Zauber, da bist Du, da klingst und singst Du! Presto, Maestro!

Alan Gilbert, Dirigent, Joshua Bell, Violine, NDR Elbphilharmonie Orchester  Elbphilharmonie, 3. November 2023

Bell und Gilbert, Photo: Andreas Ströbl

Und so bleibt es mir nur übrig, dem NDR, Alan, Joshua, Pjotr und Gustav zu danken. Das war nun wirklich überwältigend.

Tadellos! Ja, makellos.


Peter Iljitsch Tschaikowsky, Konzert für Violine und Orchester D-Dur op. 35

Gustav Mahler, Symphonie Nr. 5 cis-Moll

Alan Gilbert, Dirigent
Joshua Bell, Violine
NDR Elbphilharmonie Orchester

Großer Saal der Hamburger Elbphilharmonie, 3. November 2023

von Harald Nicolas Stazol

Jetzt fehlt, liebe Leser, nur noch der Bruderkuss, so, wie David Oistrakh 1969 mit Gennady Roshdeshventsky, sieht ’n büschn aus wie Honecker/Breshniev, nun also – nach DIESEM liebevollsten Tschaikovsky, dank Joshua Bell, danker (sic!) des Dirigats des Alan Gilbert, am Dankesten dem Orchester, das der Hansestadt noch – mark my words! – zu manchem Weltruhm verhelfen wird!

Und zudem, und nur als Aperçu: Dieser Freitagabend steht im Zeichen der Liebe, ja, sogar der Erotischen!

„Wie hört man das?“ fragt am Telefon der Vater, da bin ich schon ohne Punkt und Komma, wie der geneigte Leser sich ja gewahr, von diesem Joshua Bell berichte ich, atemlos, der Mann, der mir so erinnerlich bleiben wird, wie meiner Maman Yehudi Menuhin im Kurhaus zu Wiesbaden, zu dem sie mein Großvater, Prof. Dr. Gerhard Damm, das prägsame also Mädchen mitnahm, irgendwann in den späten Fünfzigern.

Ich weiß aber: Bell ist es. Nach dem ersten Satz nickt er huldvoll meinem „Bravissimo“ zu, und selten habe ich mal so richtig gelegen: Vor Entzücken auf dem Rücken oder vor der Violine im Staube…

Zehn Jahre lang gilt das Konzert als unspielbar, Tschaikovsky wirft den Erstentwurf in vier Wochen nieder, inspiriert von seinem Ex-Lover, wie man heute sagen dürfte, man darf annehmen, dass die Lebensfreude, der sensible Gallopp, die rasenden Läufe auf Glückshormonen basieren,  wie sie die Liebe mit sich bringen, kein Zweifel, nach gescheiterter Ehe, Pjotr Ilyitsch Tschaikovsky ist verliebt, und das hört man bis heute, ja, gerade in diesem Moment, da nun alles vergessen ist, Gaza, Liebeskummer, zwei Flugzeugträger im Mittelmeer, die Vattenfall und des Oheims Zahn-OP – und ich sehe nur noch „Josh“. Bzw., ich hör-sehe ihn.

Gerade noch lese ich bei der NASA, dass wieder ein Stern erratisch um das Schwarze Loch im Zentrum unserer Galaxie herum-ellipsiert.

Gerade ellipsiere ich, nah-fern, nah-fern, um den Geiger des Jahrzehnts, womöglich den des Jahrhunderts.

Aber das ist ja nichts Neues? Rückblick: „Zur Erholung zog sich der Komponist daher Anfang 1878 mit seinem Bruder für einige Monate nach Clarens am Genfer See zurück.“

Der internationale Weltstar von Komponistem möchte das Wunderwerk dem Virtuosen Leopold von Auer widmen, der jedoch ablehnt. In seinen Erinnerungen heißt es: „Mitnichten habe ich das Konzert als unspielbar bezeichnet – ich sagte, dass einige Passagen dem Instrument nicht lägen, und, dass, egal, wie perfekt sie gespielt würden, sie nie so gut klängen, wie es der Komponist beabsichtigte.“

Ich weiß ja nicht, was Peterchen da noch beabsichtigt haben will, jedenfalls, ich darf es zu meiner Schande gestehen, antechambriere ich schon Sonnabendmorgen beim NDR, ob ich denn noch einmal hindarf „heute abend, nur Ich und Joshua“, was abschlägig beschieden, aber versucht hab Ichs zumindest.

