik ist für uns der Star des Abends.
Richard Wagner
Der fliegende Holländer, romantische Oper in drei Aufzügen
Daland: Ain Anger
Senta: Jennifer Holloway
Erik: Eric Cutler
Mary: Victoria Karkacheva
Der Steuermann: Tansel Akzeybek
Der Holländer: Iain Paterson
Bayerisches Staatsorchester
Bayerischer Staatsopernchor, Zusatzchor und Extrachor der Bayerischen
Chorleitung: Christoph Heil
Musikalische Leitung: Lothar Koenigs
Inszenierung: Peter Konwitschny
Bayerische Staatsoper, München, 19. Oktober 2023
von Petra und Dr. Guido Grass
Scharf, schrill und stürmisch weht der erste Klang aus dem Orchestergraben. Noch ganz in der Tradition der klassischen und frühen romantischen Oper erzählt Richard Wagner in „Der fliegende Holländer“ die ganze Geschichte bereits in der Ouvertüre. Dirigent Lothar Koenigs lässt es zu Beginn ordentlich krachen. Mit kräftigen Bewegungen seines Taktstocks treibt er das Bayerische Staatsorchester an.
Die Streicher geben mit vollem Einsatz und dramatischem Tremolo die Grundstimmung vor. Gewaltig einsetzendes Blech lässt keinen Zweifel an der Stärke des Holländers aufkommen, die zugleich Ursprung seines Verderbens ist. Der Vorhang ist während der gesamten Ouvertüre geschlossen und so können wir in der wunderbaren Musik baden. Wir genießen die wärmende Ruhe, die das Holz, angeführt vom Englischhorn, mit dem Erlösungsmotiv anstimmt. Noch einmal werden wir von der Macht des Orchesters in die Sitze gedrückt, bevor sich der Vorhang zum ersten Aufzug hebt. Das starke Vorspiel reißt das Publikum verdientermaßen zu einem „awagnerianischen“ Zwischenapplaus hin.
Ain Anger als Daland überzeugt von der ersten Note an. Sein Bass ist mit gut grundierter Tiefe ausgestattet. Er hat keinerlei Mühe, sich über das Orchester hinwegzusetzen. Hierbei gerät er nie ins Brüllen. In jeder Lautstärke bleibt er perfekt verständlich. Der Ton ist mit väterlicher Wärme ausgestattet, wenn er mit Senta, seiner Tochter, spricht. Unmissverständlich und deutlich sind seine Kommandos als Kapitän.
Nicht jedes dieser Kommandos gefällt dem Steuermann. Dieser wird von Tansel Akzeybek nicht nur perfekt gespielt, sondern auch ebenso gesungen. Es sind eben auch die kleinen Gesten, die eine Rolle prägen. An der Art, wie er den Befehl Dalands entgegennimmt, ahnt man sofort, dass er die Wache nicht wie geheißen halten wird. Seekrank an der Reling taumelnd, scheint er ohnehin nicht der ideale Matrose zu ein. Akzeybek ist aber der ideale Tenor für die Rolle. Sensibel für jede Andeutung von Gefahr aus dem Orchestergraben blickt er irritiert um sich. Farbenreich und lyrisch besingt er seine Sehnsucht nach seinem Mädel. Nie mangelt es dem Tenor an Kraft. Beeindruckend wie er mit langem Atem in hoher Tonlage nach ihr ruft und dabei so liebevoll klingt. Bei seiner Ausstrahlung wollen sich sicher viele Mädchen in seine Arme stürzen.
Iain Paterson (Holländer) hat heute wohl nicht seinen besten Tag. Von Beginn an scheint er seine Stimme zu schonen und bleibt beinahe durchgängig schlicht etwas zu leise, auch wenn er meist textverständlich singt. Bisweilen muss er hörbar forcieren. Am Ende der herausfordernden Partie versagt ihm sogar mehrfach die Stimme. Wir vermuten, dass er am heutigen Abend indisponiert war. Die um sich greifende Erkältungswelle verschont auch die Sänger nicht. Dass Paterson auch anders kann, klingt immer wieder durch. „Wann alle Toten auferstehn“ beispielsweise klingt genauso bedrohlich und verzweifelt, wie es sein muss. Wir hätten uns gewünscht, dass Lothar Koenigs auf die Tagesform deutlicher Rücksicht genommen hätte. Es hätte sicher geholfen, das Orchester in einigen Passagen etwas zurückzunehmen.
In der heutigen Inszenierung ist Victoria Karkacheva als Mary keine Amme, sondern eine Trainerin, die die Mädchen nicht beim Spinnen, sondern beim Spinning antreibt und überwacht. Diese Rolle spielt sie lebendig bis in die kleinen Gesten. Ihr schöner, klarer Mezzosopran hat über das gesamte Register hinweg einen vollen Klang.
Mit Spannung erwarten wir Sentas Ballade. Heute singt sie Jennifer Holloway. Wir hören Holloway erstmalig und finden sie überzeugend. Das erste „Johohohe!“ noch etwas zaghaft, steigert sie sich von Strophe zu Strophe in verstörende Verzückung. Holloway kann das wieder etwas zu laut spielenden Orchester nichts anhaben. Absolut sichere Oktavsprünge, klare, strahlende Höhe und satte Tiefe qualifizieren sie bestens für diese herausfordernde Partie. Auch im Duett mit dem Holländer sticht Holloway positiv hervor. Liest man ihre Biographie, verstärkt sich der Eindruck, dass sie wohl in richtiger Geschwindigkeit in das lyrisch-dramatische Fach hineingewachsen ist. Wir hoffen auf ein baldiges Wiederhören.
Der Star des Abends ist Eric als Erik
Ohne Holloways Leistungen schmälern zu wollen, ist für uns Eric Cutler als Erik der Star des Abends. Er hatte uns in dieser Rolle bereits im letzten Jahr in Bayreuth gut gefallen. Heute scheint er aber nochmals über sich hinausgewachsen zu sein. Nachlässig bekleidet mit einem unförmigen Bademantel betritt er den blendend weißen Spinning-Room. Seiner Attraktivität tut dies keinen Abbruch und unterstreicht seine impulsiv angelegte Rolle. Mit kräftiger, dunkler Farbe bringt er sein Entsetzen über das Gehörte und Gesehene zum Ausdruck. Abwechslungsreich und flexibel, zwischen Macho und besorgtem Freund, setzt er seine Tenorstimme ein. Die verschiedenen emotionalen Facetten der Rolle treten deutlich hervor. Kurz verliert er die Beherrschung und schubst Senta zu Boden. Gleich darauf steht er verlegen da; es tut ihm Leid. Dies alles spiegelt seine Stimme durch verschiedene Klangfarben. Strahlend füllt er den Raum und bleibt auch in verzweifeltem Piano gut zu verstehen. Sie löst in uns vollstes Verständnis für seinen Herzschmerz aus. Sein „Senta! O Senta! Leugnest du?“ sorgt für Gänsehaut, und so fliegen ihm im Finale des dritten Aufzugs, jetzt im Jäger-Outfit, endgültig alle Herzen aus dem Publikum zu.
Der Chor spielt in keiner anderen der großen Wagner-Opern eine so gewichtige dramaturgische Rolle wie im Holländer. Der Bayerische Staatsopernchor wird hierzu mit Extra- und Zusatzchor verstärkt. Auch körperliche Fitness muss der Damenchor in der Spinnrad-Szene am Anfang des zweiten Aktes beweisen. In der Inszenierung hier wird das Spinnen sinnfällig in der modernen Zeit zum Spinning. Erstaunlich mit welcher Frequenz hier in die Pedale getreten wird und der Klang und die Kraft des Gesangs nicht leidet. Schön auch zu sehen, mit welchem schauspielerischem Talent die kleinen Regieideen belebend umgesetzt werden.
