Aus tiefster Seele

Utopia, Teodor Currentzis, Barnabás Kelemen, Violine  Berliner Philharmonie, 14. November 2023

Foto ©  Olya Runeva Sony Classical

Johannes Brahms: Konzert für Violine und Orchester D-Dur op.77

Peter Tschaikowski: Symphonie Nr. 5 op.64

Barnabás Kelemen, Violine
Utopia
Teodor Currentzis, musikalische Leitung

Philharmonie Berlin, 14. November 2023

von Kirsten Liese

Ein grandioser, einmaliger Abend mit Teodor Currentzis und dem Utopia-Orchester

Die Arme sind weit nach vorne gestreckt, der Kopf leicht nach unten gebeugt, die Augen geschlossen. Teodor Currentzis konzentriert sich auf Tschaikowskys Fünfte. Die meisten Zuschauer sind gebannt, Spannung liegt in der Luft, aber noch nicht jeder teilt die Konzentration. Eine Frau im vorderen Block A hat ihren Platz noch nicht erreicht, irgendwo fällt ein Gegenstand zu Boden, jemand hustet.

Nicht, dass es in der Berliner Philharmonie unruhig wäre – da habe ich schon ganz andere Konzerte erlebt – aber einen Künstler mit so hyperfeinen Antennen stören schon kleinere Anzeichen von Unruhe. Nach mehreren Minuten lässt Currentzis die Arme sinken, wartet mit dem Einsatz, bis die absolute Stille erreicht ist.

Der atmosphärische Nährboden ist damit bereitet, in aller Ruhe und Schwere erhebt sich das mit punktierten Rhythmen markante, bedächtige Schicksalsmotiv. Wenn es im Pianissimo kurz darauf wiederkehrt, wirkt es, fast schon an der Grenze zur Unhörbarkeit, noch resignativer. Und schon nach diesen wenigen Minuten vermittelt sich die Besonderheit dieses Utopia Orchesters, in dem wie in einem erweiterten Kammermusikensemble bis auf die Cellisten jeder im Stehen spielt, egal ob Stimmführer oder Tuttispieler, und jeder auf jeden hört, alle höchst wach aufeinander reagieren und im Blickkontakt mit ihrem Dirigenten stehen.

So befindet man sich nach wenigen Takten im Sog einer schwermütigen Musik, über die der Komponist selbst anmerkte: „Vollständiges Sich-Beugen vor dem Schicksal oder, was dasselbe ist, vor dem unergründlichen Walten der Vorsehung“. Darin spiegelte sich sein persönlicher Gemütszustand. 1888, als Tschaikowsky mit der Arbeit an der Sinfonie begann, war er an einem Tiefpunkt angekommen, verzagt und voller Selbstzweifel.

Ein Dirigent, der sich dieser Gefühlswelt versagt, was leider häufig der Fall ist, kann Tschaikowskys Musik schwerlich gerecht werden. Die Sorge vor Pathos oder Sentimentalität mag das erklären. Aber diese Hemmnis richtet bisweilen größeren Schaden an, wenn damit eine unempfindsame, kraftstrotzende Interpretation einhergeht wie ich sie zuletzt 2019 von Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern hörte, die es fertig brachten, jedweden Schmerz aus der Musik herauszudestillieren. Bei alledem heizte Petrenko die Berliner zu einem derart lauten, schnellen Spiel an, dass ich Herzrasen bekam.

Dagegen verschreibt sich Currentzis den großen Emotionen der Sinfonie mit Haut und Haaren. Welten trennen seine beseelte Wiedergabe von Petrenko, gibt er doch dem Trübsinn Raum, besonders im zweiten Satz, dem Andante cantabile.

Das beginnt schon mit der großen Ruhe, die Currentzis in den ersten Takten der tiefen Streicher aufbaut, selten tönen sie so mystisch. Wenn darüber Horn und Klarinette in weiten Atembögen zärtlich ihre trostreiche Melodie anstimmen, wird es magisch, hellen Lichtstrahlen das Gemüt auf. Da geht mir, mag das auch kitschig klingen, das Herz auf.

Die Gefahr vor Kitsch oder Pathos braucht an diesem Abend aber niemand zu fürchten, weil alle Mitwirkenden aus tiefster Seele musizieren.

Allen voran bei Currentzis äußert sich das in einer starken Körperlichkeit, bis in die Fingerspitzen hinein – er dirigiert ohne Stab – vibriert es in ihm. Seine Bewegungen wirken nicht ganz so exzentrisch wie in früheren Jahren, wo er es kaum auf seinem Podium aushielt, sich nach allen Richtungen hin- und her bewegte, aber ein Springteufel, der an Sergiu Celibidache in seinen jungen Jahren erinnert, steckt doch in ihm. Der kommt vor allem in den belebten, leidenschaftlichen, dramatischen Momenten zum Vorschein, in den großen Steigerungen im ersten Satz und im wilden Finale, das der Grieche in einem rasanten Tempo angeht, quicklebendig und frisch, wie aus dem Moment geboren.

Ein weiteres einmaliges Hörerlebnis bescherte zuvor das Violinkonzert von Johannes Brahms. Eine Romantik von betörend schöner sanfter Wärme wurde hier vernehmlich, wobei es Sinn machte, dass Currentzis dafür auf das Dirigentenpodium verzichtete, um mit dem Solisten auf Augenhöhe zu kommunizieren. Denn das war die eigentliche Sensation in diesem Brahms, wie sensitiv, beredt und elegant hier alle im besten Sinne einer „Klangrede“ musizierten, Virtuosität nie zum Selbstzweck wurde.

Mit dem trefflichen Ungarn Barnabás Kelemen war dafür der ideale Mann gefunden, kein Stargeiger, sondern ein Primus inter pares. Was sich auch daran zeigte, dass Kelemen anschließend an der Tschaikowsky-Sinfonie als Konzertmeister im Orchester mitspielte, in der Form habe ich das noch nie erlebt.

Mögen sich auch anhaltend einige penetrante Kritiker an Currentzis aus politischen Gründen stören: Einen mit einer derart außergewöhnlich starken Persönlichkeit kann ein solches Gerede nicht aufhalten, auch nicht die wenigen Buhs, die sich in den finalen Jubel mischten.

Im Gegenteil: Selten sehe ich im Publikum so viele junge Menschen. Currentzis’ aufrichtiges Brennen für die Musik, sein Charisma, seine Verve stecken an, mobilisieren  stark umworbene Zielgruppen, um die viele Veranstalter erfolgloser mit fragwürdigen Konzepten buhlen. Er ist der König unter den Dirigenten der unter 60-Jährigen.

Eine hinreißende Zugabe, die den emotionalen Abend abrundete, gab es auch noch: das Pas de deux aus Tschaikowskys Nussknacker.

Kirsten Liese, 16. November 2023, für
klassik-begeistert.de und klassik-begeistert.at

Sommereggers Klassikwelt 210: Dem großen Piotr Iljitsch Tschaikowski zum 130. Todestag klassik-begeistert.de, 8. November 2023

Orchester Utopia Teodor Currentzis, Dirigent Philharmonie Berlin, 11. Oktober 2022

Utopia Teodor Currentzis, Dirigent Wiener Konzerthaus, 7. Oktober 2022

UTOPIA, Dirigent TEODOR CURRENTZIS Laeiszhalle, Hamburg, 5. Oktober 2022

Ein Gedanke zu „Utopia, Teodor Currentzis, Barnabás Kelemen, Violine
Berliner Philharmonie, 14. November 2023“

  1. Solche Abende sind mittlerweile recht rar, beim Nachlesen Ihrer Beschreibung ist alles nochmals präsent und gerät nicht so schnell in Vergessenheit. Diese Präzision ist einfach unglaublich.
    Samy Molcho, der große Pantomime, hat Teodor Currentzis wunderbar beschrieben. Zu sehen in der SWR Mediathek.

    Heinz-W. Weber

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