V.l.: Sven Schwannberger, Emma-Lisa Roux, Joel Frederiksen und Giovanna Baviera © Sybe Wartena
Programm
Doulce mémoire – Leidenschaftliche Lieder der Renaissance / Chansons passionées de la Renaissance
Französische Lieder zwischen ca. 1540 und ca. 1640
Ensemble Phoenix Munich
Emma-Lisa Roux – Sopran, Laute
Giovanna Baviera – Mezzosopran, Viola da Gamba
Sven Schwannberger – Tenor, Laute, Flöten
Joel Frederiksen – Laute, Bass, Leitung
Mars-Venus-Saal
im Bayerischen Nationalmuseum, München, 22. Oktober 2023
von Frank Heublein
An diesem golden Oktobernachmittag kehrt das Ensemble Phoenix zurück in den Konzertreihen namensgebenden Mars-Venus-Saal im Münchner Bayerischen Nationalmuseum. Seit 2007 existiert die Konzertreihe mit dem Namen „Zwischen Mars und Venus“. Das heutige Programm „Doulce mémoire“ umfasst Lieder der französischen Renaissance. Im Block vor der Pause Lieder aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Nach der Pause dann Lieder, die um 1600 entstanden sind.
Doulce Mémoire ist eine Komposition von Pierre Sandrin (1490-1561), die das Konzert in unterschiedlichen Versionen eröffnet. Die zweite Version wird überraschend abseits der Bühne platziert. Giovanna Baviera interpretiert Doulce mémoire seitlich von der Bühne aus dem „Off“ heraus berückend schön. Ihr Mezzo ist volumen- und facettenreich. Sie begleitet sich selbst auf der Viola da Gamba.
Das Ensemble der vier Stimmen vereint sich bei Diego Ortiz Recerda Prima sobre la canción „Doulce mémoire“ und der Response Fini le bien von Pierre Certon zu ebenmäßigem Klang. Die Stimmen verschmelzen zu einer. Die Response (Antwort) ist eine Technik, die sich in Frankreich in vielen Kultursparten über Jahrhunderte erhalten hat. Ein Künstler oder eine Künstlerin lässt sich durch ein fremdes Kunst-Stück anregen und verfasst eine künstlerische Antwort auf das ursprüngliche Werk.
Die letzte Zeile des Liedes Doulce mémoire lautet „Fini le bien, le mal soudain commence“ (Das Gute ist vorbei, das Schlechte beginnt plötzlich). Dies überschreibt mir den Teil vor der Pause. Mir wird die dunkle schwermütige Seite der Leidenschaft präsentiert.
Aux près de vous ist ein Lied von Pierre Attaingnant (ca. 1494-ca. 1552). Sopran Emma-Lisa Roux und Mezzo Giovanna Baviera treten sich vor der Bühne gegenüber. Keinen Meter von mir entfernt. Sie singen sich a cappella an. Roux’ hellstrahlender Sopran und der kräftige zugleich feinsinnige Mezzosopran Bavieras lassen die Worte im Klang ihre Stimmen in meinem Herz schmerzend lebendig werden:
„Au près de vous secrètement demeure / Mon pauvre coeur, sans que nul le conforte / Et si languit pour la douleur qu’il porte / Puisque voulez qu’en ce tourment il meure.“ (Neben dir wohnt heimlich / mein armes Herz, und niemand tröstet es; / und so schmachtet es in dem Schmerz, den es trägt, / denn du willst, dass es in dieser Qual stirbt.)
Nach der a cappella Passage steigt die tiefe Flöte ein. Gibt der ätherische Luftigkeit der beiden Stimmen einen Boden. In der dritten Iteration kommt neben einer höheren Flöte die Laute und der sonore Bass Joel Fredriksens hinzu. In diesem dritten Klangbild tritt mir die Schwermut des Liedes besonders vor Augen. Die Ambivalenz zwischen Schönheit der Interpretation und des Leidensinhalts des Lieder ist berückend schmerzend schön.
Nach der Pause wird es heiterer, die Leidenschaft blüht fröhlich auf und die klanglich in mir wachsenden Rosenklänge klangduften verlockend, die Dornen schmerzpieksen im Vergleich zu denen des ersten Teils kaum mehr.
Pierre Guédrons (ca. 1575-1620) Lied Adorable Princess führt Giovanna Bavieras Mezzosopran die Vielstimmigkeit an, sticht an einigen Stellen hervor und fügt sich gleich wieder in den ebenmäßigen Fluss des vokalen Ensembleklangs.
Und glaube ich in diesem Moment, Bavieras Stimme ist mir die schönste, dringen Emma-Lisa Roux Sopranstrahlen gleich darauf mit Sus, sus, sus bergers et bergerettes in meinen Körper, in meinen Bauch, meine Seele, mein Herz. Dieses fröhliche Lied einer Schäferin zerbröselt meinen „kurz zuvor gefassten Glauben“.
Das keckste Lied des Tages ist Patoureau m’ayme tu bien. Hier wohne ich der Unterhaltung eines Schäfers und seiner liebsten Schäferin bei. Emma Lisa Roux glänzender Sopran wird von Sven Schwannbergers Laute unterstützt, Joel Fredriksens fulminanter Bass von Bavieras Viola da Gamba. Sie fragt ihn dumme Liebessachen, worauf ihm erst einmal keine Antwort einfällt. Das Getändel geht gut aus und sie finden am Ende des Lieds liebend zueinander.
In Aux plaisirs, aux délices bergères werden die Ensemblestimmen in meinem Kopf zu Jongleuren und Jongleurinnen und übergeben die klanglichen Bälle der „Freuden und Wonnen der Hirtinnen“ – so heißt die erste Liedzeile in etwa übersetzt – entspannt und souverän.
Es gibt keine „schönste“ Stimme an diesem Tag, das Ensemble als Kollektiv erfüllt mich mit Glücksgefühl. Der Ensembleklang ist perfekt untereinander abgestimmt, die Solos strahlen erhaben schön. Ein wonniger Moment, den mir das Ensemble Phoenix Munich ins Herz hinein pflanzt.
Frank Heublein, 23. Oktober 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at