Choristischer Höhepunkt ist zweifelsohne das Zusammentreffen der Dorfbewohner mit den Matrosen des Holländers. Die trunkene Freude im Tanz kommt hierbei ebenso glaubhaft rüber, wie die Furcht vor den Geistermatrosen. Die Matrosen des Holländers singen erschreckend, erschreckend gut. Auch im Forte-fortissimo brüllt der Chor nicht, er singt einfach im wahrsten Wortsinne „sehr stark“.
Explosives Finale
Zu den Worten „Hier steh’ ich, treu dir bis zum Tod!“ sprengt sich Senta in die Luft und reißt alle mit sich in den Tod, auch das Orchester. Die Schlusstakte hören wir leise scheppernd aus einem Lautsprecher wie aus der Ferne. Das Orchester scheint gen Himmel zu fliegen.
Die Inszenierung Konwitschnys überzeugt auch noch nach anderthalb Jahrzehnten
Über die Inszenierung wurde in diesem Blog schon bei früherer Gelegenheit berichtet. Wir finden sie stimmig und ansprechend. Die bürgerliche Welt Eriks, Dalands, seinen Matrosen und ihren Frauen wird konsequent im Hier und Jetzt übertragen. Die Männer tragen Alltagskleidung, wie man sie aus den heutigen kleinen Hafenstädten kennt. Die Welt des Holländers und seinen Matrosen ist die des 17ten Jahrhunderts. Wie auf Gemälden Rembrandts sind sie gekleidet. Ist ja auch logisch, wenn man bereits Jahrhunderte unterwegs ist.
Die Idee das Spinnen durch Spinning im Fitnessraum zu übersetzen, ist nahezu genial. Die Freizeitbeschäftigung von heute ist nicht mehr die Handarbeit, sondern der Besuch im Fitnessstudio. Zugleich ist das Drehen des Spinnrads und des Spinning-Wheels vergleichbar, so dass Wort und Bild beinahe vollständig beisammen bleiben. Das strahlend helle Bühnenbild des zweiten Aktes kontrastiert zu dem des ersten und des dritten Aktes. Das bringt nicht nur Abwechselung, sondern betont die Parallelen zwischen den Rahmenakten.
Überhaupt gibt es viele Ideen der Regie und der Bühnengestaltung, die erst auf dem zweiten Blick auffallen, aber erkennen lassen, mit wie viel Liebe zum Detail und mit welch intensiver Durchdringung des Stoffes das Team um Konwitschny herangegangen ist. Nur ein Beispiel: Senta himmelt den Holländer auf dem Bild an, das dem Pinsel eines holländischen Meisters hätte entsprungen sein können, während sich die Frauen im „Gym“ halbnackte junge Männer mit verführerischem Blick an die Wand hängen. Das wirkt echt und aktuell, bricht aber zugleich keineswegs mit dem Text oder der Musik der Oper.
Man kann es als Unsitte modernen Regietheaters bezeichnen, wenn zusätzliche Personen und Figuren auf die Bühne gezaubert werden. Hier ist es ein strahlend schöner blonder Engel in weißem Gewand, der gelegentlich schützend eingreift. Dies ist hier aber keineswegs störend, sondern lenkt den Blick auf ein Detail der Oper, welches man allzu leicht überhört und vergisst. Der Holländer kann nur durch Senta erlöst werden, weil zuvor ein Engel ihn davor bewahrt hat, dass seine Strafe ohne jede Hoffnung ist.
Der Abend hat uns viel Freude gemacht. Und offensichtlich und hörbar hatten auch die Musikerinnen und Musiker Spaß. Wann sonst sieht man im Orchestergraben zum Vorspiel des dritten Aufzugs Kontrabassisten lachen und quasi tanzen? Großer Applaus für alle Beteiligten, vom Publikum und auch von uns.
Petra und Dr. Guido Grass, Köln, 22. Oktober 2023
für klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at
Tristan und Isolde, Musik und Libretto von Richard Wagner Bayerische Staatsoper, 24. Juli 2023
Hamlet, Musik von Brett Dean Bayerische Staatsoper, 5. Juli 2023
Richard Wagner TRISTAN UND ISOLDE Bayerische Staatsoper, München, 6. April 2023