Dann also YouTube, und da führt plötzlich Gergiev, und Bell ist 10 Jahre jünger, bei den Proms in der Royal Albert Hall, mit einem internationalen Jugendorchester, komplett in roten Regimentshosen – und schon da sieht-hört man, der Junge hat’s einfach drauf! Pardon wird nicht gegeben!

https://youtu.be/cbJZeNlrYKg?si=RNVfItHqjpqpte61

Ups, da copy und paste ich obigen link gerade in diese Zeilen, da bricht die Hölle los: Joshua Bell auf Bang&Olufsen und Apple Cinema gleichzeitig, aber zeitversetzt. Das aber ist sogar mit too much! Erlösung? Alles aufs Air und auf Sony Headphones. Da kann man schon mal hören, wie genau und präzise von Pizzicato zu absoluter Beherrschung der pianissimi gearbeitet werden muss!!!

Pardon? Dieser majestätische Kopfsatz, ein glorioser Marsch, durchsetzt immer wieder von und satzübergreifenden russische Volksweisen, denn, dass PIT als Russe fühlt und lebt und atmet, das kann man in dem hübschen rororo-Bändchen von Constantin Floros lesen: „Tschaikovsky fühlte sich zeitlebens als Russe, und führte noch 1878 die Tatsache dass seine Symphonien im Ausland nur selten aufgeführt wurden, auf zwei Gründe zurück: Dass man gegen ihn als Russen voreigenommen sei, und dass seine Musik einen dem Westen ganz fremden Charakter habe, den man im Ausland ablehnt. („Teure Freundin“, Peter Tschaikovskis Briefwechsel mit Nadeshda von Meck, Hg. von Eva von Baer und Hans Pezold, Leipzig 1964)

Und, man glaubt es kaum: Diesen langsamen, poetisch-romantischen Satz, II. Canzonetta. Andante – diese tief-seelige Melodei (sic!) konnte ich mal spielen, die gelbe Partitur ist neben der von Brahms irgendwo im Keller entschwunden, gleich neben der Bach’schen Chaconne, die bei mir immer ein wenig wie mit Schneeketten klang – Mais assez de moi! Aber natürlich kein Vergleich, nicht im Geringsten, und wieder umschmiegen sich Elbphilharmonieorchester und Gilbert, und die Geigen und die einsame Oboe und dieses Träumerische, sodass ich, da ich dies tippe, die Weise im Kopf habe. Mein Oheim hörte im Schützengraben das Brahms’sche Requiem. Das musikalisch-eidätische Gedächntis meiner Familie kann Segen und Fluch zugleich sein. Bell habe ich jetzt also geradezu auf Festplatte.

Das ist Tschaikovsky. Das ist das Russland, das ich liebe:

https://klassik-begeistert.de/haralds-passionen-i-russen-die-ich-liebe-klassik-begeistert-de-7-juli-2022/

Und dann kommt Gustav Mahler.

„Niemand hat mehr zur Wiederentdeckung Mahlers beigetragen, als Luchino Visconti, mit dem Tod in Venedig“, erklärt mir Anfang der Neunziger der Filmkritiker der „Frankfurter Rundschau“, und da ist er eben, dieser Satz in der 5., der so ewig und wahr und überstrahlend dann doch, aber irgendwie tödlich und sehnend… und ich bin am Lido im Hotels des Bains und sehe Thomas Mann beim Schreiben und Tadzio beim Baden zu. „Und am Abend ehrfuhr eine respektvoll schwiegende Welt die Nachricht von seinem Tode.“ So endet der Tod in Venedig. Der Literat Gisbert Haefs wird auf die Nähe Venedigs zu den Städten der Hanse, Lübecks und des Marzipans im besonderen schreiben. Zauber, da bist Du, da klingst und singst Du!

Denn alle Filme und Bilder im Kopf, AlJazeera, BBC, CNN und Ha’aretz sind für göttliche Zweieinhalb Stunden einfach weg. Genichtet. Vergessen. Nonexistant.

Und so bleibt es mir nur übrig, dem NDR, Alan, Joshua, Pjotr und Gustav zu danken. Das war nun wirklich überwältigend.

Tadellos! Ja, makellos.

Harald Nicolas Stazol, 5. November, 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

NDR Elbphilharmonie Orchester/Joshua Bell und Alan Gilbert Elbphilharmonie, 3. November 2023

NDR Elbphilharmonie Orchester/Joshua Bell und Alan Gilbert Elbphilharmonie, 3. November 2023

NDR Elbphilharmonie Orchester, Alan Gilbert, Dirigent Elbphilharmonie, 8. September 2023

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert